Die schwierigste Tarifrunde seit vielen Jahren: Die IG Metall, die Corona-Krise und der Rücken zur Wand

Es sind sehr unterschiedliche Welten, mit denen es die IG Metall zu tun hat – das war bei der überaus heterogenen Metall- und Elektroindustrie immer schon so, aber in diesen Zeiten wird die Komplexität nochmal gesteigert: Da gibt es beispielsweise den Lkw-Bauer MAN. Der will 9.500 von 36.000 Arbeitsplätzen streichen, jede vierte Stelle. Selbst potenziell vom Stellenabbau Betroffene erkennen an: MAN steckt in einer großen Transformation wie die gesamte Autobranche: hin zur Digitalisierung, weg vom Verbrennungsmotor, berichten Alexander Hagelüken und Benedikt Peters in ihrem Artikel Die härteste Tarifrunde seit Langem. Eines schein sicher: „Die Sicherheit, die wir jahrelang hatten, ist verloren“, so eine der Beschäftigten im Lkw-Werk in München. Und jetzt auch noch Corona.

„Vielen Firmen geht es schlecht.“ Aber nicht allen Unternehmen und das macht die anstehende Tarifrunde noch schwieriger. Beispielsweise Siemens Healthineers, die produzieren Computertomographen. Seit März verdoppelten sich die Aufträge zeitweise. Hier Medizintechnik und andere florierende Bereiche, da kriselnde Auto- und Maschinenbauer: Diese Kluft stellt die IG Metall vor sehr große Herausforderungen. Sie muss den Spagat schaffen zwischen jenen, die mehr verdienen möchten, und jenen, die um den Job fürchten.

Wir sprechen hier über das Symbol für »den deutschen Boom der vergangenen zehn Jahre. Obwohl es manchmal heißt, in Hochlohnländern habe Industrie keine Zukunft, entstanden bei Metall und Elektro seit 2010 650.000 Stellen. Insgesamt waren es 2019 gut vier Millionen. Doch inzwischen sind 100.000 Arbeitsplätze verschwunden.«

Und das war erst der Anfang des Stellenabbaus. Allein in den Branchen der IG Metall haben Firmen binnen zwölf Monaten angekündigt, mehr als 200.000 Stellen abzubauen. Einige nähmen Corona als Vorwand, so bereits im September der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann: Die Gewerkschaft wirft Firmen wie Conti oder Schaeffler vor, Corona als Vorwand zu nehmen. „Eine Reihe Arbeitgeber nutzt die Krise, um in Deutschland zum Kahlschlag anzusetzen und Arbeit in Billiglohnländer zu verlagern“, so der IG-Metall-Chef in diesem Artikel IG-Metall-Chef wirft Konzernen Kahlschlag vor. Das hat enorme volkswirtschaftliche Auswirkungen. Beispiel Nordrhein-Westfalen: »Hier sind es autonahe Industriebetriebe mit vergleichsweise gut bezahlten und mitbestimmten Arbeitsplätzen, die den größten Stellenabbbau angekündigt haben. Thyssenkrupp bis zu 6.000, Hella bis zu 1.350, Deutz bis zu 1.000. Zugleich sucht die Deutsche Post mehr als 10.000 Paketzusteller für die Hochsaison um Weihnachten herum. Doch solche Tätigkeiten sind traditionell weniger gut bezahlt als in der Industrie, wo die Gewerkschaften hohe Löhne durchgesetzt haben.«

Wieder zurück nach Bayern: »Auch Bayerns IG-Metall-Bezirksleiter Johann Horn erkennt an, dass die Branche in der Transformation steckt – und Corona die Lage verschärft. Doch Firmen wie MAN nähmen Corona „als Vorwand, um brutal Stellen abzubauen und in Billigländer zu verlagern“.«

Es wurde schon auf den Punkt gebracht: Die IG Metall muss den Spagat schaffen zwischen jenen, die mehr verdienen möchten, und jenen, die um den Job fürchten. Gewerkschaftschef Hofmann fordert eine erkennbare Lohnerhöhung „in Firmen, in denen es gut läuft“. Und er denkt an jene mit der Jobangst, wenn er eine Arbeitszeitverkürzung fordert.

Hagelüken und Peters haben das so formuliert: »IG Metall wird … wie üblich mehr Geld fordern. Aber diesmal soll das Geld auf Unterschiedliches aufgeteilt werden. Beschäftigte wie Metin Birdal könnten mehr Lohn erhalten. Wer dagegen bei seiner Firma vier Tage arbeitet, könnte einen Teil des weggefallenden Gehalts erhalten. Dann hätte die IG Metall ihren Spagat geschafft.«

Und die Arbeitgeber? Was sagen die? »“Wenn sich der Tarifvertrag an den etwa zehn Prozent der Firmen orientiert, bei denen es gut läuft, werden viele andere die Tarifbindung hinterfragen und möglicherweise aufkündigen“, warnt Luitwin Mallmann, Geschäftsführer von Metall NRW. Viele Firmen hätten massive Umsatzeinbrüche. „Die verbrennen im Moment Eigenkapital, um die Mannschaft zusammenzuhalten. Das dürfen wir durch die Tarifrunde nicht befeuern.“«

Stefan Wolf, der designierte Chef des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, will was ganz anderes, er will in der Tarifrunde die Arbeitskosten in Deutschland senken. Und er droht wieder einmal mit dem Verlagerungstod: »Produktion zu verlagern, ist in der vernetzten Welt von heute nicht schwer. Da stellt sich grundsätzlich schon die Frage: Warum soll ein Manager einen vergleichsweise teuren deutschen Standort erhalten?« Und er konkretisiert dann seine Wicht auf die Tarifrunde, die den Gewerkschaftern wie eine Horrorliste daherkommen muss. »Er will Beschäftigten 2020 und 2021 eine Nullrunde verordnen. Er will Zuschläge für spätes Arbeiten kürzen, er denkt an unbezahlte Mehrarbeit. Geht es einer Firma schlecht, soll der Tarifvertrag künftig automatisch erlauben, Arbeitskosten zu reduzieren.« Er kann sich höchstens Einmalzahlungen in gut laufenden Betrieben vorstellen. Viele aber hätten eine Umsatzrendite unter zwei Prozent. Sie müssten viel Geld in die Transformation stecken.

Und der Arbeitgeber-Funktionär setzt noch einen drauf und macht in diesen Corona-Zeiten den Vorschlag, „die Tarifrunde um einen längeren Zeitraum zu verschieben“. Eigentlich sollen im Dezember Verhandlungen beginnen, aber selbst bei abgespeckten Teams säßen auf jeder Seite 20 Leute in einem geschlossenen Raum – und das, so Wolf, sei „den Leuten“ doch in Corona-Zeiten nicht zu vermitteln (es handelt sich ja auch nicht um Schüler oder Kita-Kinder, möchte man anmerken), man habe eine Vorbildfunktion und deshalb solle man das erst einmal für längere Zeit lassen mit den Verhandlungen. Na ja, nicht so ganz: Nur über eines will er sofort verhandeln: „Firmen mit wirtschaftlichen Problemen müssen vom Tarifvertrag abweichen können, sonst überleben viele nicht.“

Quelle: Gesamtmetall (2018): Die Tarifrunden in der Metall- und Elektro-Industrie seit 1990 (Tarifarchiv). Stand: 7. Juni 2018

»Der IG-Metall-Vorstand will in der aktuellen Tarifrunde bis zu vier Prozent mehr Geld durchsetzen. Davon soll ein Teil in normale Lohnerhöhungen fließen, ein anderer Teil in einen Lohnausgleich, falls Betriebe die Arbeitszeit auf eine Vier-Tage-Woche kürzen, um Jobs zu erhalten. Angesichts der Corona-Krise und des Strukturwandels der Branche weg vom Verbrennungsmotor sei es in dieser Tarifrunde zentral, Arbeitsplätze zu sichern, so IG-Metall-Chef Jörg Hofmann.« Das berichtet Alexander Hagelüken unter der Überschrift IG Metall will bis zu vier Prozent mehr Geld, wobei das Augenmerk auf „bis zu vier Prozent“ liegen sollte. Die Original-Aussagen der IG Metall findet man hier:

➔ Vorstand der IG Metall (2020): Beschäftigung sichern, Zukunft gestalten, Einkommen stärken, 09.11.2020

Die Stellungnahme ist eine Empfehlung des Vorstands an die regionalen Bezirke. Sie wird erst zur offiziellen Forderung für die Tarifrunde, wenn die Bezirke sie annehmen, was im Regelfall jedoch weitgehend geschieht. Am 26. November wird die Gewerkschaft endgültig über die Tarifforderung beschließen.

»Die IG Metall demonstriert ihren Wunsch nach einem Kompromiss unterdessen, indem sie zunächst auf Streiks verzichtet. Sie hat die Tarifverträge so gekündigt, dass die Friedenspflicht erst am 1. März endet. Vor diesem Zeitpunkt sind auch keine Warnstreiks möglich«, berichtet Alexander Hagelüken.

Eines ist sicher: Es wird schwierig werden, sehr schwierig.