Jenseits der Dönerladen-Ökonomie? Neue Befunde über die Selbstständigkeit von Migranten in Deutschland

Seien wir ehrlich: Wenn man eine Umfrage machen würde, was die Menschen mit demThema Migranten als Selbstständige verbinden, dann werden viele Bilder von Dönerläden oder Gastronomie-Unternehmen im Kopf haben. Und tatsächlich gibt es mit der üblichen regionalen Schwankungsbreite ja auch zahlreiche solcher Geschäfte in unserem Land. Mancher wird dann noch darauf verweisen, dass viele der migrantischen Unternehmen wohl nur funktionieren (können), weil sie als Familienunternehmen über Selbstausbeutung geführt werden.

Bereits 2017 wurde in einer Studie auf die Besonderheiten migrantengeführter Familienunternehmen, zu denen jedes zehnte Familienunternehmen in Deutschland gehört, hingewiesen – mit einer erheblichen Erweiterung der Perspektive auf migrantische Selbstständigkeit: »Obwohl sie im Durchschnitt kleiner und jünger sind als nicht-migrantengeführte Familienunternehmen, leisten migrantengeführte Familienunternehmen einen wertvollen volkswirtschaftlichen Beitrag. So beschäftigen sie überdurchschnittlich häufig Personen mit Migrationshintergrund und haben damit eine bedeutende Integrationsfunktion am Arbeitsmarkt. Entgegen landläufiger Wahrnehmung sind sie überdurchschnittlich häufig in wissensintensiven Bereichen sowie in Freien Berufen tätig, innovationsstark und in ihrer Geschäftstätigkeit international ausgerichtet.«

Das kann man dieser Studie des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) in Bonn entnehmen:

➔ Tertia Bijedić et al. (2017): Familienunternehmen von Migranten, IfM-Materialien Nr. 261, Bonn: Institut für Mittelstandsforschung (IfM), 2017

Die Studie konnte eine sehr breite Ausprägung der migrantengeführten Familienunternehmen aufzeigen: »Entgegen landläufiger Wahrnehmung sind sie überdurchschnittlich häufig in wissensintensiven Bereichen sowie in Freien Berufen tätig, innovationsstark und in ihrer Geschäftstätigkeit international ausgerichtet … Zwar bilden niedrige Preise nicht den Kern der Wettbewerbsstrategie von Familienunternehmen, doch spielen sie bei migrantengeführten eine bedeutendere Rolle als bei nicht-migrantengeführten Familienunternehmen und führen dann häufiger zu Rentabilitätsproblemen.«

Unternehmer »mit Migrationshintergrund leisten in wachsendem Umfang Beiträge zu Beschäftigung und wirtschaftlicher Dynamik in Deutschland. Das zeigen zwei aktuelle Studien«, die von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegeben wurden. Die Stiftung verknüpft schon in der Überschrift ihrer Meldung über die beiden Studien das Thema mit einem Begriff, der bis vor kurzem, also vor dem Ausbruch der Corona-Krise, immer wieder im Diskurs über die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland aufgerufen wurde: Selbstständige mit Migrationshintergrund: Jobmotor für Deutschland. Dieser Vorstoß der Stiftung erfolgt natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern muss im Kontext gesehen werden. Für den 19. Oktober 2020 hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel zum 12. Integrationsgipfel nach Berlin eingeladen. Auf dem Tisch liegt ein nationaler Integrationsplan mit zahlreichen Maßnahmen, um die Integration und das Fuß fassen in Deutschland zu verbessern.

Natürlich fragt man sich, über welche Größenordnung hier gesprochen wird. Immerhin behauptet die Stiftung, es handele sich um einen „Jobmotor für Deutschland“.

»Die Zahl der in Migrantenunternehmen Beschäftigen wuchs zwischen 2005 und 2018 von rund 1 Million Personen um 50 Prozent auf rund 1,5 Millionen. Der gesamtwirtschaftliche Beschäftigungseffekt – dazu zählen die geschaffenen Arbeitsplätze sowie Arbeitgeber und Alleinunternehmer mit Migrationsgeschichte – ist sogar von 1,55 Millionen auf 2,27 Millionen Personen gewachsen … Besonders hoch war der Beschäftigungseffekt in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg.«

Diese Zahlen kann man diesem von Prognos erstellten Auftragsgutachten entnehmen:

➔ Andreas Sachs (2020): Migrantenunternehmen in Deutschland zwischen 2005 und 2018. Ausmaß, ökonomische Bedeutung und Einflussfaktoren auf Ebene der Bundesländer, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2020

Dort wird ausgeführt (S. 42): »Insgesamt hat die Zahl der Unternehmer mit Migrationshintergrund von 2005 bis 2018 um gut 200 Tausend auf 773 Tausend Personen zuge­nommen. Gleichzeitig ist die Selbstständigenquote, also der Anteil der Selbstständigen an den Erwerbstätigen, sowohl für die Personen mit als auch ohne Migrationshintergrund in den letzten Jahren gefallen. Bei den Personen mit Mig­rationshintergrund ging dieser Rückgang mit einer absolut steigenden Zahl von Selbstständigen einher. Mehr Personen mit Migrationshintergrund wurden unternehmerisch tätig, aber noch mehr nahmen eine abhängige Beschäftigung auf. Zu vermuten ist, dass für die in beiden Gruppen schrump­fende Selbstständigenquote die wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen, also die gute konjunkturelle Situation, einen wesentlichen Anteil hatten.«

Die Bertelsmann Stiftung zieht aus der Studie: »Sogar um 57 Prozent legte die Zahl selbstständiger Frauen mit Migrationshintergrund im Betrachtungszeitraum zu. Mehr als ein Drittel aller Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte sind heute Frauen. Die Zahl der Selbstständigen ohne Zuwanderungsgeschichte sank hingegen drastisch: 2018 gab es 275.000 weniger Selbstständige ohne Migrationshintergrund als im Jahr 2005. Abnehmende Gründungs- und Unternehmensdynamik kennzeichnen den Wirtschaftsstandort Deutschland schon lange. Die Studie zeigt: ohne Zuwanderung wäre die Gründungsmisere in Deutschland um ein Vielfaches dramatischer.«

Und wie sieht es mit den Einkommen aus? Wir erfahren von Durchschnittswerten, die man aber wie immer in diesem Bereich mit spitzen Fingern anfassen sollte, denn wenn man die Streuung der tatsächlichen Werte um einen Durchschnitt nicht kennen, dann kann der eine Wert zuweilen mehr verdecken als helfen:

Unternehmer ohne Migrationshintergrund haben ihr durchschnittliches monatliches Netto-Einkommen von 2005 bis 2018 um 38 Prozent oder 900 Euro auf 3.200 Euro steigern können (ohne Preisbereinigung). »Dahinter bleiben die Zahlen der Selbstständigen mit ausländischen Wurzeln zurück. Aber auch sie erreichten ein Plus von 32 Prozent oder gut 600 Euro auf ein monatliches Nettoeinkommen von rund 2.500 Euro. Damit übertreffen die Selbstständigen mit Migrationshintergrund das durchschnittliche Netto-Einkommen von abhängig Beschäftigten mit Migrationshintergrund um 44 Prozent. Letzteres liegt bei rund 1.700 Euro im Monat.«

Und wie sieht es im Spiegel der Zahlen aus mit der wussten oder auch unbewussten Verortung migrantischer Selbstständigkeit vor allem im Gastgewerbe?

»Mehr als die Hälfte der Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte (55 Prozent) ist mittlerweile im Dienstleistungsbereich außerhalb von Handel und Gastronomie tätig. Handel und Gastgewerbe machen nur noch rund 25 Prozent aus, ein Rückgang um dreizehn Prozent im Vergleich zu 2005. Knapp 198.000 Unternehmer:innen und damit 18.000 weniger als 2005 arbeiteten 2018 in Handel und Gastgewerbe.«

Die Stiftung hat noch eine zweite Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse nun ebenfalls vorliegen. Dabei wurde am Beispiel von Nordrhein-Westfalen genauer hingeschaut, in diesem Fall von dem bereits erwähnten Institut für Mittelstandsforschung (IfM) in Bonn:

➔ Rosemarie Kay und Sebastian Nielen (2020): Ausländische Staatsangehörige als Gründer in NRW zwischen 2003 und 2018, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2020

Hinsichtlich der allgemeinen Unternehmensdynamik werden erst einmal diese Werte vorgetragen: »Seit 2011 übersteigt die Zahl der gewerblichen Unternehmensaufgaben die der gewerblichen Existenzgründungen bei Weitem: Im gewerblichen Teil der Wirtschaft scheiden rund 5.800 Unternehmen im Jahr durchschnittlich mehr aus als Neugründungen hinzukommen. Zwischen 2011 und 2018 ist der Gesamtbestand an Unternehmen in NRW insgesamt um rund 8.500 Unternehmen geschrumpft.«

Und diese Entwicklung wäre noch viel drastischer ausgefallen, »wenn es in dieser Zeit keine Zuwanderung gegeben hätte: Ohne die überdurchschnittlichen Gründungsaktivitäten ausländischer Staatsangehöriger wäre der gewerbliche Unternehmensbestand zwischen Rhein und Weser noch weitaus stärker eingebrochen. Im Jahr 2018 gehen in NRW 39,2 Prozent aller gewerblichen Existenzgründungen auf ausländische Staatsangehörige zurück.«

Nicht verwunderlich: Innerhalb des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen gibt es erhebliche Unterschiede: »Die meisten Gründungen gibt es in den Regionen Düsseldorf, Köln-Bonn und Niederrhein. Schlusslichter sind das Münsterland, Südwestfalen und Ostwestfalen-Lippe.« Als möglicher Erklärungsansatz wird uns das hier mitgeliefert:

»Diese Unterschiede haben wohl strukturelle Gründe. Während sich in den starken Regionen Düsseldorf und Köln-Bonn die weit überdurchschnittliche Wirtschaftskraft günstig auszuwirken scheint, sorgte in den Regionen Münsterland, Ostwestfalen-Lippe und Südwestfalen offenbar die günstige Lage am Arbeitsmarkt im Betrachtungszeitraum dafür, dass weniger Impulse für das Gründungsgeschehen ausgingen. Anders gesagt: In diesen Regionen gibt es schlicht keine Notwendigkeit, sich selbstständig zu machen, die Gründungskultur ist somit schwächer ausgeprägt.«

Die beiden Studien beleuchten die Entwicklung bis zum Jahr 2018. Nun haben wir seit März 2020 eine ganz andere Situation. Eine empirische Aussage über den Effekt der Corona-Krise ist aktuell nicht möglich.

»Fakt ist, die Corona-Krise bedroht die Existenz gerade vieler kleiner und mittlerer Unternehmen. Besonders bedroht sind junge Unternehmen, die noch nicht über eine solide finanzielle Basis verfügen und Unternehmen in spezifischen Branchen wie dem Einzelhandel und der Gastronomie. Das Baugewerbe und Teile des Verarbeitenden Gewerbes sind – aktuell betrachtet – einem geringeren Risiko ausgesetzt. Dementsprechend sehen sich Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund ebenso wie Selbständige ohne Zuwanderungsgeschichte je nach Betätigungsfeld aktuell sehr unterschiedlichen Szenarien gegenüber«, so die Stiftung in ihrer Zusammenfassung.

Der Bertelsmann Stiftung geht es mit Blick auf den Integrationsgipfel vor allem darum, dass die Wirtschaftspolitik „Anreize, Beratungs- und Unterstützungsleistungen“ für diesen wachsenden Bereich der Selbstständigkeit ins Auge fasst – und damit nicht nur selbstlose Aktivitäten, sondern auch neue Geschäftsfelder vor allem für Berater.

Der möglicherweise bedeutsamere Aspekt einer Thematisierung dieses Bereichs könnte darin bestehen, überhaupt erst einmal ein „Wandel des Bildes von migrantischem Unternehmertum“ (Bijedić et al. 2017) herbeizuführen, um die bisherigen Bilder migrantischer Selbstständigkeit realitätsgerechter zu erweitern.