Immer diese selektive Wahrnehmung von Zahlen, wird so mancher gedacht haben in den zurückliegenden Monaten. Am Anfang der Corona-Krise ging es vor allem und zuweilen ausschließlich um die Zahl der Neuinfektionen, dann wurde auch auf die Zahl der klinisch relevanten Corona-Fälle und der Beatmungspatienten geschaut. Die Bundeskanzlerin erklärte via Fernsehen den Menschen den angeblich so bedeutsamen R-Wert, an dem unsere Zukunft hängt, mittlerweile ist der irgendwie abhanden gekommen. Dann schien sich die Lage wieder zu beruhigen, die offiziellen Zahlen gingen runter und die Geschäfte wieder rauf. Seit einigen Wochen aber haben nicht nur wir in Deutschland wieder teilweise stark steigende Zahlen bei den gemeldeten Neuinfektionen. Man fühlt sich an den März dieses Jahres erinnert. Und wieder schauen einige mit Sorge auf die Kliniken und das Bedrohungsszenario überlasteter Intensivstationen wird erneut aufgerufen. Dabei argumentieren die einen dann beruhigend damit, wie viele leerstehende Intensivbetten gezählt werden, also noch eine Menge Luft vorhanden ist, während die anderen darauf hinweisen, dass ein noch leeres Intensivbett vielleicht da ist (möglicherweise aber auch nur in den Büchern wegen den Fördermitteln), aber selbst unzählige leere Intensivbetten nicht helfen werden, wenn es kein qualifiziertes Personal, vor allem Pflegepersonal gibt, mit denen die dort unterzubringenden Patienten auch adäquat versorgt werden können. Und auch wenn die einen darauf hinweisen, dass die Zahl der Infektionen stärker angestiegen ist, als die der Krankenhausfälle, kontert die andere Seite damit, dass es (noch) die eher jungen Menschen waren/sind, die sich infiziert haben und von denen nur wenige auch in der Klinik landen, aber nunmehr sicher davon auszugehen ist, dass sich das Virus auch unter den älteren Menschen etwas zeitverzögert ausbreiten wird und dort mit deutlich heftigeren Konsequenzen. Da passt es es dann leider, wenn wir diese Tage mit einer zunehmenden Zahl an Berichten über zahlreiche Neuinfektionen in den Pflegeheimen konfrontiert werden, dabei haben wir noch nicht einmal das aufgearbeitet, was in den vergangenen Monaten in vielen Heimen (nicht) passiert ist und wie man bei einer zweiten Welle anders gegensteuern will.
Aktuell steigen nicht nur die reinen Fallzahlen hinsichtlich der erkannten Neuinfektionen, auch eine (wieder ansteigende) Hospitalisierung
In diesen Zeiten, in denen erbitterte Debatten über die (Nicht-)Aussagefähigkeit der Daten zur Corona-Pandemie geführt werden, ist es ein Hoffnungsschimmer, wenn harte Daten präsentiert werden zu einer oftmals verdrängten Frage: Was passiert eigentlich mit den Patienten, wenn sie eine coronabedingte Krankenhausbehandlung hinter sich gebracht haben? Was wissen wir über die (möglichen) mittel- und langfristigen Folgen einer Corona-Erkrankung?
Dazu gab es in den zurückliegenden Wochen und Monaten immer wieder mal Spekulationen und erste Hinweise auf Befunde aus Studien. Um nur ein Beispiel aus dem September 2020 zu zitieren: Experte warnt vor Langzeitfolgen von COVID-19-Erkrankungen, so ist eine Meldung aus der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts überschrieben:
»Das deutsche Gesundheitssystem muss sich nach Einschätzung des Jenaer Mediziners Andreas Stallmach auf Belastungen durch die Langzeitbetreuung von COVID-19-Patienten einstellen. Schon jetzt, gut ein halbes Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie auch in Thüringen, zeige sich, dass viele Betroffene nach der Erkrankung noch lange mit erheblichen Spätfolgen zu kämpfen haben, sagte Stallmach. Das reiche von Luftnot über Konzentrationsstörungen und Depressionen bis hin zu Beschwerden bei Magen und Darm. „Die Viren können nahezu alle Organe befallen und so können auch an nahezu allen Organen Folgeschäden auftreten.“ Stallmach koordiniert die im Sommer eingerichtete Post-Covid-Ambulanz am Jenaer Universitätsklinikum. Der Experte schätzt, dass mehr als die Hälfte derer, die wegen COVID-19 in einer Klinik behandelt werden mussten, Folgeschäden haben. Es gebe aber auch Menschen mit nur leichtem Krankheitsverlauf, die unter Spätfolgen litten.«
Und bereits im Mai dieses Jahres konnte man erfahren: Gesundheitsministerium rechnet mit Spätfolgen nach COVID-19-Erkrankungen: »Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) geht davon aus, dass „bei dem relativ hohen Anteil von intensivpflichtigen und beatmungsbedürftigen Patienten auch mit Spätfolgen im Sinne von langen Rehabilitationszeiten und möglicherweise bleibenden Beeinträchtigungen zu rechnen ist“.«
Nunmehr hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) wichtige Erkenntnisse aus der Auswertung von Versichertendaten der AOKen veröffentlicht, die der Frage nachgeht, wie es Berufstätige, die im Frühjahr 2020 wegen einer COVID-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden mussten, ergangen ist. Das ist neben der individuellen Betroffenheit eine hoch relevante Frage für die Abschätzung der möglichen Folgen innerhalb des Gesundheitssystems, aber auch für die Arbeitswelt.
Erwerbstätige Covid-19-Patienten mit Krankenhausbehandlung: Lange Fehlzeiten auch im Anschluss an den Klinikaufenthalt
»AOK-versicherte Erwerbstätige, die im Frühjahr 2020 wegen einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden mussten, wiesen auch nach der stationären Behandlung lange krankheitsbedingte Fehlzeiten in ihren Betrieben auf«, berichtet das WIdO. »So lag der Krankenstand der betroffenen Beschäftigten in den ersten zehn Wochen nach ihrem Krankenhausaufenthalt mit 6,1 Prozent deutlich höher als bei der nicht infizierten Vergleichsgruppe mit gleicher Alters- und Geschlechtsstruktur (2,8 Prozent).«
Wie viele berufstätige Corona-Infizierte waren überhaupt von einer Krankenhausbehandlung betroffen? Dazu berichtet das WIdO »Zwischen dem 1. März und dem 21. April 2020 mussten von den insgesamt 27.300 AOK-versicherten Beschäftigten wegen einer nachgewiesenen SARS‑CoV-2-Infektion mehr als 3.700 Personen (13,6 Prozent) stationär behandelt werden.«*
*) »Unter den mehr als 10,1 Millionen AOK-versicherten Beschäftigten, die zwischen dem 1. März und dem 30. Juni 2020 durchgängig versichert waren, fehlten im Beobachtungszeitraum vom 1. März bis 21. April mehr als 27.300 AOK-Mitglieder wegen einer bestätigten SARS-CoV-2-Infektion (ICD-10 GM: U07.1) im Betrieb. Dies entspricht 270 Covid-19-Erkrankten je 100.000 AOK-versicherte Beschäftigte. Beobachtet man ausgehend von der Krankschreibung das AU-Geschehen in den nachfolgenden zehn Wochen, lag der Krankenstand für diese Gruppe bei 3,5 Prozent. In der Gruppe der AOK-Mitglieder ohne Covid-19-Erkrankung war dagegen im Vergleichszeitraum ein Krankenstand von nur 2,6 Prozent zu verzeichnen. Für einen fairen Vergleich zwischen Beschäftigten mit und ohne Covid-19-Erkrankung wurden Alters- und Geschlechtsunterschiede zwischen den jeweiligen Vergleichsgruppen in der gesamten Analyse rechnerisch ausgeglichen.«
Die Daten zeigen, dass in der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020 nur verhältnismäßig wenige arbeitsunfähige Erwerbstätige aufgrund einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden mussten. Aber: War jedoch ein Krankenhausaufenthalt notwendig, ergaben sich auch weitere schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die über die akute Erkrankung hinausgingen. Und: Die gravierenden Auswirkungen der Erkrankung zeigen sich auch in der hohen Sterblichkeitsrate der stationär behandelten Beschäftigten, die im Beobachtungszeitraum bei 3,3 Prozent lag. „Angesichts der Tatsache, dass hier AOK-versicherte Erwerbstätige mit einem durchschnittlichen Lebensalter von 47 Jahren betroffen sind, ist die hohe Sterberate durchaus besorgniserregend“, Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO.
Die vergleichende Auswertung brachte folgende Befunde: »Bei fast jedem siebten AOK-versicherten Beschäftigten, der vom Arzt wegen einer Covid-19-Erkrankung als arbeitsunfähig erklärt wurde, machte ein besonders schwerer Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion einen Krankenhausaufenthalt notwendig (13,6 Prozent). In den jeweils auf die stationäre Behandlung folgenden zehn Wochen waren diese Beschäftigten an 6,1 Prozent der Tage arbeitsunfähig. Bei der alters- und geschlechtsbereinigten Vergleichsgruppe ohne Covid-19-Erkrankung lag der Krankenstand nur bei 2,8 Prozent. Auch die Dauer der Arbeitsunfähigkeit unterscheidet sich zwischen den beiden Gruppen deutlich: Innerhalb von zehn Wochen fehlten die von Covid-19 betroffenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nach der Krankenhausentlassung im Durchschnitt 13,5 Tage pro Fall, die nach Alter und Geschlecht vergleichbare Gruppe dagegen nur 9,4 Tage.«
Und wir erinnern uns – in den vergangenen Wochen und Monaten wurde immer wieder auch über das Sterberisiko diskutiert und ganz oft bekam man dabei die Auskunft, dass das wenn, dann ältere Menschen mit vielen Vorerkrankungen betreffen würde. Hier zeigen die neuen Erkenntnisse des WIdO, dass man hinsichtlich der tödlichen Risikodimension genauer hinschauen muss:
»Obwohl die Erwerbstätigen, die im Krankenhaus wegen Covid-19 behandelt werden mussten, mit einem Durchschnittsalter von 47 Jahren vergleichsweise jung waren, war die Sterberate hoch: 3,3 Prozent der Erwerbstätigen, die wegen einer besonders schweren Covid-19-Erkrankung stationär behandelt werden mussten, verstarben während des Krankenhausaufenthalts oder im Nachbeobachtungszeitraum. In der Vergleichsgruppe, die zwar die gleiche Alters- und Geschlechtsstruktur aufweist, aber nicht von einer SARS-CoV-2 Infektion betroffen war, verstarben lediglich 0,08 Prozent.«
Fehlzeiten nach Klinikaufenthalt vor allem wegen Atemwegserkrankungen: »Aufgrund von Infektionen oder Atemwegserkrankungen, die vermutlich im Covid-19-Zusammenhang stehen, fehlten diese Beschäftigten in den ersten zehn Wochen nach dem stationären Aufenthalt gut siebenmal so lange wie die Vergleichsgruppe ohne SARS-CoV-2-Infektion, aufgrund von psychischen, Herz-Kreislauf- oder Stoffwechsel-Erkrankungen etwa dreimal so lange.«
„Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Ursachen der krankheitsbedingten Fehltage, die nach einem stationären Aufenthalt wegen einer Covid-19-Infektion auftreten, vor allem in Beschwerden der Atmungsorgane zu suchen sind, aber auch psychische Probleme eine Rolle spielen“, so Helmut Schröder.
Sollten in der vor uns liegenden Zeit nicht nur die Infektionsfälle insgesamt ansteigen, sondern auch die Zahl der Menschen, die eine Krankenhausbehandlung benötigen, dann werden sich mit Blick auf die Berufstätigen viele Arbeitgeber auf längere Ausfallzeiten einstellen müssen, die weit länger dauern werden als der Klinikaufenthalt im engeren Sinne.
Auf der anderen Seite kann man natürlich auch daran denken, dass aufgrund der Erfahrungskurve des Lernens mittlerweile die Patienten differenzierter und partiell auch wirkungsvoller therapiert werden, so dass sich zukünftig möglicherweise andere Werte ergeben könnten. Aber da sind wir wieder voll drin in der spekulativen Dimension der Debatte über die Corona-Zahlen und was sie (nicht) bedeuten.