Auch die Pflegeversicherung soll/muss an den Steuertropf gehängt werden. Vorerst nur ausnahmsweise. Zugleich wird die Vor-Corona-Debatte über eine Finanzierungsreform wiederbelebt

Die Soziale Pflegeversicherung ist nicht nur der jüngste Zweig der Sozialversicherung in Deutschland, sie zeichnet sich auch dadurch aus, dass hier bislang – anders als in der Renten- oder Krankenversicherung – keine Steuermittel geflossen sind, sondern die Finanzierung über Beitragseinnahmen sichergestellt wurde. Mit entsprechenden Auswirkungen in Form von Beitragssatzanhebungen in der Vergangenheit aufgrund der Leistungsausweitungen in den zurückliegenden Jahren, verbunden mit der aus demografischen Gründen steigenden Inanspruchnahme.

Betrachtet man die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in den vergangenen Jahren, dann erkennt man den Effekt der bisherigen Ausgabenabsicherung über die Beitragssatztreppe:

Zugleich gab es bis zum Ausbruch der Corona-Krise eine anschwellende Debatte über eine immer dringlicher werdende Reform der Finanzierung der Pflegeversicherung, denn das bestehende fragmentierte System einer Teilleistungsversicherung läuft zunehmend „heiß“, wenn man das zum einen aus der Perspektive der betroffenen Pflegebedürftigen vor allem in der stationären Versorgung hinsichtlich der kontinuierlich steigenden Eigenanteile betrachtet, zum anderen aber auch mit Blick auf unbedingt erforderliche strukturelle Verbesserungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals (sowohl im Sinne einer höheren Vergütung wie auch verbesserten Personalschlüsseln). Denn im bestehenden System einer gedeckelten Teilleistungsversicherung werden die zusätzlichen Kosten auf die Eigenanteile der Pflegebedürftigen abgewälzt, die steigen und steigen.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass bis in die ersten Monate des laufenden Jahres eine zunehmend intensiver geführte Debatte über einen Umbau bis hin zu einem Systemwechsel bei der Finanzierung der Pflege und der Pflegeversicherung zu beobachten war. Vgl. dazu zuletzt hier der Beitrag Die Eigenanteile der Pflegebedürftigen (nicht nur) in den Pflegeheimen steigen – und warum der Plural wichtig ist für die Diskussion über eine Begrenzung des Eigenanteils vom 20. Februar 2020. Dann kam die „Corona-Krise“.

Von wegbrechenden Einnahmen und Beitragssätzen, die nicht so steigen sollen, wie sie systembedingt eigentlich müssten

Das, was wir in den zurückliegenden Monaten erlebt haben, hat massive Auswirkungen auf alle Zweige der umlagefinanzierten Sozialversicherung und damit auch auf die Pflegeversicherung. Zuerst einmal vor allem auf der Einnahmenseite, denn natürlich gibt es in einer derart schweren Krise rückläufige Einnahmen zu beklagen. Dazu als ein Beispiel bereits der Artikel Einnahmen der Pflegeversicherung gesunken von Rainer Woratschka vom 21. Mai 2020: »Die Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung sind schon zu Beginn der Coronakrise spürbar zurückgegangen. Von Februar auf März 2020 sanken sie Regierungsangaben zufolge um 130 Millionen Euro. Das ist mehr als Doppelte des Rückgangs im vergleichbaren Vorjahreszeitraum: Von Februar auf März 2019 hatte die Pflegeversicherung lediglich ein Einnahmeminus von 60 Millionen Euro im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2018 zu verkraften.«

Im bestehenden System ist klar, was nun passieren muss: Den Ausgaben der Pflegeversicherung stehen sinkende Beitragseinnahmen gegenüber, die den Saldo in den Bereich der roten Zahlen verschieben werden, so dass angesichts der Tatsache, dass es (bislang) keinen Zuschuss aus Steuermitteln gab und gibt, an der Beitragssatzschraube – erneut – nach oben gedreht werden muss, denn auch die Finanzreserven der Pflegeversicherung aus der Vergangenheit schmelzen wie Butter in der Sonne. Das kommt dann zu dem schon vor Corona bestehenden und intensiver werdenden Problem der steigenden Eigenanteile hinzu.

Mit Wumms aus der Krise? Das geht nur, wenn die Sozialabgaben nicht so steigen, wie sie es müssten, meint die Bundesregierung: Die „Sozialgarantie 2021“ im Konjunkturpaket

Am 3. Juni 2020 wurde nach zweitägigen Abschlussverhandlungen das Konjunkturpaket der Bundesregierung bekannt, dass aus 57 Maßnahmen besteht: Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken. Ergebnis Koalitionsausschuss 3. Juni 2020. Und bereits auf der zweiten Seite des Ergebnispapiers findet man diesen Passus:

»Durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie steigen die Ausgaben in allen Sozialversicherungen. Um eine dadurch bedingte Steigerung der Lohnnebenkosten zu verhindern, werden wir im Rahmen einer „Sozialgarantie 2021“ die Sozialversicherungsbeiträge bei maximal 40% stabilisieren, indem wir darüber hinaus gehende Finanzbedarfe aus dem Bundeshaushalt jedenfalls bis zum Jahr 2021 decken. Das schützt die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer und bringt Verlässlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit für die Arbeitgeber. {Finanzbedarf: 5,3 Mrd. Euro 2020, Bedarf 2021 kann erst im Rahmen der HH-Aufstellung 2021 ermittelt werden}

Das hat nun unmittelbare Folgen für die Pflegeversicherung: »Das Corona-Virus sorgt für den ersten Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung in 25 Jahren«, so Anno Fricke unter der Überschrift Pflegeversicherung – jetzt auch mit Bundeszuschuss. Und ergänzend wird sogleich darauf hingewiesen: »Das Konjunkturpaket lässt die Debatte über die Belastungen der Heimbewohner wieder aufleben.«

»Die Pflegeversicherung ist die einzige Sozialversicherung, die bislang ohne Zuschuss auskommt. Jetzt ist erstmals ein Zuschuss vorgesehen. Die „Sozialgarantie 2021“ des Konjunkturpakets sieht vor, die Beiträge aller Sozialversicherungen zusammen bei 40 Prozent der Bruttolöhne „zu stabilisieren“. Darüber hinaus gehenden Finanzbedarf will die Koalition zumindest bis zum kommenden Jahr auffangen. Kranken- und Pflegeversicherung zusammen sollen mit 5,3 Milliarden Euro gestützt werden, über die ohnehin regelhaft für die Krankenversicherung vorgesehenen 14,5 Milliarden Euro hinaus. 1,8 Milliarden Euro seien für die Pflege vorgesehen, heißt es in Koalitionskreisen.« (Hervorhebung nicht im Original)

Man muss sich vor Augen führen, dass diese Kalkulation ganz offensichtlich primär bzw. ausschließlich die durch die schwere Rezession ausgelösten Einnahmenprobleme adressiert – aber wohl kaum eine vor Corona diskutierte und von vielen Seiten geforderte deutliche Entlastung gerade der Heimbewohner bei den angesprochenen Eigenanteilen. Und die müsste gegenfinanziert werden. Genau damit befassen sich ja auch Konzepte wie der „Sockel-Spitze-Tausch“, also eine Abkehr von der gedeckelten Teilleistungscharakteristik des bestehenden Systems, aber auch eine immer wieder geforderte stärkere Steuermitfinanzierung wäre hier zu verorten.

Vor dem Hintergrund des nun erstmals auf den Weg gebrachten Steuerzuschusses an die Pflegeversicherung lässt sich in Berlin eine Wiederbelebung der vor Corona geführten pflegepolitischen Diskussion über eine Reform der Finanzierung beobachten: »Sozialpolitikerinnen der SPD-Fraktion im Bundestag haben am Dienstag mehr als einen einmaligen Bundeszuschuss gefordert. „Wir müssen die Pflegeversicherung dauerhaft aus Haushaltsmitteln unterstützen, weil sonst das Problem der Eigenanteile in den Altenheimen nicht gelöst wird“, sagten die stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Fraktion Bärbel Bas und Katja Mast bei einer Videokonferenz am Dienstag«, berichtet Fricke in seinem Artikel. »Mit einem jährlichen Bundeszuschuss wollen die Sozialdemokraten ab nächstem Jahr an dieser Stelle eingreifen.« Das geht natürlich über das befristete Konjunkturpaket mit einem Steuerzuschuss begrenzt auf 2020/2021 hinaus – und eröffnet erneut die Debatte, wie denn die Finanzierung der Pflege nach SGB XI auf Dauer und auf besseren Füßen gesichert werden kann. Gut so.

Denn der nun vereinbarte Bundeszuschuss an die Soziale Pflegeversicherung ist nicht entstanden, um eine gerechtere Lastenverteilung hinzubekommen oder zusätzliche Finanzquellen für einen steigenden Ausgabenbedarf zu erschließen, sondern handlungsleitend ist ein anderes, „übergeordnetes“ Ziel: eine Abgabenbegrenzung im gesamten System der umlagefinanzierten Sozialversicherungen („40 %-Begrenzung“).

Was wir aber brauchen ist eine Antwort, wie wir a) die definitiv steigenden Ausgaben in der Langzeitpflege, wenn man wirklich Verbesserungen auf der Seite der Vergütungen und der Personalschlüssel erreichen will, mit zusätzlichem geld finanzieren können und b) wir wir die zunehmende Überlastung der betroffenen Pflegebedürftigen (Eigenanteile) wieder umkehren können. Dazu gehört auch der Blick auf die steigenden Hilfe zur Pflege-Ausgaben der Kommunen, die hier wieder zunehmend als Ausfallbürge in Anspruch genommen werden.

Die Großbaustelle ist wieder geöffnet.