Gestern noch so und wenige Tage später ganz anders: Die Coronakrise und der Arbeitsmarkt

»Die Ausbreitung des neuen Corona-Virus wird die Konjunktur in Deutschland dämpfen. Die Unsicherheit über die damit verbundenen Folgen ist derzeit erheblich. Größere Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind gleichwohl unwahrscheinlich«, so Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit am 9. März 2020 in einem Beitrag unter der Überschrift Corona-Virus: Konjunktur schwächer, Arbeitsmarkt voraussichtlich robust. »Einzelne Unternehmen dürften die Auswirkungen auf jeden Fall spüren. Gesamtwirtschaftlich relevant werden die Folgen, falls Unsicherheit und Eindämmungsmaßnahmen in der Weltwirtschaft systemisch wirken. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die weitere Ausbreitung des Virus gleichzeitig in mehreren großen Handelsnationen zu starken Rückgängen in der Produktion, zu Einschränkungen im Außenhandel und damit zu Behinderungen der Lieferketten sowie zu einem Nachfragerückgang führen würde. Die Auswirkungen auf Real- und Finanzwirtschaft wären dann weltweit zu spüren – mit der Gefahr, dass sich diese gegenseitig verstärken.« Und die daraus resultierenden Folgen? »Je nach der Intensität derartiger Effekte wäre in Deutschland für das laufende Jahr eine Schwächung des Wirtschaftswachstums im Bereich von einigen Zehntel Prozentpunkten denkbar. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass es zu wirtschaftlichen Nachholeffekten kommt, wenn die Epidemie wieder abflaut. Insgesamt besteht erhebliche Unsicherheit über die weitere Entwicklung.« Das liest sich nicht wirklich dramatisch.

Auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt wurde eine beruhigende Botschaft ausgesendet: So »dürften stärkere Auswirkungen auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in Deutschland nach aktuellem Stand eher unwahrscheinlich sein. Denn die Arbeitsmarktentwicklung erweist sich schon seit zehn Jahren als sehr robust gegenüber konjunkturellen Schwankungen … Auch die Ausbreitung eines Virus hätte einen solchen vorübergehenden Konjunktureffekt zur Folge, der somit kaum auf den Arbeitsmarkt durchschlagen würde.«

Diese relativierende Einschätzung wurde folgendermaßen begründet: »… statt von der Konjunktur wird der Aufwärtstrend der Beschäftigung vor allem von Faktoren wie dem Wachstum des Dienstleistungsbereichs, etwa bei Gesundheit, Pflege, Erziehung und Unternehmensdienstleistern, sowie der gestiegenen Knappheit von Arbeitskräften gestützt. Letztere führt dazu, dass Betriebe sich Beschäftigte oft auch unabhängig von der aktuellen konjunkturellen Lage sichern. Dies lässt sich am deutlich gesunkenen Entlassungsrisiko ablesen, welches derzeit auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung liegt. Gerade in vielen Berufen im Verarbeitenden Gewerbe, das von Handelsbeeinträchtigungen stark betroffen ist, sind Arbeitskräfte knapp.«

Schlussendlich: »Um auf schwächere Nachfrage oder Lieferausfälle zu reagieren, könnten Betriebe Guthaben auf Arbeitszeitkonten abbauen oder Kurzarbeit anmelden. Derartige Maßnahmen haben schon in der Wirtschaftskrise 2008/2009 geholfen, die Auswirkungen größerer realwirtschaftlicher Verwerfungen auf den deutschen Arbeitsmarkt einzudämmen.«

Hinterher ist man immer schlimmer, so eine bekannte Lebensgewissheit. Zuweilen kommt das Hinterher aber schneller als man denkt. Wenige Tage nach der Veröffentlichung der hier am Anfang des Beitrags zitierten Einschätzung der möglichen (Nicht-)-Folgen werden wir dann mit dieser Botschaft aus dem gleichen Haus konfrontiert: IAB: Der Arbeitsmarkt gerät massiv unter Druck. Offensichtlich hat sich die Sichtweise auf die volkswirtschaftlichen Folgen innerhalb kürzester Zeit gedreht: »Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erwartet im Jahr 2020 einen drastischen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von zwei Prozent. Vorübergehend schrumpft das BIP sogar um mehr als sechs Prozent. Das geht aus der Vorausschau für 2020 des IAB hervor. Diese erfolgt unter der Annahme, dass ein Teil der Wirtschaftstätigkeit für sechs Wochen ausfällt und dann über einen ebenso langen Zeitraum zur Normalität zurückkehrt. Unterstellt wird dabei eine weltweite Rezession, die nicht zu einer systemischen Krise anwächst.«

Die Prognose der Arbeitsmarktforscher im Original:
➔ Enzo Weber et al. (2020): Deutschland vor einer schweren Rezession: Der Arbeitsmarkt gerät durch Corona massiv unter Druck. IAB-Kurzbericht Nr. 7/2020, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), 2020

Schauen wir uns die Zahlen und die dahinter stehenden Annahmen etwas genauer an.

Offensichtlich liegt der Vorausschau die Annahme einer V-förmigen Entwicklung der Wachstumsentwicklung zugrunde:

➔ Exkurs: V, U oder L? »Anfangs war von einem V-förmigen Verlauf des Konjunkturzyklus die Rede: Ein heftiger Einbruch, der aber schon bald – etwa nach einem Quartal – ausgeglichen würde. Inzwischen ist häufiger von einem U die Rede, soll heissen: Die Talsohle wird länger anhalten, mindestens zwei Quartale. Die schlimmste Variante wäre ein L: ein wirtschaftlicher Einbruch, auf den eine Stagnation folgt«, so Andreas Neinhaus in seinem Beitrag Prognosen in Zeiten des Coronavirus. Offensichtlich folgt das IAB (noch?) dem V-Modell. Und andere? »Die OECD arbeitet mit zwei Szenarien. In der Hauptvariante setzt sie auf eine V-Entwicklung. Die Weltwirtschaft wird dieses Jahr nur 2,4 Prozent wachsen, statt 2,9 Prozent wie vor dem Coronavirus prognostiziert. 2021 zieht dann das Wirtschaftswachstum wieder deutlich an. Daneben gibt es noch ein ungünstigeres Szenario: den Dominoeffekt. Dazu kommt es, falls sich der wirtschaftliche Einbruch nicht auf China und einzelne andere beschränkt, sondern in den wichtigsten Industrieländern fortsetzt, dort das Geschäftsvertrauen unterminiert, die Reisetätigkeit lahmlegt, sodass die Konsum- und Investitionsausgaben stark eingeschränkt werden. In diesem Fall, so die Ökonomen der internationalen Regierungsorganisation, wird sich die Weltwirtschaft im Jahresdurchschnitt auf 1,5 Prozent abschwächen. Teile Europas werden in eine Rezession kippen. Auch die Erholung 2021 fällt dann nur sehr schwach aus.«
Neinhaus bilanziert für sich: »Verfolgt man die täglichen Berichte über Absagen, Verbote und Restriktionen im öffentlichen Leben, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, neigt man dazu, eher dem zweiten Szenario mehr Wahrscheinlichkeit beizumessen. Aber wer weiss das schon.«

Wir bewegen uns auf einem völlig unsicheren Terrain. Neinhaus zitiert in seinem Beitrag Simon Wren-Lewis, Wirtschaftsprofessor an der Oxford-Universität: „In einer normalen Rezession ist die Ursache bekannt, weshalb die Produktion eingebrochen ist, und man kann daher Rückschlüsse darauf ziehen, wie lange diese Korrektur dauern wird.“ Im Fall einer Epidemie oder gar Pandemie seien die Voraussetzungen jedoch grundverschieden vom Lehrbuch-Verlauf. »Wren-Lewis war vor zehn Jahren damit beauftragt, die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Grippe-Pandemie zu analysieren. In einem soeben vom britischen Thinktank CEPR veröffentlichten E-Book Economics in the Time of COVID-19 resümiert er: Es kommt nicht nur zu einem Einbruch auf der Angebotsseite, also einem Produktionsstopp durch die Unternehmen, beispielsweise weil der internationale Handel unterbrochen wurde. Sondern es kommt auch zu einem nachfragebedingten Schock. Dieser Einbruch der Konsumausgaben fällt vielschichtig aus. Er sei nur schwer abzuschätzen. Wren-Lewis spricht in diesem Zusammenhang vom „sozialen Konsum“, jenem Teil der Konsumnachfrage, bei dem andere Menschen involviert sind. Das können Restaurantbesuche, Sportveranstaltungen, Reisen und vieles mehr sein. Bei ihnen werden die Ausfälle nicht einfach verschoben und dann nachgeholt, sondern es handelt sich um permanente Verluste. In seiner damaligen Kalkulation zeigte sich, dass der grösste Dämpfer für das Wirtschaftswachstum ausgelöst wurde, weil die Menschen ihren sozialen Konsum reduzierten, um sich vor dem Grippevirus zu schützen. In diesen Wirtschaftsbranchen gleicht der Geschäftsverlauf also am ehesten einem „L“.« Wenn man sich anschaut, wer bei uns in Deutschland gerade durch die Stilllegung besonders betroffen ist, dann sind das keine Perspektiven, die einen eher optimistisch stimmen können.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) beschreibt ebenfalls sowohl das V- wie auch das L-Szenario der vor uns liegenden Entwicklung – vgl. dazu: Folgen der Corona-Virus-Pandemie treffen deutsche Wirtschaft hart. »Ein Szenario, das einen ähnlichen Verlauf der Virusausbreitung unterstellt wie bei vergangenen Epidemien, etwa der Schweinegrippe, SARS oder der Vogelgrippe, ähnelt einem „V“: Nachdem es steil bergab ging, normalisieren sich nach erfolgreicher Eindämmung des Virus die Produktion und der Konsum relativ bald, im aktuellen Fall in der zweiten Jahreshälfte. Selbst in diesem – Stand jetzt eher optimistischen – Szenario würde die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr unter dem Strich aber schrumpfen, um 0,1 Prozent.« Das ist ein geringerer Wert als das Rechenergebnis beim IAB. Auf das L-Szenario wird zwar hingewiesen, aber kein Wert ausgewiesen. Und auch die 0,1 Prozent-Schrumpfung erscheint mehr als optimistisch.

Zu höheren Werten kommt das Münchener ifo-Institut, das ebenfalls zwei Szenarien veröffentlicht hat – mit einem Rückgang des BIP zwischen 1,5 Prozent in der optimistischen Variante und einem Absturz um 6 Prozent, der sich ergeben könnte, wenn sich die Krise länger hinzieht, etwa weil sich die Pandemie deutlich langsamer eindämmen lässt, oder weil das Wiederhochfahren der wirtschaftlichen Aktivität nicht reibungslos funktioniert bzw. eine erneute Ansteckungswelle auslöst (vgl. dazu ausführlicher Timo Wollmershäuser: ifo Konjunkturprognose Frühjahr 2020: Konjunktur bricht ein, in: ifo Schnelldienst, Heft 6/2020).

Zurück zu der Vorausschau, die das IAB vorgelegt hat: »Diese … erfolgt unter der Annahme, dass ein Teil der Wirtschaftstätigkeit für sechs Wochen ausfällt und dann über einen ebenso langen Zeitraum zur Normalität zurückkehrt. Unterstellt wird hier eine weltweite Rezession, die nicht zu einer systemischen Krise anwächst. Unter diesen Bedingungen kann für das Jahr 2020 eine drastische Schrumpfung des realen Bruttoinlandsprodukts von 2,0 Prozent erwartet werden.«

Und was kann das für den Arbeitsmarkt bedeuten? »Der Arbeitsmarkt profitiert von seiner bisher erworbenen Robustheit und umfassenden Stützungsmaßnahmen. Dennoch wird er massiv unter Druck geraten. Die Zahl der Arbeitslosen steigt im Jahresdurchschnitt um 90.000. Bei der Erwerbstätigkeit ergibt sich im Jahresdurchschnitt nur noch Stagnation, zeitweise sinkt sie um 300.000 Personen … Die Zahl der Kurzarbeiter könnte in der nächsten Zeit Rekordniveau erreichen.« Aber sicher sind sich die Forscher nicht, wie denn auch. Also erwähnen sie ein weiteres Szenario: »Im Falle zweieinhalbmonatiger Ausfälle mit Normalisierung erst bis zum Jahresende könnte der Rückgang der Erwerbstätigkeit doppelt so hoch ausfallen, die Wirtschaft würde um 4,7 Prozent schrumpfen.«

Alles in allem scheinen das eher optimistische Werte zu sein, die seitens des IAB für die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit ausgewiesen werden.

Das Fazit der IAB-Forscher

»Die Arbeitsmarktentwicklung stützt seit Jahren das Wirtschaftswachstum, die Einkommen und die Steuereinnahmen. Vieles hängt davon ab, dass diese Rückversicherung intakt bleibt. Dass umfassende Stützungsmaßnahmen greifen, ist zwingende Voraussetzung dafür, dass eine Entwicklung wie in der vorliegenden Vorausschau gehalten werden kann.«

Und das bedeutet beispielsweise für das arbeitsmarktpolitische Instrument Kurzarbeit: »Das Kurzarbeitergeld hat sich dabei gerade in Zeiten schwerer, aber vorübergehender und externer Schocks als probates Mittel erwiesen. Da Minijobs unter den speziellen Bedingungen der wirtschaftlichen Corona-Ausfälle stark betroffen sein werden, sollte Kurzarbeit vorübergehend – zumindest solange die Eindämmungsmaßnahmen in Kraft sind – auch bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen ermöglicht werden. Gleiches gilt für neu abgeschlossene Beschäftigungsverhältnisse, um für die Betriebe in unsicheren Zeiten das Risiko von Neueinstellungen zu senken. Denn für die Beschäftigungsentwicklung kommt es neben der Vermeidung von Entlassungen genauso auf Einstellungen an.«

»Kurzarbeitergeld hilft allerdings nicht mehr, wenn Betriebe wegen der Corona-bedingten Schließungen beziehungsweise Ausfällen von Lieferungen, Nachfrage oder Personal zahlungsunfähig werden. Hier sind staatliche Liquiditätshilfen notwendig, die im Bedarfsfall verbindlich und umfassend gewährt werden müssen. Diese müssen neben Betrieben auch Selbstständigen zugutekommen, die ebenfalls mit erheblichem Einkommensausfall konfrontiert sein können. Angesichts der zu erwartenden umfassenden Ausfälle sollten die Kredite zinsfrei bleiben und über einen längeren Zeitraum keine Rückzahlungsverpflichtung bestehen, da die entstehende Schuldenlast viele Betriebe und Selbstständige überfordern könnte.« (Hervorhebungen nicht im Original).

Und was, wenn die negative Entwicklung extremer verläuft und systemische Wirkungen drohen? Dann, so Weber et al. (2020, S. 12), gebe es zwei Optionen, sowohl auf Seite der Betriebe/Selbstständigen und bei den Beschäftigten:

➔ »Einerseits könnte die Rückzahlung zumindest für kleinere Firmen teilweise freiwillig gestellt werden. Andererseits könnte über temporäre staatliche Beteiligungen an größeren Firmen der Erhalt von Zulieferbetrieben gestärkt und damit eine Abwärtsspirale vermieden werden.«

➔ »Können Beschäftigte infolge Corona-bedingter Einschränkungen ihrer Arbeit zeitweise nicht nachgehen, wäre eine öffentlich finanzierte Lohnfortzahlung anzuraten, wenn andere Wege ausgeschöpft sind. Diese könnte wie die Krankengeldauszahlung von den Krankenkassen übernommen werden, die Kosten wären aus dem Bundeshaushalt zu erstatten.«