Nichts Neues aus den deutschen Schützengräben des dualen Krankenversicherungssystems. Und warum die private Krankenversicherung dennoch wahrscheinlich ein Auslaufmodell ist

In den heutigen Zeiten ist es fast schon erleichternd, wenn man sich wenigstens in einem Politikfeld auf unerschütterliche Gewissheiten verlassen kann. Dazu gehört die in aller Regelmäßigkeit immer wieder thematisierte Existenzfrage des im internationalen Vergleich ziemlich einmaligen dualen Krankenversicherungssystems in unserem Land – und die erwartbare Empörungswelle von der Gegenseite, die das weit von sich weist. Die allermeisten Menschen, also gut 90 Prozent, sind in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), während die restlichen 10 Prozent in der Privaten Krankenversicherung (PKV) ihr Eigenleben führen (können, manchmal aber auch müssen, weil sie beispielsweise im Alter nicht mehr rauskommen, es aber gerne würden).

Nun gibt es seit vielen Jahren eine dieser für Deutschland so typischen Lager-Diskussionen: Die einen fordern die Abschaffung der PKV und die Einführung einer „Bürgerversicherung“ für alle, die anderen schäumen vor Wut angesichts dieses Ansinnens. Zuweilen gibt es dann für den einen oder anderen Irritationen angesichts der Befürworter einer Abschaffung des Sondersystems der PKV, die man da nicht erwartet hätte. Ein Beispiel wäre hier die Bertelsmann-Stiftung, die bei vielen Linken als vordenkerhafter und multiplizierender Arm des Neoliberalismus gilt – aber von dieser Stiftung wird seit Jahren immer wieder für eine „integrierte Krankenversicherung“ und damit für eine Abschaffung der bisherigen eigenständigen PKV geworben (vgl. hierzu grundsätzlich den Beitrag  Systemkohärenz im Gesundheitswesen. Plädoyer für eine integrierte Krankenversicherung von Stefan Etgeton, Uwe Schwenk und Jan Böden bereits aus dem Jahr 2013).

Und die Bertelsmann-Stiftung hat in den vergangenen Jahren immer wieder mit von ihr in Auftrag gegebenen Studien nachgelegt und beispielsweise für Selbstständige und Beamte aufzuzeigen versucht, wie diese Gruppen in eine „integrierte Krankenversicherung“ überführt werden könnten.

Nun gibt es wieder Nachschub von der Studien-Produktionsstätte in Gütersloh: »Die Aufspaltung der Krankenversicherung in einen solidarischen und einen privatwirtschaftlichen Zweig geht zulasten der Solidarität. Nicht nur ideell, sondern handfest ökonomisch. Wären alle Bundesbürger gesetzlich versichert, bliebe unter dem Strich ein Plus von immerhin neun Milliarden Euro. Der Grund dafür sind vor allem die durchschnittlich deutlich höheren Einkommen der derzeit privat Versicherten. Zusätzlich zeigt die Studie, dass PKV-Versicherte im Schnitt auch gesünder sind als gesetzlich Versicherte. Zwischen beiden Versicherungszweigen findet offenbar eine Risikoselektion zulasten der GKV statt. Die Studie der Bertelsmann Stiftung erlaubt es nun, den Preis der Dualität konkret zu beziffern.« So die Beschreibung dieser von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichten Ausarbeitung:

➔ Richard Ochmann, Martin Albrecht und Guido Schiffhorst (2020): Geteilter Krankenversicherungsmarkt. Risikoselektion und regionale Verteilung der Ärzte, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2020

Die dazu gehörende Pressemitteilung der Stiftung ist so überschrieben: Duales System kostet die Gesetzliche Krankenversicherung bis zu 145 Euro je Mitglied pro Jahr. Das liest sich aber mehr als konkret. Lesen wir weiter: »Wenn alle Bundesbürger gesetzlich versichert wären, würde die Gesetzliche Krankenversicherung jährlich ein finanzielles Plus in Höhe von rund neun Milliarden Euro erzielen. Der Beitragssatz könnte entsprechend je nach Szenario um 0,6 bis 0,2 Prozentpunkte sinken. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Berliner IGES Instituts in unserem Auftrag. Dabei wurde simuliert, wie sich Einnahmen und Ausgaben der GKV entwickeln würden, wenn alle bisher privat Versicherten in die Gesetzliche Krankenversicherung einbezogen wären. Jedes momentan in der GKV versicherte Mitglied und sein Arbeitgeber könnten demnach zusammen pro Jahr durchschnittlich 145 Euro an Beiträgen sparen, wenn auch Gutverdiener, Beamte und einkommensstarke Selbstständige am Solidarausgleich der GKV teilnähmen. Würden die durch den Wegfall der PKV anfallenden Honorarverluste der Ärzte ausgeglichen, wären es 48 Euro jährlich.«

Nun wird der eine oder andere vielleicht anmerken, dass das aber überschaubare Beträge sind angesichts der Beiträge, die über das Jahr an die GKV geleistet werden müssen. Und dafür den ganzen Aufwand? Denn die würden ja auch nur dann realisiert werden, wenn alle bislang PKV-Versicherten in das gesetzliche System überführt werden (würden). Und das ist schon mit Blick auf die rechtliche Hürden eine eher theoretische Annahme.

Aber begnügen wir und erst einmal mit diesem überschaubaren monetären Ergebnis. Wie kommt das zustande? Die Stiftung schreibt dazu: »Diese Verbesserungen für die GKV-Mitglieder kämen aufgrund des in doppelter Hinsicht günstigeren Risikoprofils der Privatversicherten zustande: Zum einen verdienen diese im Durchschnitt 56 Prozent mehr als gesetzlich Versicherte und tragen somit zu einem deutlich höheren Beitragsaufkommen bei. Zum anderen sind Privatversicherte auch gesünder: Unter ihnen ist der Anteil mit mindestens einem Krankenhausaufenthalt pro Jahr mit 17 Prozent deutlich geringer als bei GKV-Versicherten (23 Prozent). Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen oder Pflegebedürftigkeit finden sich unter gesetzlich Versicherten wesentlich häufiger als bei Privatversicherten.«

Da sind wir bereits beim Kern der Argumentation der Bertelsmann-Stiftung angekommen, warum man über eine Auflösung des dualen Krankenversicherungssystems nachdenken sollte: „Der durchschnittliche GKV-Versicherte zahlt jedes Jahr mehr als nötig, damit sich Gutverdiener, Beamte und Selbstständige dem Solidarausgleich entziehen können. Das ist der Preis dafür, dass sich Deutschland als einziges Land in Europa ein duales Krankenversicherungssystem leistet“, so Stefan Etgeton von der Stiftung (vgl. auch das Interview „Privatversicherte handeln nicht unmoralisch“ mit ihm). Und Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, wird mit diesen Worten zitiert: „Nur wenn sich alle Versicherten unabhängig vom Einkommen zusammentun, um die Risiken zwischen Gesunden und Kranken auszugleichen, kann eine tragfähige Solidargemeinschaft entstehen. Die Aufspaltung der Krankenversicherung in einen gesetzlichen und einen privaten Zweig wird diesem Solidaranspruch nicht gerecht und schwächt den sozialen Zusammenhalt.“

Natürlich hat die angegriffene Seite sofort reagiert. Und sie zitiert gerne die zahlreichen Stimmen, die gegen die neue Studie ins Feld geführt werden können. Vgl. hierzu Gegenwind für Bertelsmann und Bürgerversicherung.

Aus einer rein pragmatischen Position heraus könnte man an dieser Stelle einen Schlussstrich ziehen und darauf hinweisen: Selbst wenn einem der Ansatz einer „integrierten Krankenversicherung“, einer „Bürgerversicherung“ oder wie man das immer auch nennen will, sympathisch daherkommt – die Wahrscheinlichkeit einer dafür notwendigen Durchbrechung der Trennlinien zwischen GKV und PKV ist angesichts der Einflussstärke der vom derzeitigen Trennsystem profitierenden Akteure (man denke hier an die Ärzte, die Beamten usw.) politisch eher gegen Null einzuschätzen.

Die PKV – trotz aller Beharrungskräfte ein Modell ohne Zukunft?

Kann es dennoch Argumente geben, die für ein absehbares Ende der PKV in ihrer heutigen Ausgestaltung zumindest hinsichtlich des Vollversicherungsschutzes (der aber nur für die eine Hälfte ein wirklicher Vollversicherungschutz ist, denn die andere Hälfte der privat Krankenversicherten sind Beamte und die haben lediglich eine Teilprivatversicherung, die aus Steuermitteln gespeist über die Beihilfe aufgestockt wird) sprechen könnten?

Wenn man in den Stellungnahmen und Kommentaren anlässlich der neuen Bertelsmann-Studie blättert, dann fällt einem dieser Beitrag in die Hände: Das Ende der privaten Krankenversicherung ist nah, so Herbert Fromme in der Süddeutschen Zeitung. Also dich? Aber wie und warum? Haben wir einen entscheidenden Hebel der Bürgerversicherungsritter übersehen?

Die Argumentation von Fromme geht so:

»Das baldige Ende der privaten Kranken-Vollversicherung (PKV) ist wahrscheinlich. Dafür sind vor allem zwei Faktoren verantwortlich: Erstens die ungleichen Wartezeiten bei Fachärzten, die zu großer Verärgerung bei Patienten von Techniker, AOK oder Barmer führen. Zweitens die niedrigen Zinsen, die das Geschäftsmodell der Privaten in Turbulenzen bringen.«

Interessant und bedenkenswert ist das zweite Argument von Fromme, das für die Typisierung der PKV als ein Auslaufmodell vorgetragen wird – denn es entspringt dem gegebenen PKV-System selbst:

»Die Entwicklung an den Kapitalmärkten ist der … Faktor, der das Ende der PKV herbeiführen dürfte. Die Privaten funktionieren nach dem Prinzip, dass Versicherte in jüngeren und meist gesünderen Jahren mehr zahlen als Arztbehandlungen oder Medikamente kosten. Die PKV-Gesellschaften legen das Geld an. Im Alter sind die Behandlungskosten höher als die Beiträge – dafür wird die angesparte Summe verwendet. Je niedriger die Zinsen sind, desto schwieriger wird es, die nötigen Erträge zu erwirtschaften.
Folglich müssen die Beiträge stark steigen, um die geforderten Reserven für das Alter aufzubauen. Der PKV-Verband ist stolz darauf, dass die Alterungsrückstellung aller PKV-Gesellschaften inzwischen 270 Milliarden Euro betragen. 2008 gab es 8,6 Millionen Privatversicherte, etwa so viele wie heute. Die Alterungsrückstellungen betrugen aber nur 134 Milliarden Euro. Die PKV-Versicherten mussten also in zwölf Jahren mit ihren Beiträgen die Summe verdoppeln, damit das System stabil bleibt. Bei weiterhin niedrigen Zinsen wird es keine zwölf Jahre bis zur nächsten Verdoppelung dauern.«

Auch wenn die heutige PKV untergehen sollte, wird sie in anderer Form bestehen bleiben

Auch wenn man der Argumentation von Fromme folgen kann, dass aufgrund der inneren Konstruktionsprinzipien das derzeit bestehende System mit einer Vollversicherung einer begrenzten Zahl von Menschen, um die dann auch noch fast 50 private Versicherungsunternehmen miteinander konkurrieren, in absehbarer Zeit kollabieren muss und der Vergangenheit angehören wird, sollte man sich nicht der Illusion (oder für manche Gemüter vielleicht sogar Hoffnung) hingeben, dass es dann nur noch ein System geben wird.

Dazu auch Bernd Hontschik, der in seinem Kommentar Allein unter Nachbarn: Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland von seiner Sympathie für eine Ablösung des bestehenden Trennsystems keinen Hehl macht. »In Deutschland können sich Menschen mit der privaten Krankenversicherung aus dem Solidarsystem verabschieden. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund.« Das ist die eine Seite. Er schreibt aber auch: »Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und der Beamtenbund malen das große Arztpraxissterben an die Wand, wenn den Ärzt*innen die privaten Einnahmen wegbrechen. Aber die ärztlichen Einkommen wären in keinerlei Gefahr, denn bislang Privatversicherte würden stattdessen sogleich entsprechende Zusatzversicherungen abschließen. Eine Illusion sollte man … nicht haben: Mit der Abschaffung der Zwei-Klassen-Krankenversicherung wird man die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin nicht erreichen.«

Und auch Herbert Fromme bilanziert am Ende seines Artikels – wieder mit Bezug auf das in der Öffentlichkeit immer gerne als Negativbeispiel zitierte längere Warten eines GKV-Versicherten auf einen Termin beim Arzt zum Vergleich zu den PKV-Versicherten:

»Wenn die private Vollversicherung über kurz oder lang verschwindet, werden die Privaten wohl vor allem Zusatzversicherungen anbieten. Wird dann das Problem des monatelangen Wartens gelöst sein? Eher nicht. Wer Geld und eine Zusatzdeckung hat, wird auch dann schneller einen Arzttermin bekommen.«

An dieser Stelle sollte man darauf verweisen, dass bereits heute der PKV-Verband neben 8,74 Mio. Versicherten mit einer Krankenvollversicherung bei einem der PKV-Unternehmen mehr als 26 Mio. Zusatzversicherungen ausweist? Das wird dann das Geschäftsfeld einer sicher deutlich kleineren Zahl an privaten Versicherungsunternehmen der Zukunft werden. Aber auch dann werden wir die von vielen Bürgerversicherungsanhängern kritisierte und skandalisierte Zwei-Klassen-Medizin vorfinden. Es sei denn, man verbietet die Klassengesellschaft.