Wenn einer eine Dienstreise macht – ist das dann Arbeitszeit? Die einen sagen nein, ein Gutachten meint ja

Viele kennen die Bilder aus den meist überfüllten Zügen der Deutschen Bahn oder den vollgestopften Kurzstreckenfliegern zwischen den deutschen Großstädten zu bestimmten Tageszeiten: Die Dienstreisenden sind unterwegs. Von Bonn oder München nach Berlin oder wohin auch immer. Und auch das ist sicher ein bekanntes Bild, das viele vor Augen haben: Da mag es einige geben, die ihre Fahrt verpennen oder Sudoku-Rätsel auf dem Tablet zu lösen versuchen – aber viele der Dienstreisenden leisten auf der Reise Dienst, sie arbeiten hochkonzentriert an ihren Geräten, sie erstellen Kalkulationen, schreiben und beantworten Mails und teilweise besonders engagierte und zugleich für Mitreisende in der Bahn nervtötende Exemplare führen ihre Einkaufs- und Verkaufsverhandlungen am Smartphone, so dass man als an sich Unbeteiligter im Anschluss vollständig informiert ist über die Preisgestaltung und die Margen im deutschen Schraubenhandel.

Nun könnte man an dieser Stelle auf die an sich naheliegende Idee kommen, dass in Anbetracht der volks- und vor allem betriebswirtschaftlichen Wertschöpfung, die viele Dienstreisende während der Reise zum eigentlichen Termin erbringen, die Dienstreise als Arbeitszeit bewertet und damit auch dem Arbeitnehmer gutgeschrieben werden muss. An dieser Stelle wird es dann aber kompliziert.

Versucht man sich schlau zu machen, wie es denn nun arbeitsrechtlich aussieht mit den Dienstreisen und der Arbeitszeit, dann stößt man beispielsweise auf solche Versuche der Auflösung: »Als Arbeitszeit wird in Deutschland gemäß Arbeitszeitgesetz der Zeitraum bezeichnet, in welchem ein Arbeitnehmer damit beschäftigt ist, die für gewöhnlich schriftlich im Arbeitsvertrag definierte Tätigkeit auszuüben … Wie ist es nun aber bestellt um die Arbeitszeit bei der Dienstreise? Das eigentliche Meeting ist ganz unumstritten zur Arbeitszeit zu zählen. Schwieriger wird es bei der Reisezeit. Handelt es sich hierbei um Freizeit und muss daher nicht vergütet werden oder ist das Gegenteil der Fall?«

Da müsse man genauer hinschauen, also »wie die konkrete Tätigkeit im Detail ausgestaltet ist und ob Reisen bei der Arbeitsausführung üblich sind oder eine Ausnahme darstellen. Wer als Vertreter beispielsweise regelmäßig außer Haus unterwegs ist, bei dem ist die Reisezeit eindeutig als Arbeitszeit zu betrachten. Gleiches gilt hinsichtlich der Arbeitszeitregelung bei Dienstreisen, wenn sie innerhalb der vereinbarten üblichen Arbeitszeit stattfindet.«

Nun wird man davon ausgehen können, dass sich mit dieser fundamentalen Frage des Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnisses auch schon die Arbeitsgerichte beschäftigt haben, bis hinauf zum Bundesarbeitsgericht. So war es auch und daraus wird dann so eine Schlussfolgerung gezogen: »Laut verschiedenen Urteilen des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) ist die im Rahmen einer Dienstreise aufgewendete Zeit für An- und Abreise unter folgender Voraussetzung als Arbeitszeit zu werten: Der Arbeitgeber ordnet dem Arbeitnehmer für eine etwaige Bahnfahrt ausdrücklich an, arbeitsbezogene Mail-Korrespondenzen oder Telefonate zu führen. In diesem Fall gilt das Arbeitszeitgesetz auch für die Dienstreise.«

Nun wird der eine oder andere einwerfen, dass das aus Sicht der Realität eine ziemlich hanebüchene Einschränkung ist, denn bei ganz vielen Dienstreisenden muss der Arbeitgeber nun wirklich keine ausdrückliche Anweisung geben, während der Dienstreise zu arbeiten – die machen das einfach.

Nun könnte man aus Arbeitnehmersicht Hoffnung schöpfen aus einer derart eindeutigen Formulierung: »Die Zeiten der An- und Abreise bei Dienstreisen haben rechtlich als Arbeitszeit zu gelten. Das stellt ein Gutachten für das HSI klar.« So beginnt ein Artikel, dessen Überschrift aufhorchen lässt: Dienstreisen sind Arbeit.

➔ „HSI“ steht für das Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeitsrecht. »Das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI) wurde am 29. April 2010 in Frankfurt am Main eröffnet, zunächst als Teil der Otto Brenner Stiftung. Seit dem 1. Januar 2018 bietet es unter dem Dach der Hans-Böckler-Stiftung Raum für nationale wie internationale arbeits- und sozialrechtliche Forschung.« So heißt es in der Selbstdarstellung des Instituts. Es handelt sich also um eine Einrichtung aus dem gewerkschaftlichen Umfeld.

Und dieses Institut hat nun ein neues Gutachten veröffentlicht, das sich mit dem Thema Dienstreisen explizit und auf mehr als 130 Seiten vertiefend beschäftigt:

➔ Ulrich Preis und Katharina Schwarz (2020): Dienstreisen als Rechtsproblem. HSI-Schriftenreihe Band 31, Frankfurt am Main 2020

Schauen wir wieder in den Bericht Dienstreisen sind Arbeit, in dem es um das neue Gutachten von Preis/Schwarz geht:

Offensichtlich kommen die beiden Rechtswissenschaftler zu einem eindeutigen Befund: »Dienstreisezeit – die Zeit, die mit der An- und Abreise zu Dienstgeschäften verbracht wird – ist demnach eindeutig als Arbeitszeit zu werten. Das heißt: Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig, sie zählt für die Wahrung der Höchstarbeitszeiten und Betriebsräte können in bestimmten Punkten mitbestimmen.« Die beiden Gutachten beziehen sich beispielsweise auf die Rechtsprechung des EuGH, konkret auf eine Entscheidung zum Thema Rufbereitschaft: »Die Europarichter betrachten bestimmte Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit. Die Begründung: Beschäftigte, die innerhalb weniger Minuten am Arbeitsplatz erscheinen müssen, seien räumlich und damit in der Möglichkeit eingeschränkt, sich ihren persönlichen und sozialen Interessen zu widmen.«

➔ Konkret geht es um diese Entscheidung: EuGH, 21.02.2018, C-518/15. Dazu auch der Beitrag Acht Minuten bis zum Ein­satz von Eva Stark.

Dienstliches Reisen dürfte nach diesem Verständnis eindeutig als Arbeit gelten: Schließlich sei der Arbeitnehmer beim Reisen in der Wahrnehmung seiner persönlichen und sozialen Interessen sogar noch stärker eingeschränkt als beim Bereitschaftsdienst, wo man sich immerhin zu Hause aufhalten kann, so Preis/Schwarz. Ähnlich argumentiert auch das Bundesarbeitsgericht (BAG), wenn es um die Vergütung von Dienstreisezeiten geht. Damit eine Tätigkeit als Arbeit gilt, komme es darauf an, dass der Arbeitnehmer „fremdbestimmt und fremdnützig auf Grundlage einer arbeitgeberseitigen Weisung handelt und eigenwirtschaftliche Tätigkeiten oder Freizeit dadurch ausgeschlossen sind“.«

Mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wird allerdings einschränkend darauf hingewiesen: »Damit die Schutzvorschriften des Arbeitszeitgesetzes greifen, ist es nach Ansicht der Richter erforderlich, dass zur Reisetätigkeit eine zusätzliche Belastung in Form einer „arbeitsspezifischen Tätigkeit“ kommt. Auch in Sachen Mitbestimmung urteilt das BAG restriktiv: Arbeit liege vor, wenn der Arbeitnehmer im Interesse des Arbeitgebers tätig wird und tatsächlich eine Arbeitsleistung erbringt. Für Dienstreisen gelte das nicht; dementsprechend könne der Betriebsrat hier nicht auf Mitsprache pochen.«

An dieser Stelle melden Ulrich Preis und Katharina Schwarz Widerspruch an: »„Dass die Reisetätigkeit bei der Dienstreise im Interesse des Arbeitgebers erfolgt, ist offenkundig.“ Auch die These des BAG, dass Arbeit Belastung voraussetze, halten sie für problematisch: Sie stehe im Widerspruch zur Haltung des EuGH, der maßgeblichen Instanz in arbeitsschutzrechtlichen Fragen. Abgesehen davon stelle „Belastung“ ein rechtsunsicheres, nämlich maximal subjektives Kriterium dar. Und selbst wenn die These des BAG zuträfe, müssten Dienstreisen als Arbeit gelten. Schließlich gehe jede Reise mit körperlichen Belastungen durch eingeschränkte Bewegungsfreiheit und langem Sitzen einher.«

Di Differenzierung des BAG zwischen einem vergütungsrechtlichen, einem arbeitszeitrechtlichen und einem mitbestimmungsrechtlichen Arbeitszeitbegriff würde zu „Verwirrung und Unsicherheit“ führen, so die beiden Gutachter. Sie schlagen folgenden vereinfachenden und einheitliche Definition vor:

„Die unselbstständige fremdbestimmte, fremdnützige, weisungsgebundene und in der Regel räumlich begrenzte Tätigkeit ist abhängige Arbeit – die Zeit, während der der Arbeitnehmer einer solchen Tätigkeit nachgeht, ist arbeitsrechtliche Arbeitszeit.“

Das hätte Folgen: Dienstreisezeiten seien damit grundsätzlich vergütungspflichtig. Aber natürlich gibt es hier auch ein Aber: wenn nichts anderes vereinbart wurde. Per Arbeits- oder Tarifvertrag könne beispielsweise festgelegt werden, dass Dienstreisezeiten mit dem Lohn pauschal abgegolten sind. Dem sind allerdings Grenzen gesetzt, auf die hingewiesen wird: »Wenn man diese Zeiten zur regulären Arbeitszeit hinzurechnet, darf der Mindestlohn nicht unterschritten werden. Zudem dürfe die Summe der abgegoltenen Reisezeiten außerhalb der regulären Arbeitszeit nicht mehr als 12,5 Prozent der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit betragen.«

Wohlgemerkt – das ist ein Vorschlag der beiden Gutachter und man darf gespannt sein, ob ihre Sicht der Dinge Eingang finden wird in die Rechtsprechung oder rechtspolitisch aufgegriffen wird. Man kann sich gut vorstellen, dass die Arbeitgeber-Seite not amused sein würde.