Von der Debatte zur Realität: Das Instrument der Wohnsitzauflage für Flüchtlinge und die vor Jahren bereits vorgetragene Skepsis hinsichtlich der Auswirkungen auf die Integration in den Arbeitsmarkt

Vor gut vier Jahren wurde in diesem Blog inmitten des zu dieser Zeit alles beherrschenden Themas Flüchtlinge dieser Beitrag veröffentlicht: Soll man oder soll man nicht? Und wenn ja, wie? Zur aktuellen Debatte über eine Wohnsitzauflage für Flüchtlinge. Nicht nur in Deutschland. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte angekündigt, eine „Integrationsgesetz“ vorzulegen und ein Bestandteil dieses Gesetzes sollte „eine Wohnsitzauflage für Flüchtlinge, um die Integration zu erleichtern“ sein. Der Minister sagte, er wolle Ghetto-Bildung vermeiden: „Deswegen wollen wir regeln, dass auch anerkannte Flüchtlinge – jedenfalls solange sie keinen Arbeitsplatz haben, der ihren Lebensunterhalt sichert – sich an dem Ort aufhalten, wo wir das als Staat für richtig halten, und nicht, wo der Flüchtling das für richtig hält.“ Und des gab damals durchaus parteiübegreifend Zustimmung für diesen restriktiven Teil eines Integrationsgesetzes.

Das überrascht auch nicht angesichts der Zeile bzw. Hoffnungen, die man mit so einem Eingriff verbunden hat. Eine der Hauptargumentationslinien ging so:
Verhinderung von Ghettobildung und Erleichterung der Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft: Studien hätten gezeigt, dass eine hohe ethnische Konzentration in gewissen Gebieten zu einem geringeren oder jedenfalls langsameren Erlernen der Landessprache führt. Ein Umstand, der sich negativ auf spätere Arbeitsmarktchancen auswirkt. Auch sonstige Integrationsaufgaben wie etwa die Wertevermittlung – z. B. die Einstellung zur Erwerbstätigkeit von Frauen – wären wohl schwieriger, auch deswegen, weil viele ehrenamtliche Strukturen, die häufig im ländlichen Raum angeboten werden, nicht gut genutzt werden können.

Das klingt bei einer ersten Inaugenscheinnahme plausibel. Aber bereits damals wurden auch kritische Fragen und skeptische Anmerkungen vorgetragen.

So hatte beispielsweise der damalige BA-Chef Frank-Jürgen Weise die folgenden Zweifel angemeldet: Die optimale Allokation von Arbeit – also der Arbeitsmarktausgleich – wird möglicherweise behindert: »Eine Wohnsitzbindung beschränkt die Jobsuche der Geflüchteten in anderen Bundesländern. Nachdem die Verteilung der Asylsuchenden auf vielen verschiedenen Faktoren wie z. B. auch der Frage des verfügbaren Wohnraums basiert, ist eine Verteilung auch auf ländliche Regionen mit schlechter Verkehrsanbindung und geringen Jobchancen häufig. Ein gezwungenes Verbleiben in solchen Regionen ist ebenfalls arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv.« Mit einer Wohnsitzauflage kann eine weitere mögliche negative Auswirkung verbunden sein: Die Behinderung persönlicher Netzwerke: »Persönliche Netzwerke leisten auch innerhalb ethnischer Communitys Unterstützungsarbeit zur Förderung des Zugangs zu Bildung und Arbeitsmarktpartizipation, dies gilt besonders in Netzwerken mit höherem Bildungsniveau.« Dieser Aspekt wurde 2016 mit diesen Daten hervorgehoben: Laut Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit haben in der Vergangenheit mehr als 60 Prozent der Flüchtlinge ihre erste Stelle in Deutschland durch persönliche Netzwerke gefunden. Auch seien die Beschäftigungsquoten von anerkannten Flüchtlingen aktuell in den Städten höher als auf dem Land.

Mit dem Integrationsgesetz wurde in Deutschland im Jahr 2016 eine Wohnsitzauflage für Geflüchtete mit einem anerkannten Schutzstatus eingeführt, die den Wohnsitzwechsel über die Grenzen von Bundesländern einschränkt. Ein Teil der Bundesländer wendet diese Wohnsitzauflage darüber hinaus auch kleinräumig an, also auf der Ebene von Kreisen, kreisfreien Städten und Gemeinden.

Die Wirkungen von Wohnsitzauflagen sind umstritten: Die einen erwarten von einer gleichmäßigen Verteilung der Geflüchteten und einer Verringerung der räumlichen Konzentration bessere Integrationschancen in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft. Die anderen vermuten, dass die Informations- und Suchkosten steigen und insbesondere Personen, die auf strukturschwache Regionen verteilt wurden, schlechtere Integrationschancen haben.

Nun sind wir einige Jahre weiter und es bietet sich an, der Frage nachzugehen, ob sich diese bereits 2016 diskutierten Mutmaßungen (nicht) bestätigt haben. Dazu gibt es jetzt Untersuchungsbefunde, die von Wissenschaftlern des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit präsentiert werden. Die haben auf Grundlage der IAB- BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten analysiert, wie sich regionale Wohnsitzauflagen auf die Erwerbstätigkeit der Betroffenen, den Erwerb von Deutschkenntnissen und die Unterbringung in privaten Wohnungen auswirken. Berits der Titel ihrer Veröffentlichung gibt eine erste Antwort:

➔ Herbert Brücker, Andreas Hauptmann und Philipp Jaschke (2020): Beschränkungen der Wohnortwahl für anerkannte Geflüchtete: Wohnsitzauflagen reduzieren die Chancen auf
Arbeitsmarktintegration
. IAB-Kurzbericht Nr. 3/2020

Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen werden Geflüchtete mit einer Wohnsitzauflage für weitere drei Jahre ab dem Datum der Anerkennung ihrer Schutzanträge belegt (§ 12a AufenthG).

➞ Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen erläutern Brücker et al. (2020): Schutzsuchende werden in Deutschland nach ihrer Ankunft räumlich verteilt. Die Verteilung über die 16 Bundesländer erfolgt nach dem sogenannten „Königsteiner Schlüssel“, der sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl richtet. Asylbewerber sind bis zum Abschluss der Asylverfahren grundsätzlich verpflichtet, ihren Wohnsitz in den (Erst­)Aufnahmeeinrichtungen zu nehmen, in die sie zugewiesen wurden. Diese Verpflichtung erlischt nach 18 Monaten beziehungsweise bei Eltern mit minderjährigen Kindern nach sechs Monaten (§ 47 AsylG). Auch danach wird der Wohnsitz von den zuständigen Behörden zugewiesen (§ 60 AsylG), in der Regel soll er in einer Gemeinschaftsunterkunft genommen werden (§ 53 AsylG). Im Allgemeinen gilt die Wohnsitzauflage automatisch für das Bundesland, in das die Person nach ihrer Ankunft in Deutschland zugewiesen wurde. Darüber hinaus kann Personen gemäß § 12a Abs. 3 AufenthG ein Wohnort innerhalb des Bundeslandes, etwa in einem bestimmten Kreis, einer kreisfreien Stadt oder einer Gemeinde zugewiesen werden (im Folgenden: „regionale Wohnsitzauflage“). Die Wohnsitzauflage wird für die betroffenen Personen üblicherweise für den Wohnort erlassen, in den sie bereits vor der Anerkennung des Asylantrags zugewiesen wurden.3 De facto führt die Wohnsitzauflage für anerkannte Geflüchtete demnach zu einer Verlängerung der räumlichen Ausgangsverteilung. Nach § 12a Abs. 4 AufenthG besteht auch die Möglichkeit der „negativen Wohnsitzauflage“, wonach bestimmte Kreise oder Gemeinden von der Wohnsitznahme ausgeschlossen werden.

Mit der Wohnsitzauflage ist die Hoffnung verbunden, man könne dadurch eine „integrationshemmende Segregation“ vermeiden. Das korrespondiert mit den in der öffentlichen Diskussion immer wieder vorgetragenen Sorgen über die Entstehung von Paral­lelgesellschaften, Ghettoisierung und Verdrängungseffekte auf dem Arbeits­- und Wohnungsmarkt als Folge hoher räumlicher Konzentration von Geflüchteten und anderen Ausländergruppen. Eine (mögliche) Erfahrung, die ja nun nicht wirklich nur theoretischer Natur ist.

»Aus Sicht der Arbeitsmarktforschung sind die Auswirkungen auf die Integration in den Arbeitsmarkt hingegen ambivalent: Auf der einen Seite können Wohnsitzauflagen aufgrund der Beschränkung der räumlichen Mobilität die Informations­ und Suchkosten auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Dies kann zu einer längeren Dauer der Arbeitsuche sowie zu geringeren Beschäftigungsquoten und Verdiensten führen, weil die Wahrscheinlichkeit und die Qualität des sogenannten Matches zwischen Arbeitsuchenden und Arbeitsplätzen sinken kann. Außerdem siedeln sich Migrantinnen und Migranten oft in Ballungsräumen mit diversifizierten Arbeitsmärkten, überdurchschnittlich hohen Löhnen und günstigen Beschäftigungsaussichten an. Eine Konzentration auf prosperierende Räume kann im Vergleich zu einer gleichmäßigen Verteilung über das Land zu erheblichen Wohlfahrtsgewinnen führen«, so Brücker et al. (2020, S. 3 f.)

Allerdings: »Auf der anderen Seite kann eine starke Konzentration der gleichen ethnischen Gruppe aber auch Nachteile für die Integration haben: So können die Anreize sinken, in Sprachkenntnisse und andere Formen von länderspezifischem Humankapital zu investieren … Auch kann mit steigender ko­ethnischer Konzentration die Zahl der Kontakte zur einheimischen Bevölkerung abnehmen, die möglicherweise über mehr integra­ tionsrelevante Ressourcen als die eigene ethnische Gruppe verfügt. Beides kann die Chancen zur In- tegration in den Arbeitsmarkt, das Bildungssystem und andere gesellschaftliche Bereiche reduzieren.«

Soweit die Ausgangslage, die auch schon 2016 aufgerufen wurde. Zu berücksichtigen wäre bei einer empirischen Überprüfungen der Mutmaßungen: »Wenn die Geflüchteten überdurchschnittlich oft in strukturschwachen Regionen angesiedelt sind, dürfte eine Wohnsitzauflage – die den Status quo verfestigt – ungünstigere Auswirkungen haben, als wenn sie überdurchschnittlich oft in strukturstarken Regionen wohnen. Bei der Verteilung der Geflüchteten über die Städte und Gemeinden wurden ökonomische Kriterien wie die regionale Arbeitsmarktlage nur bedingt berücksichtigt.« (Brücker et al. 2020, S. 5).

Insgesamt ist festzustellen, dass Geflüchtete häufiger – relativ zur Gesamtbevölkerung – in Kreisen und kreisfreien Städten mit einer höheren Arbeitslosenquote wohnen. Betrachtet man zum Vergleich die Gruppe der Zuwanderer aus EU-Staaten, die bei der Personenfreizügigkeit keinerlei räumlichen oder anderen Beschränkungen beim Zuzug unterliegen, dann zeigt sich: Die Zuwanderer aus anderen EU-Staaten haben sich offenbar, anders als die Geflüchteten, überdurchschnittlich oft in Regionen mit günstigen Arbeitsmarktbedingungen niedergelassen.

Und was ist rausgekommen?

»Die Schätzergebnisse zeigen, dass die Beschäftigungswahrscheinlichkeit von Personen, die zum Befragungszeitpunkt einer regionalen Wohnsitzauflage unterliegen, geringer ist als von Personen, für die das nicht zutrifft. Dabei wurden auch die Aufenthaltsdauer und die Dauer seit der Beendigung des Asylverfahrens sowie zahlreiche individuelle und regionale Faktoren berücksichtigt, die die Beschäftigungswahrscheinlichkeit beeinflussen können. «

»Auch sprechen die Befunde dafür, dass Geflüchtete, die einer regionalen Wohnsitzauflage unterliegen – gemessen an der dezentralen Unterbringung im Vergleich zu einer Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften – eine weniger gute Wohnraumversorgung haben als jene, die dieser Beschränkung nicht unterliegen.
Demgegenüber zeigt sich kein oder kein eindeutiger Zusammenhang mit dem Niveau der deutschen Sprachkenntnisse und der Teilnahme an Integrationskursen.«

Fazit der IAB-Wissenschaftler: »Die bisherigen Ergebnisse sprechen nicht dafür, dass das Ziel des Gesetzes, die Integrationschancen von Geflüchteten durch die Einführung der Wohnsitzauflagen zu verbessern, tatsächlich erreicht wurden. Im Hinblick auf die Arbeitsmarktintegration und die dezentrale Unterbringung außerhalb von Gemeinschaftsunterkünften ist nach den Schätzergebnissen eher das Gegenteil der Fall.«