In der Hauptstadt sind die Auftragsbücher der Baufirmen so voll, dass private und öffentliche Bauherren gleichermaßen beklagen, niemanden zu finden, der ihnen die Schulen, Wohnungen und Bürogebäude baut oder saniert. Alles andere würde einen ja auch überraschen angesichts des seit Jahren anhaltenden Baubooms.
Und dann berichten die Baubetriebe in Berlin das hier: »Rund zehn Prozent von ihnen haben an die Sozialkassen des Berliner Baugewerbes gemeldet, dass ihre arbeitszeitliche Auslastung im Jahr 2019 bei unter 25 Prozent lag. Weitere 21 Prozent gaben die Auslastung mit lediglich 25 bis 50 Prozent, genauso viele mit 50 bis 75 Prozent an.«
Isabell Jürgens liefert uns in ihrem Artikel Berliner Baustellen: Jeder zweite Euro wird schwarz verdient einen Erklärungsansatz, womit wir es hier wirklich zu tun haben: „Das ist ein klares Indiz für Schattenwirtschaft, für schwarz geleistete Arbeitsstunden“. Mit diesen Worten wird Manja Schreiner, Hauptgeschäftsführerin der Fachgemeinschaft (FG) Bau, zitiert. „Wenn Betriebe angeben, dass sie eine Auslastung von unter 25 Prozent haben, ist das völliger Quatsch. Das würde ja bedeuten, dass sie nach zwei oder drei Stunden auf der Baustelle nach Hause gehen“, so Manja Schreiner weiter. Diese Vorstellung sei „völlig abstrus“, Teilzeit-Beschäftigungsverhältnisse seien auf Baustellen äußert ungewöhnlich.
Von den insgesamt 2.255 Berliner Baubetrieben mit zusammen 19.270 gewerblich Beschäftigten (Stand September 2019) erfüllen lediglich 480 die Weißbuchkriterien der Sozialkasse. Dieses Weißbuch hat eine ganz handfeste Funktion und ist nicht nur ein Zahlenfriedhof, denn: Im Weißbuch können sich Bauherren vor der Auftragsvergabe über die Qualität der Baubetriebe objektiv informieren.
Nicht ohne Grund spricht man mit Blick auf die Realitäten im Baugewerbe vom Wilden Westen. »Nur 14 Prozent der Betriebe geben dagegen an, dass sie zu 100 Prozent ausgelastet sind. „Das sind die seriösen Betrieb“, so die Chefin der Fachgemeinschaft Bau. Betriebe, die zu wenig Arbeitsstunden, zu wenig qualifizierte Arbeitnehmer melden oder ihre Beschäftigten überhaupt nicht melden, verschafften sich rechtswidrige Wettbewerbsvorteile.«
Es gibt noch weitere Indizien für Schwarzarbeit: „Jeder Bauunternehmer muss bei der Sozialkasse angeben, wie viele Mitarbeiter auf der Baustelle beschäftigt sind, und wieviel Bruttolohn ausgezahlt wird“, so Manja Schreiner. Daran lasse sich ablesen, wie viele Facharbeiter und wie viele Hilfskräfte auf der Baustelle beschäftigt seien. „Angesichts der heutigen hohen Anforderungen am Bau ist eine Facharbeiterquote von mindestens 50 Prozent als realistisch anzusehen“, so Schreiner weiter. Wenn angeblich überwiegend Hilfsarbeiter auf der Baustelle beschäftigt würden, sei dies ebenfalls ein deutliches Indiz dafür, dass an der Lohnsumme gespart werden soll.
Und hier geht es wahrlich nicht um Peanuts: »Allein für die Sozialkasse beläuft sich der Schaden aus nicht den abgeführten Beiträgen im Zeitraum von 2014 bis 2018 auf 94,5 Millionen Euro – Geld, das etwa zur Absicherung der Zusatzrenten für die Beschäftigten am Bau und Ausbildung in der Branche fehlt. Rechnet man die nicht gezahlten Sozialversicherungsbeiträge (147 Millionen Euro), Steuern (31 Millionen) sowie sonstige Abgaben (29 Millionen Euro) hinzu, beläuft sich der Schaden durch die Schwarzarbeit am Bau auf rund 300 Millionen Euro«, so Isabell Jürgens in ihrem Artikel.
Was kann man tun? Baustellen mehr kontrollieren, so die eine Antwort, die Isabell Jürgens in ihrem Kommentar präsentiert: »Was nützt es, wenn Berlin den Mindestlohn für Unternehmen, die Aufträge vom Land annehmen, immer weiter anhebt, dann aber bei der Auftragsvergabe oder auf den Baustellen gar nicht kontrolliert wird, ob sich die Firmen auch an die Tarifvereinbarungen für die jeweiligen Branchen halten? Die öffentliche Hand ist da gefordert, Abhilfe zu schaffen. Die Verwaltung sollte vor der Erteilung des Zuschlags zumindest überprüfen, ob das, was da auf den Papieren steht, überhaupt plausibel sein kann. Denn Teilzeitarbeit etwa in der Essensausgabe einer Schulmensa klingt logisch – auf einer Baustelle, wo sogar sonnabends gearbeitet wird, aber eher nicht. Doch bislang haben die schwarzen Schafe am Bau, die ihre Mitarbeiter vormittags anmelden und am Nachmittag schwarz arbeiten lassen, wenig zu befürchten. Eine Überprüfung der Bieter durch die Verwaltung findet kaum statt, und Kontrollen durch den Zoll sind aufgrund von Personalmangel genauso selten. Das muss sich ändern, damit sich nicht einige Wettbewerbsvorteile auf Kosten der ehrlichen Betriebe – und zulasten ihrer Mitarbeiter – verschaffen.«
Eine weitere Möglichkeit lässt ein interessantes Berufsbild in Umrissen erkennen, über das Alfons Frese in seinem Artikel Den Schwarzarbeitern auf der Spur bereits am 23. April 2019 berichtet hat: die Baustellenläufer. Die Fachgemeinschaft Bau Berlin-Brandenburg hat zwei von ihnen – seit fünfzehn Jahren. Die Männer seien wie „Detektive“ unterwegs und beobachten und recherchieren rund um bestimmte Baustellen. Ihre Kenntnisse reichten sie dann an den Zoll weiter, der dann die Ermittlungen aufnimmt. Alfons Frese hat deren konkrete Arbeit so beschrieben:
»Robert Kramer fährt auf kleinen Umwegen den Tatort an. Wo ist die Sicht gut, wo kann er einigermaßen unauffällig parken und unbemerkt Fotos schießen. Kramer sucht Schwarzarbeiter auf Berliner Baustellen. An diesem Vormittag ist er im Wedding unterwegs. „Ein Verdacht liegt vor, wenn Autos ohne Firmennamen oder -logo vor der Baustelle stehen“, erläutert der Kontrolleur. So wie hier. Ein paar Arbeiter dämmen eine Fassade. Kramer fährt langsam an dem Haus vorbei und schießt durch die getönten Scheiben Fotos von Autos und Arbeitern. Auch am Gerüst hängt kein Hinweis auf eine Baufirma. Ein weiterer Anhaltspunkt für Schwarzarbeit: Autos mit osteuropäischen Kennzeichen. Und wenn das Gerüst mangelhaft ist und die Arbeiter keine professionelle Schutzkleidung tragen, deutet das ebenfalls auf illegale Beschäftigung hin … Kramer hat in Berlin Stahl- und Betonbauer gelernt und sich dann zum Polier hochgearbeitet. Seit 2004 ist er fest angestellter Baustellenläufer der Fachgemeinschaft. Der Begriff ist etwas schief, denn Kramer läuft nicht, sondern überwacht überwiegend aus dem Auto heraus. Gut 100 verdächtige Baustellen meldet er jedes Jahr dem Zoll, der dann idealerweise anrückt und die Schwarzarbeit hochgehen lässt.«
Aber die Baustellenläufer können nur einen Verdacht auf der Basis ihrer Beobachtungen an den zuständigen Zoll melden und hoffen, dass die Behörde tätig wird. Aber: »… ob die Hand sich rührt, ist fraglich. Für Christian Stephan von der Berliner IG BAU ist das Kontrollsystem „löchrig wie ein Käse“. Der Zoll sei eine Behörde, die sich mit Erfolgsmeldungen in der Öffentlichkeit gut zu verkaufen suche, aber in Wirklichkeit viel zu wenig kontrolliere.«
Das verweist dann wieder auf das strukturelle Problem der Unterausstattung der Kontrollbehörden – aber auch auf eine strukturell bedingte Asymmetrie innerhalb der Branche zuungunsten der Betriebe, die sich a) an die Regeln halten (wollen) und b) die Beschäftigten zu den hiesigen Bedingungen vergüten. Trotz partieller Verbesserungen durch die neue EU-Entsenderichtlinie wird es im Baubereich besonders relevant weiterhin teilweise erhebliche Kostenvorteile für ausländische Bauunternehmen geben (oder im Ausland gegründete Ableger hiesiger Bauunternehmen), wie in diesem Beitrag vom 27. November 2019 beschrieben: EU-Entsenderichtlinie: Etwas weniger Lohndumping – und die weiterhin offene Flanke Sozialdumping im Baubereich. Da setzt ein slowenisches Geschäftsmodell an, das über Brüssel gestoppt werden soll.