Die Unsichtbaren in Büros und Werkhallen kommen für einen Moment in das Lichtfeld der Berichterstattung: Die Gebäudereiniger, ein Tarifabschluss und was das Bundesarbeitsgericht damit zu tun hat

Sie kommen, wenn die meisten Arbeitnehmer in den Feierabend gegangen sind. Oder bevor sie mit der Arbeit in Büros und Werkhallen anfangen. Die Rede ist von der Schattenarmee der Gebäudereiniger. Überwiegend sind es Frauen, oft mit einem Migrationshintergrund. Und sie halten in einer beeindruckenden Größenordnung den Laden überall am Laufen, denn die Zahl der Beschäftigten umfasst eine ganze Großstadt, mehr als 650.000 Arbeitnehmer sind es derzeit, die hier ihren Lebensunterhalt (oder zumindest einen Teil davon) verdienen.

In den vergangenen Wochen sind wir konfrontiert worden mit einzelnen Aktionen der Arbeitsverweigerung der ansonsten im Hintergrund agierenden Unsichtbaren. Die zuständige Gewerkschaft, die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), hatte zu Streikaktionen aufgerufen. Hier und da gab es dann auch Warnstreiks. Die Medien berichteten. Gebäudereiniger streiken an Flughäfen, um nur eines der vielen Beispiel aufzurufen. Da ging es auch um den Frankfurter Flughafen. Und aus den Reihen der dort arbeitenden Reinigungskräfte finden wir diesen O-Ton zu ihrer Arbeits- und Lebenswelt in dem Artikel Arbeitskampf aus einem ungewöhnlichen Anlass von Falk Heunemann:

»Normalerweise bricht Senka Petrovic kurz nach fünf Uhr in Offenbach auf, sie setzt sich in die S-Bahn, fährt zum Flughafen und beginnt dort um Punkt sechs Uhr mit der Arbeit. Die Kroatin und ihre Kolleginnen putzen die Büros in der Lufthansa-Zentrale, Küchen, oder bei Ringeltaube, dem Supermarkt für Fluglinien-Angestellte. Täglich von sechs bis kurz vor 15 Uhr. Doch gestern stieg Petrovic schon in der Frankfurter Innenstadt aus und ging zum Gewerkschaftshaus, um dort mit ihren Kolleginnen in den Warnstreik zu treten. Die IG Bau hatte die Beschäftigten der Putzfirmen Piepenbrock und der Wisag-Tochter ASG am Flughafen dazu aufgerufen. „Die wollen uns den Urlaub nehmen“, glaubt Petrovic, und meint die gesamte Branche. Sie wünsche sich Weihnachtsgeld, sagt die Mutter einer Tochter. Viele ihrer Kolleginnen seien Teilzeitkräfte, die sollten einen Zuschlag bei Überstunden erhalten. „Und ein Jobticket wäre auch schön.“ Knapp 140 Euro kostet sie ein Monatsticket von Offenbach zum Flughafen, ein Zehntel des Monatslohns.«

Offensichtlich kommen da ganz unterschiedliche Aspekte zusammen, so dass die normale Annahme, es handelt sich um eine Tarifauseinandersetzung um mehr Lohn, irgendwie nicht stimmen kann. Tatsächlich war der Konflikt, der nun durch einen Abschluss beendet wurde, anders angelegt, komplizierter, denn es ging nicht um einen neuen Lohntarifvertrag, der aktuelle wurde 2017 von beiden Seiten unterschrieben und läuft bis Ende 2020. Tatsächlich sind Gewerkschaft und Arbeitgeber vielmehr für einen neuen Rahmentarifvertrag in den Ring gestiegen. Dazu Falk Heunemann:

»Ausgelöst wurde der Konflikt vom Bundesarbeitsgericht. Das Gericht in Erfurt hatte im Dezember geurteilt, dass auch Teilzeitbeschäftigte einen Anspruch auf Mehrarbeitzuschläge haben, wenn sie Überstunden leisten. Damit war eine Regelung des Rahmentarifvertrags ungültig, wonach nur Vollzeitangestellte Anspruch darauf haben. Diese Regelung entsprach der früheren Rechtsprechung des Gerichts.«

Dazu von der Arbeitgeberseite: Noch am 7. Oktober 2019 äußerte sich Thomas Dietrich, der Präsident des Bundesinnungsverbandes des Gebäudereiniger-Handwerks (BIV), in einem Interview (Tarifstreit und Arbeitskräftemangel beschäftigen die Gebäudereiniger) so:

»Wir mussten den alten Tarifvertrag wegen eines aktuellen Urteils des Bundesarbeitsgerichts kündigen. Das Gericht hat seine seit Jahrzehnten geltende Rechtsauffassung überraschend verworfen. Das Urteil besagt, dass Zuschläge für Mehrarbeit nicht nur für Vollzeit-, sondern auch für Teilzeitkräfte gelten. Das ist weder gerecht noch finanzierbar.« Und dann kommt ein „beeindruckendes“ Rechenbeispiel, das man erst einmal sacken lassen muss: »Es würde zum Beispiel bedeuten, dass jemand, der regulär pro Tag nur zwei Stunden arbeitet, für die dritte Stunde einen Zuschlag von 25 Prozent bekäme, die Vollzeitkollegen dagegen nicht. Ist das fair? Nein!«

Offensichtlich – um an dieser Stelle den Hintergrund zu vertiefen – hat also das Bundesarbeitsgericht (BAG) hier den Anstoß für einen Tarifkonflikt gegeben. Konkret handelt es sich um BAG, Urteil vom 19.12.2018, 10 AZR 231/18. Unter der Überschrift Mehrarbeitszuschläge bei Teilzeitarbeit gab es diese Information seitens des Gerichts zum damaligen Sachverhalt:

»Die Klägerin ist bei der Beklagten als stellvertretende Filialleiterin in Teilzeit tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für die Systemgastronomie Anwendung. Er regelt ua. Mehrarbeitszuschläge und erlaubt es, wie im Fall der Klägerin eine Jahresarbeitszeit festzulegen. Für den nach Ablauf des Zwölfmonatszeitraums bestehenden Zeitsaldo hat die Beklagte die Grundvergütung geleistet. Sie hat dagegen keine Mehrarbeitszuschläge gewährt, weil die Arbeitszeit der Klägerin nicht die einer Vollzeittätigkeit überschritt. Die Klägerin verlangt Mehrarbeitszuschläge für die Arbeitszeit, die über die vereinbarte Arbeitszeit hinausging.«

Eine solche Regelung gibt bzw. gab es auch Manteltarifvertrag der Gebäudereiniger. Und das Bundesarbeitsgericht hat nun an dem geschilderten Fall eine veritable Kehrtwende der eigenen bisherigen Rechtsprechung hingelegt, also zumindest der des 10. Senats: »Die Auslegung des Tarifvertrags ergibt, dass Teilzeitbeschäftigte mit vereinbarter Jahresarbeitszeit einen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge für die Arbeitszeit haben, die über ihre individuell festgelegte Arbeitszeit hinausgeht. Diese Auslegung entspricht höherrangigem Recht. Sie ist mit § 4 Abs. 1 TzBfG vereinbar. Zu vergleichen sind die einzelnen Entgeltbestandteile, nicht die Gesamtvergütung. Teilzeitbeschäftigte würden benachteiligt, wenn die Zahl der Arbeitsstunden, von der an ein Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung entsteht, nicht proportional zu ihrer vereinbarten Arbeitszeit vermindert würde.« Die Kehrtwende wird vom BAG selbst erwähnt: »Der Zehnte Senat gibt seine gegenläufige Ansicht auf (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 -). Er schließt sich der Auffassung des Sechsten Senats an (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – BAGE 158, 360).«

Vor dem Hintergrund der Klarheit des Urteils aus dem Dezember 2018 wird dann auch schnell erkennbar, dass die ursprüngliche Strategie der Arbeitgeberseite bei den Gebäudereinigern spätestens vor Gericht wieder kassiert worden wäre:

»Im Prinzip wollen die Arbeitgeber dennoch weiter an der Vollzeitregelung festhalten: Man habe nun einen „Belastungszuschlag“ von 25 Prozent angeboten, sagt Johannes Bungart, Geschäftsführer des Bundesinnungsverbandes. Dieser Zuschlag solle aber erst bei „Überschreitung der 8. Arbeitsstunde am Tag für Vollzeit- sowie Teilzeitbeschäftigte“ gezahlt werden. Teilzeitkräfte würden ihn also nur dann kassieren, wenn sie zum Beispiel an zwei von fünf Tagen Vollzeit arbeiten und dann länger als acht Stunden tätig sind. Acht Stunden ist die gesetzliche Obergrenze für die Arbeitszeit, sie darf nur in Ausnahmefällen überschritten werden«, berichtet Falk Heunemann in seinem Artikel.

Aber nun gibt es ja eine Auflösung des Tarifkonflikts: »Beschäftigte in der Gebäudereinigung erhalten künftig höhere Lohnzuschläge und mehr Urlaub. Bei einem der wichtigsten Punkte im Tarifstreit mussten die Arbeitnehmer aber einen Kompromiss eingehen«, so diese Meldung dazu: Gebäudereiniger und Arbeitgeber einigen sich. »Vereinbart worden seien unter anderem eine bessere Überstundenvergütung sowie höhere Zuschläge für Arbeit in der Nacht sowie an Sonn- und Feiertagen. Außerdem soll es ab 2021 für alle Beschäftigten einen einheitlichen Urlaub von 30 Tagen auf Vollzeitbasis geben – egal, wie lange die Beschäftigten schon in der Branche tätig sind.« Ausgehend von den ursprünglichen Forderungen der Gewerkschaft gibt es eine bereits angedeutete Abweichung, die lässt sich der folgenden Formulierung entnehmen: »Festgeschrieben wurde laut der Gewerkschaft auch ein Weihnachtsbonus: Alle Beschäftigten sollen in diesem und im kommenden Jahr Heiligabend oder wahlweise den Silvestertag als bezahlten Arbeitstag frei bekommen – wer arbeitet, erhält für diesen Tag einen 150-prozentigen Lohnzuschlag.« Das ist etwas anderes als die ursprüngliche Forderung nach einem Weihnachtsgeld, also quasi einem 13. Monatslohn.

Der „Weihnachts-Bonus“ als Kompromiss: »Über eine darüber hinausgehende Gratifikation zum Jahresende wollen die Tarifparteien bei den Lohntarifverhandlungen im kommenden Jahr sprechen«, so die IG BAU in ihrer Pressemitteilung zum Tarifabschluss, die unter der Überschrift Höhere Lohn-Zuschläge – mehr Urlaub. Neuer Rahmentarifvertrag für 650.000 Gebäudereiniger steht veröffentlicht wurde.

Aber wir müssen genauer hinschauen. Was sagen die Arbeitgeber? »Besonders wichtig ist uns, dass wir das Urteil des Bundesarbeitsgerichts integriert haben. Alle Beschäftigten erhalten künftig einen Belastungszuschlag von 25 Prozent ab Überschreitung der 8. Arbeitsstunde am Tag. Das Weihnachtsgeld/13. Monatsgehalt wird, wie von uns seit langem vorgeschlagen, Verhandlungsgegenstand in der anstehenden Lohnrunde 2020 werden.« So der Bundesinnungsverband unter der Überschrift Rahmentarifabschluss im Gebäudereiniger-Handwerk: „Arbeitgeber haben Wort gehalten“. Wieso Wort gehalten? Die hatten doch was anderes gefordert?

Bekommen die vielen in Teilzeit arbeitenden Reinigungskräfte nun einen Mehrarbeitszuschlag, wenn sie über der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit schaffen? Dazu die Gewerkschaft, die muss das ja eigentlich als großen Erfolg herausstellen:

»So sollen Teilzeitbeschäftigte, die über fünf Monate hinweg kontinuierlich ein Überstundenpensum von mindestens 15 Prozent leisten, einen Anspruch darauf bekommen, dass ihr Arbeitsvertrag auf die tatsächlich geleistete, höhere Wochenstundenzahl angepasst wird. Für Überstunden wird künftig ab der neunten Arbeitsstunde ein Belastungszuschlag von 25 Prozent vom Stundenlohn bezahlt.«

Auch hier – wie bei den Arbeitgebern – der Hinweis auf einen Überstundenzuschlag ab der neunten Arbeitsstunde, pro Tag. Sollten sich die Arbeitgeber durchgesetzt haben? Wir erinnern uns hier an die bereits zitierte Forderung der Arbeitgeber: »Dieser Zuschlag solle aber erst bei „Überschreitung der 8. Arbeitsstunde am Tag für Vollzeit- sowie Teilzeitbeschäftigte“ gezahlt werden.« Und weiter: »Teilzeitkräfte würden ihn also nur dann kassieren, wenn sie zum Beispiel an zwei von fünf Tagen Vollzeit arbeiten und dann länger als acht Stunden tätig sind.« Moment, wird jetzt der eine oder andere einwenden: Acht Stunden pro Tag sind doch eigentlich die Höchstarbeitszeit pro Tag, die nur in Ausnahmefällen überschritten werden darf? Merkwürdig.

Und die Gewerkschaft springt an dieser Stelle sofort weg und ruft andere, schöner daherkommende Punkte aus der Einigung mit den Arbeitgebern auf: »So hat die Gewerkschaft einen einheitlichen Nachtzuschlag von 30 Prozent durchgesetzt – das sind 5 Prozent mehr als bislang. An Sonn- und Feiertagen soll es einen Aufschlag von 80 Prozent (statt bisher 75 Prozent) geben … Für Industriereiniger sind 75 Cent pro Stunde extra vorgesehen. Das gelte künftig auch für die Maschinenreinigung. „Dadurch profitieren künftig deutlich mehr Reinigungskräfte, die in der Industrie arbeiten, von diesem Zuschlag“ … So soll es ab 2021 für alle Beschäftigten einen einheitlichen Urlaub von 30 Tagen auf Vollzeitbasis geben – egal, wie lange sie in der Branche arbeiten. Neueingestellte haben, so die Vereinbarung, im kommenden Jahr bereits einen Anspruch von 29 Urlaubstagen.«

Alles wichtige Punkte, aber man bekommt den Eindruck, dass hier auch ein wenig abgelenkt werden soll von dem eigentlichen Ausgangspunkt des Konfliktes, also der durch das Urteil des BAG notwendig gewordenen Neuregelung der Mehrarbeitszuschläge für Teilzeitkräfte. Die nun gefundene Regelung, die von beiden Seiten nur in wenigen Worten skizziert wird, lässt doch eine Menge Fragen offen. Ob Gerichte so eine Lösung durchgehen lassen, ist zumindest fraglich. Das Bundesarbeitsgericht hatte doch klar vorgegeben, dass Überstundenzuschläge grundsätzlich für jene Arbeitszeit gezahlt werden müssen, die über die individuell geregelte Stundenzahl hinausgeht. Ansonsten sei der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt.

Man wird sehen, wie die Gewerkschaft das erklären will. Oder ob es schlichtweg geschluckt werden muss, denn auch das muss man in diesem Bereich zur Kenntnis nehmen: Die Gewerkschaft hat erhebliche Probleme, eigene Forderungen wirklich durchsetzen zu können: Der Organisationsgrad der Beschäftigten aus der Gebäudereiniger-Branche ist niedrig. »In der Branche arbeiten viele Migranten und Frauen, die einen Konflikt mit ihren Arbeitgebern scheuen. Zudem ist die Organisation der Arbeitnehmer schwierig: Neben einigen großen Reinigungsfirmen gibt es auch viele kleine, in denen es meist keinen Betriebsrat gibt«, so Falk Heunemann. In dem Interview mit dem Präsidenten des Bundesinnungsverbandes des Gebäudereiniger-Handwerks, Thomas Dietrich, wird das gespiegelt auf der Arbeitgeberseite: Der Verband hat 2.500 Mitgliedsbetriebe, die Branche zählt aber deutlich mehr als 30.000. Und Dietrich erläutert an dieser Stelle ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal der Branche: »Wen wir … nicht vertreten, das sind die Plattformen beziehungsweise die Soloselbstständigen, die auch nicht dem Tariflohn unterliegen. Hart ausgedrückt ist dieses Geschäftsmodell in unseren Augen moderne Tagelöhnerei. Auch den Parallelmarkt im Bereich der Privathaushalte, in dem in der Regel schwarz gearbeitet wird, vertreten wir nicht.«

Immerhin gibt es in dieser Branche etwas, was in anderen Bereichen gefordert wird: Seit Februar 2018 sind die Tarifverträge allgemeinverbindlich. Auch die nicht-organisierten Betriebe müssen sich also daran halten.