Und jährlich grüßt das größer werdende Ausgaben-Tier: Sozialleistungen und die Sozialleistungsquote in der Abgrenzung des Sozialbudgets

Auf einige Dinge kann man sich jedes Jahr verlassen. Auf Ostern und Weihnachten – oder auf die Kritik an den steigenden Sozialausgaben: »Der Sozialstaat ist auch 2018 weiter gewachsen. Die Opposition kritisiert den Rekord aber als Beleg dafür, dass die GroKo nur ans Umverteilen denke«, so beginnt der Artikel Sozialausgaben sind auf fast eine Billion Euro gestiegen im Handelsblatt, der am 8. August 2019 veröffentlicht wurde. 996 Milliarden Euro seien es gewesen – und man bezieht sich bei dieser Zahl auf das „Sozialbudget“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Und ein Versuch der Einordnung wird uns auch präsentiert:

»Die Zahlen zeigten, dass Deutschland große Summen für Soziales ausgebe – auch in Zeiten sinkender Arbeitslosigkeit, sagte der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der Unionsfraktion, Peter Weiß (CDU), dem Handelsblatt. „Das straft all jene Lügen, die von der Unterfinanzierung des Sozialstaats reden.“« Und die Kritiker stehen wie immer bereit: »Scharfe Kritik kam aus der Opposition. „Der neue Rekord bei den Sozialausgaben belegt, dass die Große Koalition nur ans Umverteilen denkt“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Marco Buschmann, dem Handelsblatt. „Sie gibt das Geld der Steuer- und Beitragszahler aus, als gäbe es kein morgen mehr.“« Und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) wird mit diesen Worten zitiert: »Es müsse Schluss damit sein, den Sozialstaat durch eine ständig steigende Belastung der Arbeitskosten zu finanzieren.«

Und schaut man sich die Entwicklung der Sozialleistungen in Mrd. Euro seit der Wiedereinigung an, dann drängt sich ohne Frage der Eindruck auf, dass da was aus dem Ruder läuft. Aber wie immer im statistischen Leben muss man genauer, also differenzierter prüfen, was die Zahlen wirklich aussagen – und was nicht.

Zuerst einmal die Quelle, aus die Zahlen stammen:
➔ Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019): Sozialbudget 2018, Berlin, Juni 2019

Nun sind die absoluten Ausgaben mit Vorsicht zu genießen, worauf das IAQ hingewiesen hat: »Der Informationsgehalt dieses Wertes bleibt allerdings gering, da er keine Aussage darüber zulässt, in welchem Verhältnis die Sozialleistungen zur Größe (Einwohnerzahl) oder zur wirtschaftlichen Leistungskraft des Landes stehen. Erst wenn das Verhältnis bekannt ist, lässt sich beurteilen – auch im Vergleich zu anderen Ländern oder im zeitlichen Vergleich -, ob das Leistungsniveau als „hoch“ oder gar „zu hoch“ einzuschätzen ist.« Man muss die Sozialausgaben also ins Verhältnis setzen. Zu was? Als zentraler Indikator für die wirtschaftliche Leistungskraft eines Landes gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Summe der in einem Jahr im Inland erzeugten Güter und Dienstleistungen. Und wenn man diesen Indikator heranzieht, dann zeigt sich das folgende Bild:

Das nun sieht weitaus weniger dramatisch aus, als der Blick auf die reine Ausgabenentwicklung (die übrigens nicht preisbereinigt ist) nahelegt. Von einem „aus dem Ruder laufen“ oder gar einer „Explosion“ der Sozialausgaben kann keine Rede sein. Ganz im Gegenteil. Wenn man sich die Stabilität der Quote anschaut seit 2010, dann kann man die Frage aufwerfen, ob der Anteil nicht eigentlich hätte höher ausfallen müssen, wenn man bedenkt, dass wir mehr Rentner haben, dass die Gesundheits- und insbesondere die Pflegeausgaben aufgrund der an anderer Stelle vielbeschworenen demografischen Entwicklung steigen (müssten), dass es in den zurückliegenden Jahren Milliardenausgaben für den Ausbau der Kindertagesbetreuung gab oder man denke an die Aufwendungen durch die fluchtbedingte Zuwanderung nach Deutschland. Offensichtlich ist es gelungen, den Anteil der Sozialleistungen gemessen am BIP konstant zu halten, obgleich doch die Ausgaben an sich gestiegen sind. Das nun kann damit zusammenhängen, dass gleichzeitig in bestimmten Sozialleistungsbereichen gekürzt wurde und/oder die Größe im Nenner, also das BIP, entsprechend gewachsen ist.

Nun lohnt an dieser Stelle einer genauerer Blick zum einen auf das, was als „Sozialleistungen“ ausgewiesen und mithin in der Quote berücksichtigt wird, zum anderen aber auch auf die Nennergröße, also das BIP.

Generell muss man zu dem, was im Sozialbudget der Bundesregierung als „Sozialleistungen“ ausgewiesen wird, wissen: »Erfasst werden alle Leistungen, die öffentlich finanziert werden und/oder auf gesetzlicher, verpflichtender Grundlage beruhen. Das heißt, dass nur jene Leistungen, deren Erbringung erwerbsförmig und gegen Entgelt erfolgt, berücksichtigt werden. Dies bedeutet, dass die unentgeltlichen sozialen Hilfsleistungen im Kontext von Familie, Nachbarschaft, Selbsthilfegruppen und sozialem Ehrenamt außerhalb des Blickfeldes bleiben. Nicht erfasst werden auch die freiwilligen (und nicht geförderten) privaten Aufwendungen im Feld der sozialen Sicherung, z. B. für private Zusatzkrankenversicherung oder für Zuzahlungen. Bei einer (Teil)Privatisierung der Sozialen Sicherung sinkt insofern die Sozialleistungsquote, da sich die öffentlichen Aufwendungen vermindern. Dass zugleich die privaten Ausgaben steigen bleibt unberücksichtigt«, so das IAQ in einer Beschreibung der Sozialleistungsquote 1960 – 2018. Zum anderen muss man bedenken, dass sich die Zusammensetzung dessen, was als Sozialleistungen klassifiziert wird, über die Zeit verändert hat. Mal wurde etwas hinzugefügt, mal etwas weggenommen. Dazu das IAQ: »In den zurückliegenden Jahren sind immer wieder – dies insbesondere in Anpassung an die Vorgaben der EU zur Erstellung einheitlicher Sozialstatistiken – Veränderungen in den Berechnungsverfahren des Sozialbudgets vorgenommen worden. So werden ab 2009 die Grundleistungen der Privaten Krankenversicherung als Sozialleistungen erfasst. Nicht mehr berücksichtigt hingegen werden steuerlichen Leistungen (über Freibeträge und Splittingverfahren), was zu einer Reduzierung der ausgewiesenen Ausgaben führt – in einer Dimension von 30,4 Mrd. Euro für 2018.«

Apropos 2009: Dass die Werte bei der Sozialleistungsquote ab 2009 nicht oder nur mit erheblichen Einschränkungen mit den Vorjahreswerten vergleichbar sind, hat methodisch gesehen nicht nur mit der Aufnahme der Grundleistungen der privaten Krankenversicherung zu tun. Diese Veränderung 2009 fiel zudem in ein Jahr, in dem die angesprochene Nennergröße aufgrund der damaligen Weltwirtschaftskrise als Folge der Finanzkrise nach unten ging, immerhin hatten wir die schwerste Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs und gleichzeitig sind die Sozialausgaben aber nach oben gegangen, vor allem aufgrund der arbeitsmarktbedingten Mehraufwendungen.

»Höhe und Entwicklung von Sozialausgaben und Sozialleistungsquote sind nicht nur Ausdruck von gesamtwirtschaftlichen Belastungen. Den Aufwendungen stehen immer auch Leistungen gegenüber, die für die jeweiligen Empfänger mit einem Zufluss von Einkommen und einer Nutzungsmöglichkeit von sozialen Diensten und Einrichtungen verbunden sind. Kosten und Nutzen sind also zu bilanzieren«, so ein wichtiger Hinweis des IAQ. Diese Bilanzierung nach Kosten und Nutzen

Und hier wären wir an einer überaus wichtigen Problemstelle angekommen, wenn man die alljährliche Berichterstattung über „steigenden Sozialausgaben“ betrachtet und die vielen Medienkonsumenten mit auf den Weg gegebene Botschaft, dass das Soziale immer mehr kostet, denn hierbei handelt es sich um eine reine Bruttobetrachtung, erschwerend kommt hinzu, dass keine Nutzenbetrachtung einfließt. Dazu aus dem Beitrag Selektive Zahleninterpretation. Das Sozialbudget und die einseitige Instrumentalisierung der Euro-Beträge, der nicht zufälligerweise genau vor einem Jahr veröffentlicht wurde, dieser Hinweis:

»Ob nun gewollt oder nicht – bei dem normalen Bürger (und offensichtlich auch vielen Journalisten) wird eine Wahrnehmung der Sozialausgaben als ein reines Kostenproblem ausgelöst bzw. verfestigt. Als wenn die Ausgaben ins Nirwana fließen. Man muss an dieser Stelle doch zweierlei Klarstellungen vornehmen: Zum einen handelt es sich um Bruttoströme. Also wenn man berücksichtigt, dass die beiden größten Ausgabenblöcke … auf die Rentenversicherung und … die Krankenversicherung entfallen, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass diesen Zahlungsflüssen auch wieder Rückflüsse an den Staat und die Sozialversicherungen sowie weitere Effekte gegenüberstehen. Also die Renten, die ausgezahlt werden, geben die meisten Rentner wieder aus, daraus wird Beschäftigung generiert (aus der dann Steuern und Sozialabgaben fließen) und ganze Wirtschaftszweige werden darüber finanziert (Einzelhandel usw.). Die Gesundheits- und Pflegeausgaben sind in einem großen Umfang Ausgaben, die mit Personalausgaben verbunden sind. Also schon rein fiskalisch gesehen sind die Nettogrößen ganz anders, als es die Bruttowerte nahelegen. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Ausgaben nachfrageseitige Effekte in der Volkswirtschaft haben, die man mit berücksichtigen muss.«

Und der eigentlich problematische Punkt, der hier (erneut) aufgerufen werden muss, verweist auf die Frage der Finanzierungsarchitektur (und ihrer Verschiebungen), die hinter der großen einen Zahl nicht erkennbar wird, die aber entscheidend ist für die verteilungspolitische Dimension:

Es geht um die Frage nach der Verteilung der Finanzierungslasten. Vereinfachend gesagt sind es drei große Quellen, aus denen sich die Finanzmittel speisen: Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sowie Steuermittel (und auch die Zusammensetzung der Quellen, aus denen sich die Steuermittel ergeben und damit die Traglast, hat sich im Laufe der Zeit verschoben). Und wenn beispielsweise wie in Deutschland aufgrund der Bedeutung der Sozialversicherungssysteme (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Arbeitslosenversicherung) ein großer Teil der Ausgaben beitragsfinanziert wird (wobei die Traglast hier im Wesentlichen von den Arbeitnehmern geschultert werden muss und dann auch noch begrenzt auf die sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit sowie mit Blick auf Umverteilungseffekte nach oben gedeckelt durch Beitragsbemessungsgrenzen mit entsprechend regressiven Effekten im unteren und mittleren Einkommensbereich), dann kann das ein strukturelles Problem werden, wenn sich die Entwicklung der der Beitragsfinanzierung zugrundeliegenden Bruttolöhne und -gehälter von der BIP-Entwicklung abkoppelt. Genau das aber kann man für die zurückliegenden Jahre zeigen. Dann wird die Belastung der beitragspflichtigen Lohneinkommen relativ gesehen immer größer. Die Lücke zwischen dem BIP-Anstieg und dem der bislang beitragspflichtigen Löhne müsste folglich aus anderen Quellen finanziert werden, was allerdings voraussetzt, dass man die Wertschöpfung, die bislang nicht oder nur partiell an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligt ist, bei einer strukturellen Reform der Sozialstaatsfinanzierung mit ins Boot nehmen müsste. Und schon sind wir mittendrin in hochgradig konfliktären Verteilungsfragen.

Und so wie es derzeit aussieht, werden die im kommenden Jahr auch wieder (nicht) aufgerufen.