Selektive Zahleninterpretation. Das Sozialbudget und die einseitige Instrumentalisierung der Euro-Beträge

»Die Wirtschaft in Deutschland wächst, doch noch schneller wachsen die Sozialausgaben. In diesem Jahr dürften die Gesamtkosten für die sozialen Sicherungssysteme erstmals die Marke von einer Billion Euro übersteigen. Arbeitgeber, FDP und der Wirtschaftsflügel der Union schlagen Alarm: Für sie ist das Verhältnis zwischen Erwirtschaften und Verteilen in der Bundesrepublik aus den Fugen geraten.« So beginnt der Artikel Der Sozialstaat wird zum Zukunftsrisiko – Politiker fordern ein Umsteuern von Thomas Sigmund und Gregor Waschinski. Und damit die Botschaft auch wirklich hängen bleibt, wird der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in den Zeugenstand gerufen: „Der deutsche Sozialstaat gerät außer Kontrolle“, so wird er zitiert. „Seine Ausgaben steigen, ohne dass seine Ergebnisse sozialer oder die Zufriedenheit besser würden.“ Wenn die Politik nicht bald eingreife, werde der Sozialstaat „durch Migration und Alterung aus der Kurve geworfen“. Lindner fordert: „Planlose Umverteilung und wirkungslose Programme müssen beendet werden.“

Und die Zahlen scheinen den alarmistischen Ton zu stützen: »Laut aktuellen Zahlen der Bundesregierung, über die in der vergangenen Woche zuerst das Handelsblatt berichtet hatte, erhöhte sich die Summe aller Sozialleistungen 2017 auf den Rekordwert von 965,5 Milliarden Euro. Das ist ein Anstieg von 3,9 Prozent im Vergleich zu 2016. In diesem Jahr wird bei gleichbleibenden Steigerungsraten die Billionen-Grenze überschritten.« Da läuft doch was aus dem Ruder. 

Und wirft man einen Blick auf die Entwicklung der Sozialausgaben in der Abgrenzung des Sozialbudgets, bei dem sich auch die Handelsblatt-Autoren bedient haben, dann wird der Eindruck verfestigt, dass wir es mit einer scheinbar unkontrollierten Steigerung der Sozialausgaben zu tun haben. Die Entwicklung der Absolutzahlen in Euro wird dann auch gerne von den Problem-Apologeten aufgegriffen und ins Feld geführt. Selbst in der Süddeutschen Zeitung kommentiert Marc Beise unter der Überschrift Die Sozialausgaben steigen – ein gefährlicher Trend: »Die Sozialausgaben in Deutschland klettern und klettern … Nach dem Motto „Da geht noch was“ sattelt die Politik Jahr für Jahr drauf: eine Ausgabenkurve, die steil nach oben zeigt.«

Aber ist das wirklich so? Wie immer werden wir hier konfrontiert mit der Aufgabe, einen genaueren Blick auf die Zahlen zu werfen. Man kann beispielsweise die Entwicklung der Sozialausgaben auch anders als „nur“ gemessen an den Absolut-Beträgen darstellen – in dem man sie auf die volkswirtschaftliche Wertschöpfung des Landes gemessen am Bruttoinlandsprodukt bezieht. Dann zeigt sich dieses Bild:

Hinsichtlich der Sozialleistungsquote zeigt sich nun wirklich kein dramatisches Bild „explodierender“ Sozialausgaben. Und es gibt auch Stimmen, die genau darauf hinweisen: »Die Sozialausgaben haben 2017 einen Rekordstand erreicht. Grund zur Panik? Nein, denn in der langfristigen Analyse ergibt sich ein ganz anderes Bild«, so der Artikel Deutschland gibt fast eine Billion für Soziales aus. Und weiter: »In den vergangenen 25 Jahren haben sich die Sozialausgaben den Angaben zufolge mehr als verdoppelt. Allerdings ist in dieser Zeit auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) entsprechend angestiegen, von knapp 1750 Milliarden auf 3263 Milliarden Euro in 2017. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 29,6 Prozent des BIP für Soziales (+ 0,1 Prozent) ausgegeben, der höchste Wert seit 2010. Vor 25 Jahren lag diese sogenannte Sozialleistungsquote aber auch schon bei 27,1 Prozent vom BIP … Seit 1991, also quasi seit der Wiedervereinigung, bewegt sich die Quote zwischen 25 und 30 Prozent, mit einem deutlichen Ausschlag von 30,6 Prozent 2009, was damals in erster Linie Folge der Finanzkrise und der dadurch gesunkenen Wirtschaftskraft gewesen sei.«

➔ Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die erkennbare Stabilität der Sozialleistungsquote für eine alternde Gesellschaft, in der die Ausgabenbedarfe für Gesundheit, Pflege und Rente ansteigen (müssen) und zudem seit 2015 enorme Aufwendungen im Kontext der fluchtbedingten Zuwanderung angefallen sind, die in den einzelnen Systemen enthalten sind und nicht separat ausgewiesen werden, eigentlich eher überraschend ist.

➔ Ein anderer, weitaus wichtigerer Einwand betrifft die sehr einseitige Darstellung von Bruttogrößen als reine Ausgaben. Ob nun gewollt oder nicht – bei dem normalen Bürger (und offensichtlich auch vielen Journalisten) wird eine Wahrnehmung der Sozialausgaben als ein reines Kostenproblem ausgelöst bzw. verfestigt. Als wenn die Ausgaben ins Nirwana fließen. Man muss an dieser Stelle doch zweierlei Klarstellungen vornehmen: Zum einen handelt es sich um Bruttoströme. Also wenn man berücksichtigt, dass die beiden größten Ausgabenblöcke mit 304,1 Milliarden Euro auf die Rentenversicherung und 228,6 Milliarden auf die Krankenversicherung entfallen, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass diesen Zahlungsflüssen auch wieder Rückflüsse an den Staat und die Sozialversicherungen sowie weitere Effekte gegenüberstehen. Also die Renten, die ausgezahlt werden, geben die meisten Rentner wieder aus, daraus wird Beschäftigung generiert (aus der dann Steuern und Sozialabgaben fließen) und ganze Wirtschaftszweige werden darüber finanziert (Einzelhandel usw.). Die Gesundheits- und Pflegeausgaben sind in einem großen Umfang Ausgaben, die mit Personalausgaben verbunden sind. Also schon rein fiskalisch gesehen sind die Nettogrößen ganz anders, als es die Bruttowerte nahelegen. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Ausgaben nachfrageseitige Effekte in der Volkswirtschaft haben, die man mit berücksichtigen muss.

➔ Was aber auch die relativierende Bemessung der Sozialleistungen an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung verdeckt ist die Frage nach der Verteilung der Finanzierungslasten. Vereinfachend gesagt sind es drei große Quellen, aus denen sich die Finanzmittel speisen: Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sowie Steuermittel (und auch die Zusammensetzung der Quellen, aus denen sich die Steuermittel ergeben und damit die Traglast, hat sich im Laufe der Zeit verschoben). Und wenn beispielsweise wie in Deutschland aufgrund der Bedeutung der Sozialversicherungssysteme (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Arbeitslosenversicherung) ein großer Teil der Ausgaben beitragsfinanziert wird (wobei die Traglast hier im Wesentlichen von den Arbeitnehmern geschultert werden muss und dann auch noch begrenzt auf die sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit sowie mit Blick auf Umverteilungseffekte nach oben gedeckelt durch Beitragsbemessungsgrenzen mit entsprechend regressiven Effekten im unteren und mittleren Einkommensbereich), dann kann das ein strukturelles Problem werden, wenn sich die Entwicklung der der Beitragsfinanzierung zugrundeliegenden Bruttolöhne und -gehälter von der BIP-Entwicklung abkoppelt. Genau das aber kann man für die zurückliegenden Jahre zeigen. Dann wird die Belastung der beitragspflichtigen Lohneinkommen relativ gesehen immer größer. Die Lücke zwischen dem BIP-Anstieg und dem der bislang beitragspflichtigen Löhne müsste folglich aus anderen Quellen finanziert werden, was allerdings voraussetzt, dass man die Wertschöpfung, die bislang nicht oder nur partiell an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligt ist, bei einer strukturellen Reform der Sozialstaatsfinanzierung mit ins Boot nehmen müsste. Und schon sind wir mittendrin in hochgradig konfliktären Verteilungsfragen.

Die Finanzierungsfrage wird auch in Österreich, die einen durchaus vergleichbares System haben, diskutiert. Vgl. dazu nur als ein Beispiel den Beitrag Wer finanziert eigentlich den Sozialstaat? sowie Wer finanziert den Sozialstaat – Teil 2 von Dominik Berghofer und Vanessa Mühlböck.

Und wer sich das Sozialbudget im Detail anschauen möchte, der kann die entsprechende Veröffentlichung hier abrufen:

➔ Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2018): Sozialbudget 2017, Berlin 2018