Die Medikalisierung depressiver Erkrankungen bis hin zum Unglücklichsein. Ein kritischer Blick auf den Einsatz von Antidepressiva

Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) ist ein unabhängiger Fachverband, der sich für eine menschenrechtsbasierte psychiatrische Behandlung und Versorgung und bessere Lebensbedingungen für psychisch erkrankte Menschen einsetzt. Hierbei versteht die DGSP psychische Krankheit und Gesundheit im sozialen und gesellschaftlichen Kontext und tritt daher für ein gemeinsames Handeln aller Beteiligten ein. Ihre Mitglieder sind psychiatrisch Tätige aller Berufsgruppen, Psychiatrieerfahrene und deren Angehörige sowie Träger sozialpsychiatrischer Angebote. So die Selbstdarstellung der DGSP.

Und die DGSP hat einen Fachausschuss Psychopharmaka. Der hat sich seit 2016 intensiv mit dem Thema Antidepressiva auseinandergesetzt und dazu nun ein interessantes Positionspapier veröffentlicht:

➔ Fachausschuss Psychopharmaka der DGSP (2019): Annahmen und Fakten: Antidepressiva. Positionspapier des Fachausschusses Psychopharmaka der DGSP, 12. Juni 2019

Der Hintergrund in einigen trockenen Zahlen: »In der Behandlung von depressiven Erkrankungen nimmt die Verschreibung von antidepressiven Medikamenten konstant zu. Aktuell werden in Deutschland 1,5 Milliarden Tabletten pro Jahr verordnet. Das ist eine Versiebenfachung im Vergleich zu 1991 – bei nur geringer Erhöhung der Bevölkerungszahl … Gleichzeitig zeigt sich keine Verringerung der krankheitsbedingten Ausfälle und sogar eine lineare Erhöhung der Anzahl der Berufsunfähigkeitstage und der Berufsunfähigkeitsrenten wegen Depressivität.«

➞ Was sind die Gründe für die immer höher werdenden Verordnungszahlen? Viele Ärzte beklagen eine leichtfertige Verordnung, fehlende Therapieplätze und den Trend, normale Empfindungen wie Traurigkeit zu pathologisieren und mit Medikamenten zu behandeln – von Kritikern als eine „Medikalisierung und Medikamentierung von Unglücklichsein“ bezeichnet. Die deutlichen Indikationsausweitungen haben zu steigenden Antidepressiva-Einnahmen beigetragen, denn Antidepressiva werden z.B. auch bei Angsterkrankungen, Zwangsstörungen, Schmerzsyndromen und Stressinkontinenz eingesetzt. In einer Umfrage unter deutschen Patienten haben lediglich 51 Prozent angegeben, dass ihnen Therapiemöglichkeiten abseits der Medikation angeboten wurden.

Und dann dieser Hinweis, der der Finger auf ökonomische Bedingungsfaktoren für die beobachtete Entwicklung legt: »Allen Gründen für die rasante Zunahme der Antidepressiva-Verordnungen voran stand jedoch die Propagierung eines biochemischen Ungleichgewichts (Serotonindefizit) als Ursache einer Depression seitens der Herstellerfirmen im Zuge der Markteinführung der Selektiven Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Ende der 80er Jahre.«

Hier beziehen die Verfasser des Positionspapiers eindeutig Stellung: »Im Gegensatz zu weit verbreiteten Behauptungen sind bei einer Depression keine biochemischen Funktionsstörungen im Gehirn bekannt, die durch eine Medikamentengabe wieder in Ordnung gebracht werden könnten … Es zeigte sich, dass die stärkste Wirkung eines Antidepressivums auf dem Placebo-Effekt basiert, der unabhängig vom eingesetzten Wirkstoff eintritt.«

Dann setzen sich die Verfasser mit zentralen Annahmen in der Diskussion über Antidepressiva auseinander und mit Bezug auf die aus ihrer Sicht relevante Literatur werden zahlreiche Annahmen relativiert oder zurückgewiesen, so beispielsweise die Annahme, Antidepressiva beseitigen ein Serotonin-Defizit, das für die Entwicklung einer Depression verantwortlich ist oder die Annahme, dass Studien die Wirksamkeit von Antidepressiva beweisen. Zurückgewiesen werden auch die Annahmen, Antidepressiva verursachen keine Abhängigkeit und dass sie fast keine Nebenwirkungen verursachen.

Aber wenigstens „Antidepressiva reduzieren das Suizidrisiko“? Auch nicht: »Antidepressiva reduzieren das Suizidrisiko nicht … In mehreren Studien fanden Forscher mehr Suizide oder Suizidversuche in der Medikamenten- als in der Placebogruppe … Aktuell gilt als bewiesen, dass sich bei Menschen unter 25 Jahren durch Einnahme von Antidepressiva das Risiko für Suizidversuche verdoppelt.«

Die Verfasser weisen am Ende darauf hin: »Wir sind uns bewusst, dass Antidepressiva von vielen Menschen als ein nützliches Mittel bei der Bewältigung ihrer (schweren) Depression angesehen werden. Wir warnen vor einer unkritischen Verordnung und Anwendung von Antidepressiva. Sehr deutlich warnen wir auch vor einem abrupten Weglassen dieser Medikamente oder einem zu schnellen Absetzen in wenigen Tagen (bzw. bei längerer Einnahme: in wenigen Wochen). Die chemische Manipulation von Nervenzellen führt zu Veränderungen, die sich nicht innerhalb einer kurzen Zeit wieder normalisieren. Ein zu schnelles Absetzen oder auch nur Reduzieren der Antidepressiva kann schwere Entzugssymptome hervorrufen.«

Und was wird als Alternative vorgetragen?

»Es gibt eine Vielzahl an nichtmedikamentösen Hilfen, Interventionen und Therapien, deren Wirksamkeit nachgewiesen ist. Sie sind häufig nebenwirkungsarm und binden den Patienten aktiv mit ein. Leider stehen sie nicht immer zeit- und wohnortnah ausreichend zur Verfügung. Wir nennen hier nur einige Alternativen. Sie sollen eine erste Übersicht darstellen und sind keineswegs vollständig. Viele Ärzte, Psychotherapeuten, aber auch Kontakt- und Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen können über diese und andere geeignete Behandlungsformen informieren.
− Psychotherapie (inkl. achtsamkeitsbasierte und Online-Verfahren),
− Sport und Bewegungstherapien, Körpertherapie (inkl. Massage-Therapie),
− Kunsttherapie, Musiktherapie, Ergotherapie,
− Psychosoziale Hilfen und Sozialberatung (z.B. bei Problemen im Bereich Arbeit, Wohnen, Finanzen)
− Selbsthilfegruppen (ggf. als Online-Forum), Peer-Counseling.«

Fazit: »Die genannten Möglichkeiten werden, gerade in Kombination, der Komplexität von Depressionen besser gerecht. Die Genesung von Depressionen braucht Zeit, Vermittlung von Hoffnung und Mitmenschlichkeit.« Möglicherweise sind genau diese Anforderungen in unserem bestehenden System das zentrale Problem oder Nadelöhr.