Es geht an dieser Stelle ausdrücklich nicht um die Frage nach der generellen Sinnhaftigkeit einer „Grundrente“, die zumindest in der SPD-Variante in diesen Tagen Gestalt anzunehmen beginnt. Dazu aus dem Bundesarbeitsministerium ein mittlerweile veröffentlichter Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der Grundrente für langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte mit unterdurchschnittlichem Einkommen und für weitere Maßnahmen zur Erhöhung der Alterseinkommen (Grundrentengesetz – GruRG) vor, dem man Details entnehmen kann. Die Potenziale, aber auch die systematisch höchst komplizierten Untiefen des Ansatzes verdienen eine gesonderte Analyse.
Es geht hier – wieder einmal – um das liebe Geld. Die Grundrente soll nach den Vorstellungen des Bundesarbeitsministers Heil (SPD) zum Jahr 2021 eingeführt werden. Wenn sie so kommen würde, wie man sich das bei der SPD wünscht, dann rechnet das Ministerium mit diesen Ausgaben: Die Kosten für die Grundrente belaufen sich im Einführungsjahr 2021 auf rund 3,8 Mrd. Euro, in den Folgejahren steigen sie voraussichtlich leicht: 2022 auf 4,1 Mrd., 2023 auf 4,3 Mrd., 2024 auf 4,5 Mrd. und 2025 auf 4,8 Mrd. Euro.
Und wie soll das finanziert werden? Sicher aus Steuermitteln, wie das früher immer wieder kommuniziert wurde. Hier aber wird der eine oder andere stirnrunzelnd an die sogenannte „Mütterrente“ denken, also der Rente für Erziehungszeiten, deren Ausweitung eigentlich auch aus Steuermitteln finanziert werden sollte, es dann aber wieder einmal anders gekommen ist, so dass der Beitragszahler zur gesetzlichen Rentenversicherung zur Kasse gerufen wurde und wird.
Die Bedenkenträger mussten sich dann bestätigt fühlen, als am 9. Mai 2019 solche Meldungen veröffentlicht wurden: SPD will für Grundrente Kranken- und Arbeitslosenversicherung anzapfen: »Finanzminister Olaf Scholz und Sozialminister Hubertus Heil (beide SPD) wollen die versprochene Grundrente vor allem auf Kosten von Kranken- und Arbeitslosenversicherung finanzieren. Damit wird das Projekt – anders als ursprünglich versprochen – nicht vollständig aus Steuermitteln bezahlt.« Was genau hatten sich die beiden Minister ausgedacht?
➞ Geldquelle 1: »Scholz und Heil planen, den Beitragssatz für die Krankenversicherung der Rentner von derzeit 14,6 auf künftig 14,0 Prozent zu senken. Weil die Rentenkasse den Arbeitgeberbeitrag für die Senioren übernimmt, müsste sie künftig rund 400 Millionen Euro weniger überweisen. Dieses Geld stünde zur Finanzierung der Grundrente bereit … Zugleich würden beim Bundeszuschuss zur Rentenkasse Mittel frei, mit denen sich ein Teil der Grundrente finanzieren ließe.«
➞ Geldquelle 2: »Außerdem haben Scholz und Heil vor, die Bundesagentur für Arbeit zu verpflichten, für die Bezieher von Arbeitslosengeld I höhere Rentenbeiträge zu überweisen. Bisher werden die Beiträge so berechnet, als hätten die Betroffenen 80 Prozent ihres letzten Einkommens verdient. Künftig soll die Kalkulationsgrundlage wieder 100 Prozent des Lohns sein. Als Folge muss die Arbeitslosenversicherung 800 Millionen Euro mehr an die Rentenkasse überweisen. Auch mit diesem Geld ließe sich ein Teil der Grundrente finanzieren.«
Ganz offensichtlich suchen die beiden sozialdemokratischen Minister verzweifelt und in der klassischen Manier des Jonglierens mit Verschiebebahnhöfen zwischen verschiedenen gegebenen Finanztöpfen innerhalb der Sozialversicherung ein Ventil, um das Volumen des notwendigen Einsatzes von Steuermitteln zu begrenzen. Und das Volumen der nunmehr – eigentlich – erforderlichen Steuermittel fällt bedeutsam größer aus, als ursprünglich angedacht, da die SPD eine ganz entscheidende Korrektur zu dem vorgenommen hat, was im Koalitionsvertrag mit den beiden Unionsparteien ausgehandelt und vereinbart wurde. Dazu dieser Erinnerung an den relevanten Passus aus dem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2018:
Im Koalitionsvertrag ist eine „Grundrente“ – korrekter wäre eigentlich die Bezeichnung „Grundsicherungsaufstockungsbetrag unter bestimmten Bedingungen“ – vereinbart worden, die eine „Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung“ beinhalten soll. Und genau auf diese Bedürftigkeitsprüfung will die SPD nun verzichten. Unabhängig von der seit längerem tobenden Debatte über das Pro und Contra eines Verzichts auf die Bedürftigkeitsprüfung – dieser Schritt hätte natürlich Auswirkungen auf das zu erstellende Finanzierungstableau, denn dadurch würden die Ausgaben erheblich ansteigen – dies vor allem auch aufgrund der zweiten Änderung, die man an dem Grundrentenkonzept vorgenommen hat: Im Jahr 2021 – dem geplanten Zeitpunkt der Einführung – würden laut Bundesarbeitsministerium 2,9 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland von einer Grundrente profitieren. Dass es so viele sind, hängt damit zusammen, dass nach den Plänen des Ministers nicht nur Neuzugänge in die Rente, sondern auch die Bestandsrentner von der Grundrentenregelung erfasst werden sollen – in Zahlen ausgedrückt: Nicht nur 150.000 Neurentner, sondern auch 2,75 Millionen Bestandsrentner. Eine im Koalitionsvertrag eigentlich auch vereinbarte Bedürftigkeitsprüfung würde die Zahl der Empfänger der Grundrente deutlich reduzieren. Statt 2,9 Millionen wären es dann nur noch rund 130.000 Personen.
Das muss jetzt dargestellt werden im Haushalt. Und angesichts von nunmehr mindestens vier Milliarden Euro, die systemgerecht aus Steuermitteln zu finanzieren wären, war klar, dass man sich auf die Suche nach die Steuerseite entlastenden Finanzierungsquellen gemacht hat.
Das kam nicht wirklich gut an: Ein subtiles Plündern der Sozialkassen, so ist beispielsweise ein Kommentar von Henrike Roßbach überschrieben: »Die Idee: Wenn die Steuereinnahmen nicht reichen für die Grundrente, soll sie eben zum Teil aus Sozialbeiträgen finanziert werden – aber bitte so, dass es nicht so auffällt … Ein solches Vorgehen aber ist auf so vielen Ebenen problematisch … Auf der Hand liegt der Wiederholungsfehler, nach der Mütterrente schon wieder Beamte und Selbständige nicht heranzuziehen für die Finanzierung einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Hinzu kommt die Unverfrorenheit, auch noch andere Sozialversicherungen anzuzapfen als die, um die es bei der Reform geht. Und das just von dem politischen Lager aus, das zuvor eine stärkere Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung abgelehnt hatte – weil diese ein dickes Polster brauche, falls es wieder einmal zu einem Einbruch am Arbeitsmarkt komme, wie während der Finanzkrise.«
Und wo kommen die Steuermittel her? Denn das, was man da in den Sozialkassen zusammenzukratzen gedenkt, reicht ja nicht aus, um die SPD-Grundrente in ihrer Gesamtheit zu finanzieren. Bei der möglichen Einführung der Rente 2021 solle der Steueranteil rund 50 Prozent betragen. Für das Jahr 2024 sind bereits 70 Prozent geplant, wenn man dem SPD-Konzept folgt. Also muss man auch steuerseitig kreativ werden. Das war man und herausgekommen sind dann solche Schlagzeilen: Grundrente statt „Mövenpicksteuer“. Offensichtlich will man den 2010 von der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung durchgesetzten von 19 auf 7 Prozent ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen wieder abschaffen und die damit einhergehenden angeblichen 700 Millionen Euro pro Jahr Mehreinnahmen werden dann auf der Grundrenten-Finanzierungsseite gebucht. Aber das ist nur ein Teil der steuertechnischen Kreativabteilung, es kommt noch besser:
Hinsichtlich der nunmehr geplanten Finanzierung der „Grundrente“ kann man diesem am 21.05.2019 veröffentlichten „Faktenpapier“ aus dem BMAS unter der Überschrift Die neue Grundrente. Mehr Anerkennung von Lebensleistung und Vermeidung von Altersarmut entnehmen:
»Die Finanzierung der Grundrente fußt im Wesentlichen auf drei Säulen:
➞ Erstens generieren wir höhere Steuermittel, indem wir das Mehrwertsteuer-Privileg für Übernachtungen (sogenannte Mövenpick-Steuer) wieder abschaffen und die Finanztransaktionssteuer einführen.
➞ Zweitens werden alle Mehreinnahmen oder Minderausgaben im Bundeshaushalt, die durch die neue Grundrente entstehen, vollumfänglich für eine Erhöhung des Bundeszuschusses an die Rentenversicherung genutzt.
➞ Und drittens nehmen wir ohnehin sinnvolle Anpassungen zwischen den Sozialversicherungen vor, die teils allen Rentnerinnen und Rentnern zugutekommen und zugleich die Rentenversicherung stärken.«
Man kann das auch verbuchen unter der Rubrik „Luftbuchungen hoch zwei“. Denn:
➔ Das Aufkommen aus einer Abschaffung der „Mövenpicksteuer“ setzt voraus, dass diese Steuerermäßigung für die Hotellerie seitens der GroKo erst einmal abgeschafft wird. Das wiederum setzt die Zustimmung des Koalitionspartners voraus. Und wenn man die nicht bekommt?
➔ Ein echtes Husarenstück ist der Zugriff auf die angenommenen Einnahmen aus einer Finanztransaktionssteuer. 500 Millionen sollen über die geplante Finanztransaktionssteuer auf Börsengeschäfte hereinkommen. Diese Steuer gibt es allerdings noch gar nicht. Und ob sie kommt, hängt nicht nur von den deutschen Sozialdemokraten oder der großen Koalition ab, sie müsste europaweit beschlossen werden. Man muss sich allerdings fragen, ob hier auf zwei Hochzeiten gleichzeitig getanzt werden soll, denn: Die Einnahmen aus der wohlgemerkt seit Jahren geforderten, aber immer noch nicht umgesetzten Finanztransaktionssteuer will die SPD eigentlich der EU als eigene Steuereinnahme zusprechen. Nun kann man das zudem nich gar nicht erlegte Fell nicht zweimal verteilen. Aber man kann hoffen, dass solche Widersprüche nur wenigen auffallen.
Ganz offensichtlich steckt die SPD mal wieder im Dilemma. Zum einen hatte sie selbst noch im Februar dieses Jahres eine vollständige Steuerfinanzierung der Grundrente als selbstverständlich in den Raum gestellt. Wie wir gesehen haben, hat sie sich davon zum einen wenigstens anteilig wieder verabschiedet und greift dann doch wieder in die Sozialkassen, zum anderen werden hier virtuelle Steuermittel in Ansatz gebracht. Seriös erscheint das nicht und systematisch ist das auch falsch. Bleibt wahrscheinlich nur die Hoffnung, dass man jetzt, wenige Tage vor den Europa- und zugleich Bürgerschaftswahlen in Bremen, mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Grundrente rauskommt und das für sich zu verbuchen hofft. Außerdem ist der Blick schon auf die kommenden drei Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst dieses Jahres gerichtet, denn da ist die Grundrente bzw. die mit ihr transportierten Versprechungen ein ganz großes Thema.
Damit scheint sich der Kreis zu schließen. Bereits am 24. Januar 2018 wurde hier auf der Basis der damaligen Sondierungsergebnisse zwischen Union und SPD dieser Beitrag veröffentlicht: Ein problematisches Mischwesen mit Titelmissbrauch: Die Sondierungs-„Grundrente“ in der Kritik. Dort findet man diesen Hinweis: »An diesem Vorhaben hat sich zu Recht eine Menge Kritik entzündet. Da wäre zum einen der Aspekt der ausdrücklich nicht ausgeschlossenen – und damit wahrscheinlichen – massiven Fehlfinanzierung dieser Leistung aus Beitragsmitteln der Gesetzlichen Rentenversicherung. Ein notwendiger Hinweis, dass die aufstockenden Leistungen aus Steuermitteln zu finanzieren sind, kann man im Sondierungsergebnispapier nicht finden.« Und damals wurde ebenfalls angemerkt, dass die „Grundrente“nun aber wirklich kommen soll, sie war als „solidarische Lebensleistungsrente“ bereits im Koalitionsvertrag vom Dezember 2013 enthalten und ist in der vergangenen Legislaturperiode schlichtweg nicht umgesetzt worden. Und im Zusammenhang mit der alten, niemals ans Tageslicht beförderten „solidarischen Lebensleistungsrente“ wurde angemerkt, dass im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013 fixiert wurde, dass die Mehrausgaben dafür aus Steuermitteln zu zahlen seien. Genau diese Festlegung findet man im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2018 nicht mehr.
Man könnte natürlich auch abschließend die Hypothese aufstellen, dass das Nachdenken über diese Dinge sowieso verlorene Liebesmüh ist, denn die Union wird dem nun vorlegenden Konzept für die „Grundrente“ – vor allem mit den Elementen, die von der SPD in den Entwurf manövriert wurden und die weit über die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag hinausreichen in Verbindung mit der mehr als halbgaren Finanzplanung – eine Absage erteilen. Möglicherweise bzw. höchst wahrscheinlich ist das den SPD-Ministern sowieso klar und sie setzen darauf, dass man dann die Ablehnung parteipolitisch und wahlkämpferisch aufladen und verwenden kann.
Eine solche Entwicklung aber wäre fatal, denn die „Grundrente“, so unausgegoren sie daherkommt, adressiert für Deutschland ein systematisches und seit vielen Jahren beklagtes Problem: Anders als in den meisten Ländern um uns herum kennt das deutsche Alterssicherungssystem keine Mindestsicherung im Sinne einer „echten“ Grundrente, die eben einen anderen Charakter hat als eine Fürsorgeleistung wie die Grundsicherung. Und das wird auch deshalb immer drängender, weil die in der Vergangenheit so erfolgreiche gesetzliche Rentenversicherung in unserem Land mit der für sie verbindlichen Rentenformel im SGB VI angesichts der enormen Veränderungen auf den für die Höhe der Leistungen aus der Rentenkasse bestimmenden Faktoren wie der Erwerbsbiografie (hier wäre an die gewaltige Expansion der Teilzeitarbeit und des Niedriglohnsektors zu denken), kaum bzw. gar nichts an dem Absturz vieler Menschen im unteren Einkommensbereich in der Rente ändern kann mit dem derzeit vorhandenen Instrumentarium. Aber wie am Anfang notiert – das wäre ein weiteres, höchst komplexes Thema, ob die nun geplante „Grundrente“ das überhaupt verändern könnte.