Bekanntlich geht es in einer Koalition unterschiedlicher Partner im Regelfall zu wie auf einem orientalischen Basar, wenn der eine was will und der andere das eigentlich nicht, sich aber die Zustimmung abkaufen lässt. Das kann man diese Tage wieder einmal besichtigen am Beispiel der seit Jahren geforderten Maßnahmen gegen die desaströsen Arbeitsbedingungen vieler Paketzusteller. Aus dieser Kelleretage des Arbeitsmarktes wird nun ein Durchbruch vermeldet, wird landauf landab berichtet: Koalition einigt sich auf Verbesserungen für Paketboten. Man achte auf solche Formulierungen: »Dabei sollen große Paketdienste verpflichtet werden, Sozialabgaben für ihre säumigen Subunternehmer nachzuzahlen. Dafür sollen kleine und mittelständische Unternehmen an anderer Stelle entlastet werden, wie Union und SPD mitteilten.« Bei dem letzten Punkt geht es um das Versprechen eines sogenannten „Bürokratie-Entlastungsgesetzes (BEG III)“, das man auf den Weg bringen will. Details nannten die Koalitionäre zunächst nicht.
Schauen wir auf die Paketboten: »Nach wochenlangen Diskussionen sind sich Union und SPD endlich einig: Paketboten sollen in Zukunft besser vor Ausbeutung geschützt werden … (Ein Gesetzentwurf soll) Versandunternehmen wie Hermes, UPS oder DHL in die Verantwortung dafür (nehmen), dass auch all jene Zusteller einen Mindestlohn erhalten und über Sozialbeiträge abgesichert werden, die nicht direkt bei ihnen, sondern bei einem Subunternehmen angestellt sind. Im Ernstfall sollen die Dienstleister für nicht gezahlte Entgelte und Beiträge einstehen«, so dieser Bericht: So sollen Paketboten vor Ausbeutung geschützt werden. Das hört sich doch gut an. Kein Wunder, dass es große Zustimmung in den meisten Medienberichten gab und neben der SPD, die sich das auf ihrer Erfolgsliste abbuchen lassen möchte, gab es auch von der Gewerkschaft Verdi Begeisterung für das, was man da in Aussicht stellt (denn das muss ja erst noch den gesetzgeberischen Weg durchlaufen).
Wie immer im Leben muss man genauer hinschauen, denn der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Um es gleich an den Anfang zu stellen: Grundsätzlich ist der geplante gesetzgeberischer Ansatz, eine Nachunternehmerhaftung für nicht gezahlte Sozialbeiträge seitens der Subunternehmer einzuführen (denn „nur“ darum geht es jetzt), ein sicher wichtiges Signal an eine Branche, in der es bei vielen, die als letzte Glieder in einer unter enormen Preisdruck stehenden Verwertungskette agieren müssen und von denen viele den Druck als Lohndruck und in Form von massiven Verstößen gegen rechtliche Bestimmungen an die allersschwächsten Glieder, also den Paketboten, weitergeben. Das wird die Unsicherheitszone für die Auftraggeber an der Spitze der Pyramide, die bislang ihre Hände auf dem Papier in Unschuld waschen konnten, erhöhen.
Aber an dem soeben zitierten Ergebnis dessen, worauf die Koalition sich geeinigt hat, muss man sogleich Korrekturen anbringen – und angesichts des Eindrucks vieler Bürger durch die aktuelle Berichterstattung, dass nun endlich beispielsweise die miese Bezahlung vieler Paketzusteller verbessert wird durch das geplante Gesetz, sind die folgenden Anmerkungen weitaus weniger kleinkrämerisch, als sie für den einen oder anderen daherkommen mögen: Eine Nachunternehmerhaftung für den allen zustehenden Mindestlohn, die gibt es schon längst. Die kann folglich nicht Gegenstand der geplanten gesetzgeberischen Aktivität sein.
Paketdienste sollen für ihre Subunternehmer haften, wenn diese die Sozialbeiträge für ihre Fahrer nicht korrekt abgeführt haben. Dass die Unternehmen sowohl das gesetzlich vorgeschriebene Mindeste, also den Mindestlohn, mindestens bezahlen müssen und dass sie keinen Betrug bei den abzuführenden Sozialabgaben machen dürfen, dass ist sicher bei der ganz großen Mehrheit absoluter Konsens. Wenn man das jetzt gegen schwarze Schafe in der Herde der Paketdienste durchsetzen will, dann kann das nur auf völlig berechtigte Zustimmung stoßen.
Aber das Zauberwort lautet: Wenn. Denn eine gesetzliche Vorschrift führt bekanntlich nicht annähernd automatisch dazu, dass sie auch eingehalten wird. Gerade in einem Bereich wie den Paketdiensten mit den dort vorherrschenden Rahmenbedingungen wird das nur dann eine Wirkung entfalten können, wenn die Einhaltung der Bestimmungen
a) umfassend kontrolliert und
b) damit verbunden eine die Unternehmen (sowohl die Auftraggeber wie die Subunternehmen) empfindlich treffende Sanktionierung erfolgt, die eine möglichst starke abschreckende Wirkung entfalten muss.
Und zu den angesprochenen Rahmenbedingungen: In der Paketbranche arbeiten mehr als 200.000 Beschäftigte, die Sendungen zu den Kunden bringen. Es herrscht ein gnadenloser Konkurrenzkampf. Weil die Löhne der größte Kostenfaktor sind, setzen viele Lieferdienste Sub- und Sub-Sub-Firmen bei der Zustellung ein. Diese rekrutieren ihre Beschäftigten in vielen Fällen unter fragwürdigen Umständen in Osteuropa. Da überraschen dann solche Berichte aus der Wirklichkeit nicht wirklich: Das Hauptzollamt Köln hat vor mehreren Postdepotzentren Paketzusteller und Kurierdienste ins Visier genommen. Bei 540 überprüften Personen gab es 220 Hinweise auf Mindestlohnverstöße. Es seien überwiegend Fahrer gewesen – aus 147 verschiedenen Firmen. Allein diese Zahl in Relation zu den 540 insgesamt Überprüften verdeutlicht, mit wie vielen kleinen Zustellfirmen, die als Nachunternehmer unterwegs sind, man in diesem Bereich konfrontiert wird. Bei den Mindestlohnverstößen seien zum Beispiel Anfahrts- und Ladezeiten vom Arbeitgeber nicht als Arbeitszeit angerechnet worden, so die WDR-Meldung Paketzusteller überprüft: Viele Hinweise auf Mindestlohnverstöße von Anfang Februar 2019. Zusammenfassend mit dem groben Pinsel gemalt: Stundenlöhne unter Mindestniveau, überlange Arbeitszeiten und dubiose Subunternehmer: „In der Paketzustellbranche haben sich zum Teil mafiöse Strukturen etabliert“ – so der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, Frank Bsirske.
Zurück zu dem „Wenn …“: Und wenn a) oder b) oder noch schlimmer, aber realistischer a) und b) nicht erfüllt sind oder werden können, dann nützt jedes noch so schöne Gesetz in praxi nichts oder nur punktuell. Man muss das Vorhaben also anders als in vielen aktuellen Berichten und daraus abgeleiteten Jubelmeldungen nicht vom Anfang, sondern vom notwendigen Ende der Gesetzgebungskette her denken.
Und genau an dieser Stelle könnte sich der eine oder andere erinnern, dass man jetzt bei den Paketboten etwas machen will (also die Nachunternehmerhaftung nicht nur für den Mindestlohn – die gilt wie gesagt heute schon für alle Unternehmen -, sondern nun auch für nicht abgeführte Sozialbeiträge), was schon an anderer Stelle gemacht worden ist: Diese Form der Nachunternehmerhaftung gibt es seit 2002 in der Baubranche und seit 2017 auch in der Fleischwirtschaft durch das damals verabschiedete Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch) vom 17.07.2017.
➔ Erinnern wir uns an das GSA Fleisch (und die damit berechtigterweise angesichts der Zustände in dieser Branche verbundenen Hoffnungen). Als das Gesetz in einer parlamentarischen „Nacht- und Nebel-Aktion“ durch den Bundestag gebracht wurde, bekamen die dafür verantwortlichen Parlamentarier eine Menge Lob – auch hier: Der Fleischindustrie in einer parlamentarischen Nacht-und-Nebel-Aktion ans Leder gehen: Maßnahmen gegen den Missbrauch von Werkverträgen in den deutschen Billig-Schlachthöfen, so war der entsprechende Beitrag vom 2. Juni 2017 überschrieben. Aber die treuen Leser dieses Blogs werden sich ebenfalls daran erinnern, dass das damit nicht abgehakt, sondern weiter beobachtet wurde. Und die Ergebnisse dieser Beobachtungen wurden dann in Beiträgen zusammengefasst, die weitaus weniger positiv stimmen: Erste Fragezeichen gab es bereits am 22. Juni 2017 in dem Beitrag Wieder einmal von Billig-Schlachthöfen, fehlenden Kontrollen und einem gesetzgeberischen Vorstoß zwischen Theorie und Praxis. Und am 18. Dezember 2018 wurde dann diese erste ernüchternde Bilanzierung vorgenommen: Billig-Schlachthaus Deutschland: Vertrauen mag gut sein, Kontrollen wären besser. Oder: Gut gemeint ist oft nicht gut gemacht. In diesem Beitrag wurde darauf hingewiesen: Die nötigen Kontrollen haben mit dem neuen Gesetz nicht etwa stark zu-, sondern sogar rapide abgenommen. Den Daten des Bundeslandwirtschaftsministeriums zufolge führte die zuständige „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ 2017 bundesweit nur noch 233 Kontrollen in der Fleischwirtschaft durch. 2015 waren es noch 445. Für Fachleute im Bundestag ist das ein Fiasko. „Es ist nicht akzeptabel, dass die Kontrollen um 50 Prozent zurückgegangen sind, obwohl die schlechten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in der Fleischbranche doch bekannt sind“, wurde die Grünen-Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin für Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte sowie aktive Arbeitsmarktpolitik, zitiert. „Damit läuft auch das Gesetz, das extra für diese schwierige Branche gemacht wurde, ins Leere.“ Auch die Gewerkschaft übt Kritik: „Die Arbeitsbedingungen allen voran in der mittelständischen Wirtschaft haben sich in den vergangenen fünf Jahren nicht gebessert“, sagt Thomas Bernhard von der NGG. Teils werde so selten kontrolliert, dass man gar keine Verstöße finden könne.
Damit sind wir wieder angekommen bei nun als großer Erfolg gefeierten Kopie des Vorgehens in der Fleischwirtschaft im Bereich der Paketdienste. Frank-Thomas Wenzel hat meine kritischen Anmerkungen, die sich auf die Ebene der praktischen Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen und dabei insbesondere die oben unter a) und b) beschriebenen notwendigen Folgen beziehen, in seinem Artikel Luftpost für Paketboten aufgegriffen: „Den Bürgern wird suggeriert, mit der Gesetzesinitiative der Bundesregierung werde nun etwas substanziell gegen die niedrigen Löhne für die Paketzusteller getan. Doch das kann man leider vergessen.“ Besonders zwei Aspekte wären zu bedenken:
➔ Zum einen handelt es sich bei den Beschäftigten in vielen Subunternehmen der Paketbranche um Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit, die oftmals kaum oder gar kein Deutsch sprechen, die teilweise aus den Armenhäusern der EU hierher gelockt wurden mit unrealistischen Versprechungen, ihren Arbeitgebern aber ausgeliefert sind. Die nicht wissen (können), welche Recht sie haben und wie man sich wehren kann. Die vieles mitmachen, um auch die aus unserer Sicht katastrophal miesen Jobs behalten zu können oder Angst haben, dass ihnen noch nicht einmal die Hungerlöhne ausgezahlt werden, wenn sie aufbegehren würden. Einen schemenhaften Eindruck von den Verhältnissen in dieser Kelleretage des Arbeitsmarktes bekommt man durch so eine Meldung vom 16. Mai 2019: Zehn Festnahmen bei Kontrolle von Paketboten: »Bei einer Kontrolle von mehr als 100 Paketzustellern in Würzburg und Umgebung sind zehn Menschen vorläufig festgenommen worden … Die … Festgenommenen werden von Polizei und Zoll verdächtigt, Dokumente gefälscht zu haben, gegen Arbeits- und Sozialrecht verstoßen zu haben oder illegal in Deutschland zu sein. Bei vorangegangenen Ermittlungen hatten sie entsprechende Hinweise bekommen. Mehr als 80 Polizei- und Zollbeamte waren bei der Kontrollaktion am Mittwochmorgen im Einsatz. Sie beschlagnahmten auch zwei gefälschte Führerscheine.«
➔ Zum anderen muss man einschränkend berücksichtigen, dass selbst wenn a) erfüllt werden würde, also eine deutliche Erhöhung der Kontrollintensität (was derzeit angesichts der Personalprobleme beim Zoll eine mutige Annahme ist), die Umsetzung mit dem Nachweisproblem konfrontiert wird. Damit ist gemeint, dass der gerichtsfeste Nachweis von nicht gezahlten Beiträgen zur Sozialversicherung sehr kompliziert sei. Wenn Paketzusteller kontrolliert werden, stellt sich beispielsweise häufig heraus, dass sie in diesem Moment auf 450-Euro-Basis arbeiten. Tatsächlich aber arbeiteten sie in Vollzeit (und oftmals stundenmäßig weit über die zulässige Vollzeit hinaus). Den Rest ihres Lohnes, der über die 450 Euro hinausgeht, bekämen sie dann gar nicht oder schwarz auf die Hand. Also bei den schwarzen Schafen in der Branche. Und selbst wenn der Zoll vermeintliche Verstöße gegen die rechtlichen Bestimmungen identifiziert oder mit guten Gründen vermutet, dann muss er die Einzelfälle rechtssicher nachweisen, damit dann b), also eine spürbare und möglichst abschreckende Sanktionierung zum einen der Subunternehmen selbst, zum anderen der Auftraggeber erfolgen könnte. In nur wenigen Fällen kommt man überhaupt zu dieser Stufe der Kette.
Um nicht missverstanden zu werden – der Ansatz einer gesetzgeberischen Ausweitung der sowieso schon vorhandenen Nachunternehmerhaftung für den Mindestlohn auch auf den Bereich der abzuführenden Sozialversicherungsbeiträge ist grundsätzlich zu begrüßen. Aber er muss gemessen werden an den Möglichkeiten seiner Realisierung und dabei darf man die Restriktionen der Überprüfbarkeit und dem sich dann anschließenden Nachweis-Problem nicht einfach ausblenden. Insofern sollte gerade die Erfahrungen aus der Fleischwirtschaft – aber auch aus dem Bereich der Bauwirtschaft – allen Grund für Skepsis liefern.
Auch deshalb, weil beispielsweise ein Blick auf die Bauwirtschaft zu Tage fördert, wie die Unternehmen mit der Nachunternehmerhaftung „umgehen“ können: »Im Baugewerbe ist die Subunternehmerhaftung schon eine ganze Weile wirksam. Dort muss sich der Hauptunternehmer vergewissern, dass seine Auftragnehmer ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Angestellten erfüllen. Vergewissern können sie sich, indem sie um Vorlage einer Bescheinigung von der Krankenkasse bitten. Sie besagt, dass der Subunternehmer bei ihr als zuverlässiger Zahler bekannt ist. Eine andere Möglichkeit ist die sogenannte Präqualifikationurkunde. Sie enthält auch Nachweise zur Fachkunde der Mitarbeiter.« Skeptische Geister ahnen schon, was das in einer derart pyramidal organisierten Branche wie den Paketdiensten bedeuten kann (und wird).
Und diese Branche stand nun gerade am 16. Mai 2019 als Thema auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages: Debatte über fairen Wettbewerb im Post- und Paketmarkt, so ist der entsprechende Bericht seitens des Parlaments dazu überschrieben. Das passt perfekt in das hier interessierende Thema: »Der Bundestag diskutiert … erstmalig über einen Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Portoerhöhungen ohne Verbesserung der Löhne und des Service“ (19/10150). Mitberaten werden dann auch Anträge der FDP-Fraktion mit dem Titel „Fairer Wettbewerb auf dem Postmarkt – Sondergutachten der Monopolkommission respektieren“ (19/10156) sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die laut Titel der Vorlage darauf dringt, einen „fairen Wettbewerb und gute Arbeitsbedingungen auf Post- und Paketmärkten“ durchzusetzen (19/10199).«
Nehmen wir beispielhaft den Antrag der Grünen: Fairen Wettbewerb und gute Arbeitsbedingungen auf Post- und Paketmärkten durchsetzen. Die Analyse der bestehenden Situation, die dem Antrag zugrunde liegt, ist unstrittig:
»Für den Paketmarkt hat die Bundesnetzagentur festgestellt, dass die Deutsche Post AG und ihre Wettbewerber, etwa Hermes, UPS, GLS und DPD eine Outsourcing-Strategie betreiben. Diese geht auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. So erhalten Beschäftigte der Post-Tochtergesellschaften DHL Delivery aktuell noch deutlich niedrigere Löhne als das Personal im Mutterkonzern. Die Lohndifferenz kann für die gleiche Arbeit mehr als 1000 Euro im Monat betragen. Die Deutsche Post hat angekündigt, diese Praxis zu beenden, doch in anderen Unternehmen fallen die Löhne und Arbeitsbedingungen teilweise noch deutlich schlechter aus. Die Gewerkschaften bezeichnen die Arbeitsbedingungen in der Branche als vielfach prekär. Die Branche ist geprägt durch Leiharbeit, Werkverträge, Scheinselbstständigkeit und ein schwer zu durchschauendes Geflecht von Sub- und Subsubunternehmen. Besonders prekär ist die Beschäftigungssituation, wenn es sich um entsandte Beschäftigte aus osteuropäische Staaten handelt. Sie arbeiten teilweise ohne Arbeitsvertrag, Kündigungsschutz und Sozialversicherung und häufig wird der Mindestlohn unterlaufen und das Arbeitszeitgesetz missachtet.«
Was tun oder was könnte/sollte/müsste man tun?
»Eine Nachunternehmerhaftung … ist notwendig, jedoch nicht ausreichend, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer effektiv zu schützen. Insbesondere ausländische Beschäftigte aus Niedriglohnländern kennen oftmals ihre Rechte nicht und können sich auf Grund ökonomischer Sachzwänge auch nicht gegen Arbeitgeber zur Wehr setzen, die gesetzliche Mindeststandards unterlaufen. Deshalb ist auch eine bessere Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit unerlässlich, um Missbrauch schneller festzustellen und abzustellen. Darüber hinaus sind auch eine Stärkung der Tarifbindung, ein Reform der Leiharbeit, Maßnahmen gegen Scheinselbstständigkeit und eine Anpassung der Regelungen zur Erfassung der Arbeitszeit der Angestellten notwendig.«
Die Grünen konkretisieren diese Punkte in einem Forderungskatalog, der aufzeigen kann, dass man deutlich weiterreichende Maßnahmen ergreifen müsste als nur eine Nachunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge einzuführen:
Die Bundesregierung soll im Paketmarkt den fairen Wettbewerb fördern und die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Paketbranche verbessern, indem sie
a) eine Nachunternehmerhaftung einführt, mit der die General- oder Hauptunternehmer auch für die Sozialversicherungsbeiträge der Beschäftigten in Subunternehmen haften;
b) die gesetzliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit in dieser Branche dahingehend verändert, dass der Beginn der täglichen Arbeitszeit jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie das Ende und die Gesamtdauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung aufzuzeichnen sind;
c) die Finanzkontrolle Schwarzarbeit personell besser ausstattet und die Kontrollen in der Branche intensiviert;
d) sich für einen Mindestlohntarifvertrag einsetzt, der im Arbeitnehmer-Entsendegesetz allgemeinverbindlich erklärt wird und auch für Subunternehmer aus dem Ausland gilt;
e) die Kriterien bei der Abgrenzung zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung eindeutig und praxistauglich schärft, um Scheinselbstständigkeit zu verhindern;
f) die Leiharbeit fair ausgestaltet, indem das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ab dem ersten Tag und ein Flexibilitätsbonus in Höhe von 10 Prozent des Bruttolohns als Ausgleich für höhere Flexibilitätsanforderungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz festgeschrieben werden;
g) der zuständigen Gewerkschaft im Betrieb ein Verbandsklagerecht bei Missbrauch von Werk- und Dienstverträgen und Leiharbeit ermöglicht. (Bundestags-Drucksache 19/10199 vom 15.05.2019, S. 4; Hervorhebungen nicht im Original).
An der Liste kann man erkennen, was alles erforderlich wäre, um wirklich einen größeren Schritt nach vorne zu kommen.
Es wäre viel gewonnen, wenn die auch von den Grünen erwähnte Outsourcing-Strategie bei den Paketzustellern dahingehend verändert und umgekehrt wird, dass die Paketdienste (wieder) eigene, bei ihnen angestellte Zusteller beschäftigen und das der Regel- und nicht der Ausnahmefall wäre.
Und man kann und müsste eigentlich noch weiter gehen, denn das Thema Paketzustellung hat auch eine umweltpolitische Dimension angesichts der gewaltigen Expansion dieser Branche im Zuge des immer stärker in Anspruch genommenen Online-Handels, denn die Zustellung an die Haustür durch unterdurchschnittliche und miteinander in einem harten Preiswettbewerb stehenden Zustelldienste führt nicht nur zu immer unerträglicher werdenden Verkehrsproblemen gerade in den Städten, sondern das ist auch ein kausaler Faktor für die hier beklagten Zustände bei den Arbeitsbedingungen. An dieser Stelle könnte man durchaus von anderen Ländern lernen. Über das Beispiel Dänemark berichtete das ARD-Wirtschaftsmagazin „Plusminus“ im Dezember 2018 inmitten der Paketflut vor dem Weihnachtsfest unter der Überschrift Paket-Flut – Wie Geschenke ohne Chaos ankommen:
»Üble Arbeitsbedingungen und Verkehrschaos. Ist das in ganz Europa so? „Plusminus“ hat in Dänemark eine Lösung gefunden: Dort werden Arbeitsbedingungen von der Polizei streng kontrolliert. Rund 70 Prozent aller Arbeitnehmer sind in Gewerkschaften, die zum Generalstreik aufrufen, wenn Tarifverträge nicht eingehalten werden. Dazu kommt: Ein Paket-Verkehrschaos gibt es in Dänemark nicht. In Roskilde beispielsweise sorgt eine sogenannte „Citylogistik“ für freie Straßen: In einem Lager werden alle Pakete gesammelt und dann für Rathaus, Behörden und 150 Schulen und Kindergärten mit Elektrofahrzeugen nur noch gebündelt zugestellt. Immer mehr Kommunen nutzen das Angebot, sagt der Anbieter Thomas Marschall. „Ich denke, es geht hier nicht darum, was am billigsten ist, sondern was es für einen Nutzen bringt. Es ist anstrengend, den ganzen Tag unterbrochen zu werden, von verschiedenen Paketdiensten. Wir kommen nur einmal, mit allen Paketen. Nämlich dann, wenn du sagst, du willst unterbrochen werden.“
Auch private Pakete werden in Dänemark anders verteilt: Sie werden nicht nach Hause gebracht, sondern liegen in Kiosken, in Supermärkten oder in Paketboxen. Die gibt es dort an jeder Ecke und sie sind viel günstiger: Das Paket an die Packstation kostet knapp acht Euro, an die Haustür mit 15 Euro fast das Doppelte. Eine Paket-Flut mit allen negativen Auswüchsen wie in Deutschland gibt es in Dänemark also nicht. Für den dänischen Umweltdezernenten Karim Friis Arfaoui gibt es dafür einen einfachen Grund: Der hohe Preis für die Haustürlieferung. „Der Preis für Pakete musste klar erhöht werden, damit es erschwert wird, sich alles nach Hause liefern zu lassen. Ich denke, es ist in allen Bereichen eine Balance, wo du Preise erhöhen kannst und damit das Bewusstsein der Menschen veränderst, damit sie sich im Alltag ökologisch verhalten.“«
Ein Modell wie in Dänemark wird es in Deutschland aber nur geben, wenn Städte und Kommunen eingreifen.
Fazit: In der Logik der kleinteiligen Regelungsmechanik ist die nun vorgesehene Kopie der Nachunternehmerhaftung – wohlgemerkt für Sozialversicherungsbeiträge der Subunternehmen – aus der Bau- und Fleischwirtschaft verständlich, kann man mit dieser Mechanik doch umgehen. Aber aufgrund der dargestellten praktischen Restriktionen sollte man sich hinsichtlich der Effektivität hinsichtlich des angestrebten Ziels nicht wirklich viel versprechen. Diese Begrenzungen nicht sehen zu wollen, mag zwar verständlich sein vor dem Hintergrund, dass man angesichts der anstehenden Wahlen symbolische Erfolge bilanzieren will, aber es kann die Realitäten nicht wegdefinieren. Und man sollte sich wahrlich davor hüten, das als großen Durchbruch zu feiern, der für die betroffenen Paketboten nun endlich deutlich bessere Arbeitsbedingungen bringen wird. Es wäre schön, wenn das so wäre, aber nüchtern gesehen sprechen die bisherigen Erfahrungen dagegen. Und das werden dann viele Menschen wahrnehmen als Politik der „heißen Luft“.