Pflege-TÜV 2.0: Noten werden abgeschafft. Also nicht in den Schulen, aber in der Pflege und dort soll schrittweise ein neues „Pflegetransparenzsystem“ eingeführt werden

Wer erinnert sich nicht an die vielen kritischen Berichte über die „Pflegenoten“ für Pflegeheime. Denn die haben den Eindruck erweckt, dass Deutschland flächendeckend ein Land der Einser-Einrichtungen sei. Dass selbst Heime, die wegen gravierender Pflegemängel in den Fokus der Berichterstattung und der Aufsichtsbehörden genommen wurden, auf dem Papier mit Bestnoten geglänzt haben. Bisher liegt die Durchschnittsnote für Deutschlands Heime bei 1,2. Und die massive Kritik an dem dahinter stehenden Bewertungssystem wurde über Jahre vorgetragen.

So beginnt der Beitrag Neuer Anlauf beim „Pflege-TÜV“: Jetzt wird aber wirklich alles besser. Oder doch nicht? vom 22. November 2018. Die Absichten bei der Einführung des Systems waren die besten. Mit einem Benotungssystem für Pflegeheime sollten „schwarze Schafe“ kenntlich gemacht, der Wettbewerb gefördert und den „Kunden“ ein verlässlicher Qualitätsüberblick geboten werden. Angesichts der Tatsache, dass mehr als 300.000 Pflegebedürftige und ihre Angehörigen suchen jedes Jahr einen Heimplatz suchen, eine ehrenwerte und wichtige Sache. Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (§ 115 Abs. 1a SGB XI) wurde seit Juli 2008 erstmals die Möglichkeit für Versicherte geschaffen, relevante Prüfergebnisse des MDK und des PKV-Prüfdienstes in der stationären Pflege laienverständlich zugänglich zu machen. Doch einige Jahre nach seiner Einführung gaben Experten dem sogenannten Pflege-TÜV selber mieseste Noten. Irgendwann hat man auch in der Politik ein Einsehen gehabt, dass es so nicht weitergeht. Der Gesetzgeber hat daraufhin im Jahr 2015 die Betreiber von Pflegeeinrichtungen und -diensten sowie die Krankenkassen verpflichtet, bis zum Frühjahr 2017 ein neues Bewertungsverfahren zu entwickeln – aber die kamen wie so oft nicht termingerecht in die Puschen.

Aber die Maschinerie war angelaufen und im Hintergrund wurde der Auftrag bearbeitet. Wie könnte ein neuer Pflege-TÜV aussehen, der deutlich aussagekräftiger ist als das bislang angewendete Modell der Pflege-Noten? Mit dieser Frage haben sich das Institut für Pflegewissenschaft an der Uni Bielefeld (IPW) und das Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen aQua im Auftrag des Qualitätsauschuss Pflege beschäftigt. Einem Gremium, das paritätisch mit Vertretern von Leistungserbringern und den Pflegekassen als Kostenträger besetzt ist. Das wäre ein eigenes Thema der kritischen Auseinandersetzung. Aber hier interessiert: Was ist rausgekommen? Seit vergangenem Herbst liegen den Heimbetreibern und Krankenkassen Empfehlungen von Wissenschaftlern für einen neuen Pflege-TÜV vor. Seit dem Herbst 2018 liegen den Heimbetreibern und Krankenkassen Empfehlungen von Wissenschaftlern für einen neuen Pflege-TÜV vor (vgl. dazu beispielsweise Gutachter schlagen komplett neuen Pflege-TÜV vor).

Im November 2018 konnte hier berichtet werden: Künftig soll es anstelle einiger weniger Noten, die zu einer Gesamtnote zusammengezogen werden, 25 Einzelbewertungen geben. Die Schulnoten-Struktur wollen die Gutachter durch vier Bewertungsstufen ersetzt sehen – von „keine oder geringe Qualitätsdefizite“ bis „schwerwiegende Qualitätsdefizite“. Bewertet werden sollen unter anderem Unterstützung bei Mobilität, Essen, Trinken oder Medikamenteneinnahmen, das Schmerzmanagement und Hilfen bei der Körperpflege. Vorgeschlagen werden sechs Qualitätsaspekte, die bei zukünftigen Prüfungen berücksichtigt werden sollen.

Und nun, im März 2019, erreichen uns solche Meldungen: Pflegenoten werden abgeschafft – Pflege-TÜV wird reformiert: »Der erweiterte Qualitätsausschuss von Krankenkassen und Heimbetreibern billigte eine ensprechende Reform. Künftig soll geprüft und dargestellt werden, wie gut sich die Pflege tatsächlich auswirkt – etwa beim Erhalt von Mobilität und Selbstständigkeit im Alltag. Die bisherigen Pflegenoten werden abgeschafft. Sie werden seit Jahren als zu positiv kritisiert. Bis Ende 2020 soll jedes Heim nach den neuen Regeln geprüft worden sein.« Und vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen sehr optimistisch: „Pflege-TÜV“ künftig ohne Traumnoten: »Die bisherigen Heim-Bewertungen kranken zudem daran, dass sie sich schwerpunktmäßig auf die Dokumentation der Heime stützen – also das Festhalten der Pflegearbeit in Unterlagen. Künftig soll geprüft und dargestellt werden, wie gut die Pflege wirklich ist – zum Beispiel beim Erhalt von Mobilität und Selbstständigkeit im Alltag. Vom Vermeiden schwerer Stürze bis zur Unterstützung im Notfall sollen die Ergebnisse dargestellt werden.« Hört sich doch gut an.

Grundlage der Berichterstattung ist diese Mitteilung des GKV-Spitzenverbandes, der die Pflegekassen vertritt, nachdem der erweiterte Qualitätsausschuss Pflege von Krankenkassen und Heimbetreibern grünes Licht für die Reform gegeben hat: Neues Pflegetransparenzsystem für Heime ab 1. November 2019. Dort wird Gernot Kiefer vom GKV-Spitzenverband mit diesem Ausblick auf die Zeitscheine zitiert: „Das neue Pflege-Transparenzsystem ist beschlossen und am 1. November beginnen in den Pflegeheimen endlich die Prüfungen nach dem neuen Qualitätssystem. Bereits im Frühjahr 2020 werden erste Ergebnisse veröffentlicht und bis Ende 2020 soll jedes Heim nach den neuen Regeln geprüft worden sein.“ Und was ist neu?

»In die Qualitätsinformationen nach dem neuen 3-Säulen-System fließen die Ergebnisse aus Qualitätsprüfungen, aus Qualitätsindikatoren und aus Einrichtungsinformationen ein.« Hört sich kompliziert an. Der GKV-Spitzenverband erläutert das so: »Die neue Qualitätsdarstellung beruht auf drei Säulen: Berücksichtigt werden zukünftig Ergebnisse aus Qualitätsprüfungen wie z. B. die Unterstützung Pflegebedürftiger bei der Ernährung, Körperpflege oder Wundversorgung. Weiterhin werden Ergebnisse berücksichtigt von Qualitätsindikatoren wie z. B. zur Mobilitätserhaltung, bei der Verhinderung von Druckgeschwüren oder die Anwendung von Gurtfixierungen und Bettgittern. Als dritte Säule ergänzen die sog. Einrichtungsinformationen die Ergebnisse der externen Qualitätsprüfung und Qualitätsindikatoren, dazu gehören u.a. die Erreichbarkeit der Pflegeeinrichtung, die Möglichkeit des Probewohnens oder die Personalausstattung.«

Dem einen oder anderen mag das zu abstrakt sein, deshalb hier eine Beschreibung dessen, was auf die Pflegeheime (und zeitversetzt auch auf die ambulanten Pflegedienste) in Zukunft zukommen wird. Dazu aus dem Statement von Jürgen Brüggemann, dem Leiter des Teams Pflege beim MDS, dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen:

»In Zukunft prüft der MDK sechs verschiedene Qualitätsbereiche, die in 24 Qualitätsaspekte unterteilt sind. 21 dieser Aspekte beziehen sich unmittelbar auf die Bewohner. Dabei geht es darum, zu schauen, wie die Prozesse ganz konkret bei der Bewohnerin oder dem Bewohner ablaufen und welches Pflegeergebnis ankommt … Neu an der Qualitätsprüfung ist, dass das interne Qualitätsmanagement mit der externen Qualitätsprüfung des MDK verknüpft wird … dabei (spielen) die Indikatoren, die von den Einrichtungen selbst erhoben und an eine Datenauswertungsstelle übermittelt werden, eine wichtige Rolle. Die Datenauswertungsstelle (DAS) wählt nach dem Zufallsprinzip Bewohner aus, die in die externe Qualitätsprüfung einbezogen werden sollen. Die Pflegeeinrichtungen erfahren im Vorfeld jedoch nicht, um welche Personen es sich da- bei handelt. Der MDK bekommt hierfür vor der Qualitätsprüfung von der DAS Bewohnercodes sowie Informationen über die Indikatorenergebnisse der Einrichtung. Die Qualitätsprüfung erfolgt wie bisher im Auftrag der Landesverbände der Pflegekassen, sie ist zukünftig jedoch einen Tag zuvor anzukündigen … mit Hilfe der Codes (werden) neun Bewohner ausgewählt, bei denen die Qualität der Pflege und Betreuung bewertet werden soll. Die Teilnahme an der Stichprobe ist freiwillig, eine Einwilligung der Bewohner ist notwendig.
Die MDK-Qualitätsprüfer bewerten Schritt für Schritt die Versorgungsqualität für jeden ein- zelnen Bewohner. Sie sprechen mit dem Bewohner und stellen durch Inaugenscheinnahme den Versorgungszustandes fest. Dies erfolgt sozusagen durch den „Blick unter die Bettde- cke“. Zentral ist dabei auch das Fachgespräch mit den Mitarbeitern der Pflegeeinrichtun- gen. Die Bedeutung der Pflegedokumentation rückt in den Hintergrund … Bei sechs der neun untersuchten Bewohner überprüft der MDK auch, ob die Ergebnisse der Prüfung mit den Daten übereinstimmen, die von der Einrichtung selbst erhoben und für die Berechnung der Indikatoren an die Datenauswertungsstelle übermittelt worden sind − beispielsweise ob die Angaben der Einrichtung zum Gewichtsverlauf plausibel sind … Nach der Prüfung tragen die MDK-Mitarbeiter in einem Teamgespräch die Ergebnisse der Qualitätsprüfung zusammen und legen Themen für das Abschlussgespräch fest. Im Abschlussgespräch erläutern die Qualitätsprüfer den Pflegefachkräften, die Ergebnisse der Prüfung, und sie beraten das Heim ganz konkret. Beratungsgegenstand können dabei sowohl unterdurchschnittliche Indikatorenergebnisse als auch gehäufte Qualitätsdefizite bei einzelnen Qualitätsaspekten sein.«

Man kann dieser sicher idealtypischen Darstellung bereits entnehmen, dass es in den kommenden Monaten differenzierte Diskussionen über die Art und Weise der Prüfungen geben wird und was das für die Beschäftigten in den Pflegeheimen bedeuten wird. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, hat sich optimistisch zu Wort gemeldet: Pflegebevollmächtigter lobt neuen Pflege-TÜV als Durchbruch. „Ab Frühjahr 2020 wird den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen ein wirklich aussagekräftiges Bewertungssystem zur Verfügung stehen. Es wird dann möglich sein, sich gut informiert für oder auch gegen eine Pflegeeinrichtung zu entscheiden“, so wird er zitiert. Die Umsetzung der neuen Qualitätsprüfverfahren fordere zwar „eine große Kraftanstrengung und einen hohen Einsatz von den Mitarbeitern“, sagte der Pflegebevollmächtigte. „Ich bin mir aber sicher, dass das neue System bald auch zu einer besseren Arbeitszufriedenheit führen wird, da es das einrichtungsinterne Qualitätsmanagement verändern wird.“ Da darf man gespannt sein.

Auch wenn das nun von vielen gelobt wird, dass man sich verabschieden will von den Pflegenoten, vor allem von der einen Note, der man bislang vorgeworfen hat, dass sie mehr zukleistert und negative Aspekte verwässert – unumstritten ist das nicht, denn damit steigt natürlich auch die Komplexität der Darstellung der einzelnen Ergebnisse und damit baut sich möglicherweise eine neue Hürde auf für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Kritik an dem neuen Ansatz kommt beispielsweise von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Das empfohlene Punktesystem sei „benutzerunfreundlich“, so Vorstand Eugen Brysch. „Jedes Jahr müssen mehr als 300.000 Pflegebedürftige in Deutschland ein Pflegeheim suchen. Dazu soll der Pflege-TÜV eine schnelle Einschätzung bieten. Es ist jedoch fraglich, ob das jetzt verabschiedete Modell diese rasche Bewertung ermöglicht. Denn es wird weder eine aussagefähige Gesamtnote noch K.O.-Kriterien geben. Wer aber bei der Schmerztherapie, der Wundversorgung, dem Umgang mit Fixierung oder der Medikamentengabe durchfällt, darf nur die Note 6 bekommen. Die Menschen brauchen einen Pflege-TÜV, der leicht verständlich ist, die Praxis abbildet und eine schnelle Vergleichbarkeit ermöglicht. Hier muss der Qualitätsausschuss Pflege nacharbeiten“, so Eugen Brysch in der Pressemitteilung Pflege-TÜV: Aussagefähige Gesamtnote und K.O.-Kriterien fehlen der Stiftung.

Aber eines kann und darf nicht aus den Augen verloren werden – die Rahmenbedingungen, unter denen die Pflegekräfte vor Ort ihre Arbeit verrichten (müssen).Gemäß der Lebensweisheit, dass das Schwein vom Wiegen nicht fetter wird, kann man die so wichtige Qualitätsdiskussion nicht isoliert führen, ohne Fragen der Personalausstattung und sonstiger Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Was nicht so verstanden werden darf, dass die Rahmenbedingungen mit der Pflegequalität eindeutig positiv oder negativ korreliert sind. Aber sie haben sicher einen gewichtigen Einfluss.

Auf diesen Punkt beziehen sich auch die Anmerkungen von Tobias Schmidt in seinem Artikel Neuer Heim-TÜV könnte zu Zwei-Klassen-Pflege führen: Auch er beginnt positiv bzw. mit einem Blick auf die Potenziale: »Die Einigung auf einen neuen Pflege-TÜV, der die Realität ungeschönt offenlegt, ist ein großer Fortschritt. Die Abschaffung der Gesamtnote darf aber nicht zu neuer Verwirrung führen. Nur, wenn das Indikatoren-System so dargestellt wird, dass Heim-Sucher „Schwarze Schafe“ unter den Einrichtungen erkennen und ein für sie passendes Haus finden, kann die Reform weiterhelfen.« Dann kommt das Aber:

»Die meisten Betroffenen dürften allerdings nur dann profitieren, wenn zwei weitere Bedingungen erfüllt werden: Betreiber müssen ausreichend Personal finden und bezahlen können, um bei der strengeren Bewertung eine Chance zu haben. Und Häuser, die gut abschneiden, müssen bezahlbar bleiben. Sollten die Zuzahlungen für Heimunterbringungen ungebremst weiter steigen und die Personalnot noch akuter werden, dann wird der neue Pflege-TÜV zum Turbo in Richtung Zwei-Klassen-Pflege: Auf der einen Seite Vorzeige-Heime mit zahlungskräftigen Bewohnern, auf der anderen Seite schlecht bewertete Einrichtungen mit vernachlässigten Bedürftigen und überforderten Pflegern.«