Neuer Anlauf beim „Pflege-TÜV“: Jetzt wird aber wirklich alles besser. Oder doch nicht?

Wer erinnert sich nicht an die vielen kritischen Berichte über die „Pflegenoten“ für Pflegeheime. Denn die haben den Eindruck erweckt, dass Deutschland flächendeckend ein Land der Einser-Einrichtungen  sei. Dass selbst Heime, die wegen gravierender Pflegemängel in den Fokus der Berichterstattung und der Aufsichtsbehörden genommen wurden, auf dem Papier mit Bestnoten geglänzt haben. Bisher liegt die Durchschnittsnote für Deutschlands Heime bei 1,2. Und die massive Kritik an dem dahinter stehenden Bewertungssystem wurde über Jahre vorgetragen. »Der „Pflege-TÜV“ sollte Orientierung bei der Auswahl von Heimen bieten. Doch wer sich auf ihn verlässt, wird irregeführt«, so als ein Beispiel von vielen Rainer Woratschka im Jahr 2014 unter der Überschrift Noten für Heime sind irreführend. Die Absichten bei der Einführung des Systems waren die besten. Mit einem Benotungssystem für Pflegeheime sollten „schwarze Schafe“ kenntlich gemacht, der Wettbewerb gefördert und den „Kunden“ ein verlässlicher Qualitätsüberblick geboten werden. Doch fünf Jahre nach seiner Einführung geben Experten dem sogenannten Pflege-TÜV selber mieseste Noten. „Wenn ich ein Heim für meine Mutter suchen müsste, würde ich die Pflegenoten nicht zur Grundlage meiner Entscheidung machen“, wurde der damalige Pflegebeauftragte der Regierung, Karl-Josef Laumann, zitiert.

Irgendwann hat man selbst in der Politik ein Einsehen gehabt, dass es so nicht weitergeht. Der Gesetzgeber hat daraufhin im Jahr 2015 die Betreiber und die Krankenkassen verpflichtet, bis zum Frühjahr 2017 ein neues Bewertungsverfahren zu entwickeln. Aber im Sommer des vergangenen Jahres musste man dann solche Nachrichten zur Kenntnis nehmen: »Doch die Frist wurde nicht eingehalten. Nach einer europaweiten Ausschreibung arbeiteten Wissenschaftler nun seit einem halben Jahr an einer neuen Grundlage für bessere Qualitätsmessung und Qualitätsdarstellung, sagt Gernot Kiefer vom Spitzenverbands der gesetzlichen Kassen. „Wir rechnen damit, dass deren Ergebnisse im Sommer 2018 vorliegen.“ Danach werde „umgehend“ mit der Umsetzung begonnen«, so Rainer Woratschka am 20. Juli 2017 unter der Überschrift Kein Überblick im Pflegedschungel. Eine Folge dieser Verzögerung: »Die Pflegebedürftige und ihre Angehörigen müssen sich noch bis mindestens 2019 mit einem Pflege-TÜV begnügen, der über den wirklichen Zustand der Einrichtungen kaum etwas verrät. Weil sich im bisherigen Prüfsystem alle negativen Befunden mit positiven – also etwa auch gesundheitsgefährdende Pflegemängel mit schön gestaltenen Speisekarten – ausgleichen lassen, befindet sich die Qualität der deutschen Pflegeheime trotz zahlreicher Missstände auf dem Papier in Bestzustand.«

Schon damals gab es immer wieder diese Kritik an der in Auftrag gegebenen Neukonzeption der Qualitätsbewertung: »Es sei ein Fehler gewesen, „die gleichen Akteure mit der Weiterentwicklung des Pflege-TÜVs zu beauftragen, die schon beim alten System versagt haben“, findet indessen die Stiftung Patientenschutz. Statt wieder alles den Kassen und Anbietern zu überlassen, brauche es dafür ein unabhängiges Gremium, in dem auch Betroffene „ausreichend Sitz und Stimme haben“.« Und es gab und gibt Alternativvorschläge, wie beispielsweise das Projekt Weisse Liste der Bertelsmann-Stiftung, die dazu mit den Dachverbänden der Patienten- und Verbraucherschützer zusammengearbeitet hat. Woratschka berichtete dazu im vergangenen Jahr:

Danach sei es „ohne großen Aufwand möglich, entscheidungsrelevante Informationen bereitzustellen“. Wie das aussehen könnte, zeigt die Stiftung in einem Konzept, das sie mit Experten aus Wissenschaft und Betroffenenverbänden erarbeitet hat. „Die Pflegeanbieter sollten verpflichtet werden, über Leistungs- und Ausstattungsmerkmale Bericht zu erstatten, welche die Lebensqualität von Pflegebedürftigen maßgeblich beeinflussen“, heißt es darin. Statt Dezimalzahlen oder Noten sollte es „ein rotes Warndreiecke für besonders schlechte und einen grünen Daumen für besonders gute Pflegequalität“ geben. Auf Online-Plattformen sollte auch das „Erfahrungswissen“ von Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitern nachzulesen sein. Und Pflegeanbieter und -kassen sollten auch Auskunft darüber erteilen müssen, „wie viele Pflegebedürftige ein Pflegender betreut und wie das Personal qualifiziert ist.“

Das ist Schnee von gestern, wenn man der aktuellen Berichterstattung Glauben schenken darf: Gutachter schlagen komplett neuen Pflege-TÜV vor, berichtet beispielsweise die „Ärzte Zeitung“: »Wie könnte ein neuer Pflege-TÜV aussehen, der deutlich aussagekräftiger ist als das bislang angewendete Modell der Pflege-Noten? Mit dieser Frage haben sich das Institut für Pflegewissenschaft an der Uni Bielefeld (IPW) und das Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen aQua im Auftrag des Qualitätsauschuss Pflege beschäftigt. Einem Gremium, das paritätisch mit Vertretern von Leistungserbringern und Pflegekassen besetzt ist.« Herausgekommen ist das hier: Künftig soll es anstelle einiger weniger Noten, die zu einer Gesamtnote zusammengezogen werden, 25 Einzelbewertungen geben. Die Schulnoten-Struktur wollen die Gutachter durch vier Bewertungsstufen ersetzt sehen – von „keine oder geringe Qualitätsdefizite“ bis „schwerwiegende Qualitätsdefizite“. Bewertet werden sollen unter anderem Unterstützung bei Mobilität, Essen, Trinken oder Medikamenteneinnahmen, das Schmerzmanagement und Hilfen bei der Körperpflege. Vorgeschlagen werden sechs Qualitätsaspekte, die bei zukünftigen Prüfungen berücksichtigt werden sollen:

Das ist natürlich nur ein Auszug aus dem, was zukünftig gemacht werden soll. In dem Artikel Pflege-TÜV soll verlässlicher werden wird darauf hingewiesen, dass die Heimbetreiber zunächst einmal Selbstangaben für alle Bewohner liefern sollen. »In Zeitreihen haben sie Rechenschaft etwa über Mobilitätsverlust, Sturzverletzungen, die Entstehung von Druckgeschwüren oder den Einsatz von Bettgittern und Gurten abzulegen. Im Folgenden sind dann Stichproben durch externe Prüfer des Medizinischen Dienstes vorgesehen – bei bis zu neun Bewohnern pro Einrichtung. Getestet werden soll die Qualität in 18 verschiedenen Pflegebereichen. Und für all die soll es dann nur noch ein Punktesystem nach vier Kategorien geben: keine oder geringe Qualitätsdefizite, moderate Qualitätsdefizite, erhebliche Qualitätsdefizite und schwer wiegende Qualitätsdefizite. Auf Schulnoten soll künftig verzichtet werden. Begründung: Die Noten seien durch die Debatte um ihre fehlende Aussagekraft beim Pflege-TÜV „in Verruf geraten“.«

Das alles geht zurück auf diese umfangreiche Ausarbeitung der vom Qualitätsausschuss Pflege beauftragten Wissenschaftler:

➔ Klaus Wingenfeld et al. (2018): Entwicklung der Instrumente und Verfahren für Qualitätsprüfungen nach §§ 114 ff. SGB XI und die Qualitätsdarstellung nach § 115 Abs. 1a SGB XI in der stationären Pflege. Abschlussbericht: Darstellung der Konzeptionen für das neue Prüfverfahren und die Qualitätsdarstellung. Im Auftrag des Qualitätsausschusses Pflege, Bielefeld/Göttingen, 3. September 2018

Und wer lieber eine Kurzfassung zur Hand nehmen möchte:
➔ Klaus Wingenfeld et al. (2018): Zusammenfassung der Konzeption für das neue Prüfverfahren und die Qualitätsdarstellung in der stationären Pflege. Kurzfassung des Abschlussberichts zum Projekt „Entwicklung der Instrumente und Verfahren für Qualitätsprüfungen nach §§ 114 ff. SGB XI und die Qualitätsdarstellung nach § 115 Abs. 1a SGB XI in der stationären Pflege“. Im Auftrag des Qualitätsausschusses Pflege, Bielefeld/Göttingen, 8. Oktober 2018

Das hört sich nach einem Durchbruch an. Aber schauen wir genauer hin – Christiane Badener berichtet in ihrem Artikel: »Geprüft werden sollen diese Kriterien stichprobenartig an der Versorgung von bis zu neun Heimbewohnern durch den Medizinischen Dienst. Die Qualitätsbeurteilung soll dann nicht mehr in Pflegenoten analog der Schulnoten, sondern in vier Kategorien erfasst werden. Diese reichen von „Keine oder geringe Qualitätsdefizite“ bis zu „Schwerwiegende Qualitätsdefizite“. Die Wissenschaftler halten es für lebensfremd, dass es in einem Pflegeheim überhaupt keine Defizite geben kann … Die Wissenschaftler schlagen vor, die Prüfungen mindestens 24 Stunden vorher anzumelden. Bislang wird eine Prüfung nicht angekündigt. Bei der Erprobung des neuen Konzepts habe sich gezeigt, dass angekündigte Besuche reibungsloser verliefen. Da das neue Konzept weniger wie bisher die Dokumentation, dafür mehr die Ergebnisqualität in den Mittelpunkt rücke, gebe es weniger Spielräume für Manipulationen. Dafür müssten aber zunächst die juristischen Voraussetzungen geschaffen werden.«

Diesen ersten Hinweise werfen sofort eine Reihe an Fragen auf, die den einen oder anderen skeptisch stimmen werden. Was sagt der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, zu den Vorschlägen der Wissenschaftler? In dem Artikel Mehr Klarheit vom Pflege-TÜV von Ramses Buchsteiner wird er so zitiert: Das nun vorgelegte »Konzept sei ein guter und überfälliger Schritt in die richtige Richtung. „Schwarze Schafe“ müssten erkennbar werden. „Aber wo Licht ist, gibt es auch Schatten: Wenn ich den Bericht richtig interpretiere, werden bestimmte Prüfergebnisse von der Veröffentlichung ausgeschlossen, weil die Information zum Beispiel schwer vermittelbar sei – genannt werden freiheitsentziehende Maßnahmen ohne Einwilligung oder richterliche Genehmigung. Das sind für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen aber wichtige Informationen“, so Westerfellhaus weiter. „Das Konzept sollte deshalb sämtliche Prüfergebnisse zur Veröffentlichung freigeben und die Daten sollten so aufbereitet werden, dass sie jeder auswerten und veröffentlichen kann.“«

Und es folgen andere, kritische Stimmen: »Patientenschützer sind angesichts der vorgelegten Empfehlungen keinesfalls euphorisch. „Das vorgeschlagene Punktesystem der Wissenschaftler ist nicht benutzerfreundlich“, so Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz. „Vielmehr braucht es eine Gesamtnote und pflegerelevante K.o.-Kriterien. Dazu gehören die Schmerztherapie und die Verhinderung von Wundgeschwüren, die Gabe von Medikamenten sowie die Behandlungspflege.“ Auch besondere Hilfen für Demenzkranke und Sterbende hätten eine herausragende Bedeutung.«

»Die Richtung stimmt, denn das neue Bewertungssystem konzentriert sich auf die wesentlichen Indikatoren, die zeigen, wie ein Mensch tatsächlich betreut und gepflegt wird. Auf die Vergabe einer einzigen Note wird zu Recht verzichtet, schließlich wird eine derartig knappe Darstellung dem komplexen Thema Pflegequalität überhaupt nicht gerecht. Ein gravierender Fehler ist allerdings, dass eine anschauliche Aufbereitung und klare Zusammenfassung der Informationen fehlt. Wer ein geeignetes Pflegeheim sucht, soll sich künftig durch einen 26-seitigen (!) Bericht wühlen«, so die Kommentierung von Timot Szent-Ivanyi unter der Überschrift Bei der Pflege braucht es klare Vorgaben. Seine Sicht auf das Thema: »… für viele Menschen dürften die ausgewählten Pflege-Aspekte nur schwer verständlich sein. Sie benötigen einige wenige empfehlende oder warnende Aussagen, wie sie längst bei Bewertungsportalen im Internet üblich sind: Daumen hoch, Daumen runter. Dabei sollten bestimmte Punkte als K.o.-Kriterien ausgewählt werden: Wenn die Wundversorgung nicht klappt oder die Ernährung mangelhaft ist, darf der Daumen nur nach unten zeigen.«

»Doch aus der Sicht der Kassen droht schon wieder Schönfärberei«, kann man nun diesem Artikel entnehmen: Kassen warnen vor neuerlicher Verwässerung. »Die gesetzlichen Pflegekassen haben klargestellt, dass sie das vorgelegte Expertenkonzept zur Reform des sogenannten Pflege-TÜV nicht eins zu eins übernehmen wollen. Leider seien die Vorschläge „nicht so ausgereift, wie wir uns das gewünscht hätten“, sagte Gernot Kiefer vom Vorstand des GKV-Spitzenverbands am Mittwoch. Vor allem die empfohlene Bewertung von Pflegedefiziten sei nicht streng genug. „Eine zweite Auflage von verwässerten Ergebnissen darf es nicht geben“, warnte der Funktionär.«

Konkret werden vor allem zwei Punkte angegriffen: »Die Bewertungsregeln differenzierten „nicht ausreichend zwischen guter, mittelmäßiger und schlechter Qualität“. Und die empfohlene Darstellung sei „nicht verbraucherfreundlich“. Aus dem verunglückten Pflegenoten-System habe man vor allem eines gelernt, sagte Kiefer: „Gute und schlechte Qualität in Pflegeeinrichtungen muss für jeden einfach erkennbar sein.“ Verbraucher, die seitenweise Detailergebnisse durcharbeiten und dabei noch verschiedene Verfahren der Datenerhebung berücksichtigen müssten, seien überfordert.«

Das hat Rainer Woratschka in seiner Kommentierung unter der Überschrift Statt Verbesserung droht Verwässerung aufgegriffen: »… das beschönigende System – mit bundesweitem Notendurchschnitt von 1,2 – gibt es nach wie vor. Und obwohl alle seit Jahren wissen, dass es nichts taugt, wird eine vernünftige Reform weiter auf sich warten lassen. Das Expertenkonzept dafür, das jetzt mit eineinhalbjähriger Verspätung eingetrudelt ist, verheißt zwar ein genaueres Hinschauen der Prüfer, macht aber den Fehler, den es ausräumen soll, ein zweites Mal: Es ist, was die Qualitäts-Beurteilungen betrifft, immer noch windelweich.« Und er spricht ein offensichtliches Dilemma an: »Was den erwünschten Schnellüberblick betrifft, droht sogar Verschlimmbesserung. Der Anspruch, jetzt aber mal besonders gründlich vorzugehen und die nötigen Differenzierungen nicht wieder hinter einer platten Gesamtnote verschwinden zu lassen, mündet nach den vorliegenden Plänen in einem Papier- und Online-Wust, der Laien bei der Suche nach guter Pflege am Ende nicht unterstützt, sondern völlig überfordert.«

Und Woratschka weist auf einen weiteren kritischen Punkt hin, der mit der institutionellen Einbettung zu tun hat, denn das muss an dieser Stelle deutlich hervorgehoben werden: auch die neuen Vorschläge der Wissenschaftler sind nicht das, was kommen wird, denn dafür ist der bereits erwähnte Qualitätsausschuss Pflege zuständig. Der muss das entscheiden. Und wer sitzt da drin? Dazu Woratschka kritisch: »… im Grunde ist alles so wie anno 2009 bei der Erfindung des beschönigenden Pflegenoten-Systems: Die Betreiber von Heimen und ambulanten Diensten dürfen bei den Kriterien, nach denen sie geprüft und beurteilt werden, gleichberechtigt mitreden. Der Vergleich mit den Fröschen, die man beim Trockenlegen des Sumpfes nicht fragen darf, hinkt zwar. Doch das Interesse der Verbände an möglichst milder Kontrolle und einer Beschönigung eventuell entdeckter Defizite braucht man nicht in Abrede zu stellen, es liegt auf der Hand.« Damals sei mit den Heimbetreibern einfach nicht mehr zu machen gewesen, heißt es entschuldigend seitens der Kassen. An der Stelle gibt es eine Änderung im Vergleich zu früher: Wenn es nun zu einem Konflikt kommen sollte, dann soll ein Gremium mit einem „Überparteiischen“ entscheiden. Dadurch könnte eine Blockade beispielsweise seitens der Heimbetreiber aufgehoben werden. Aber neben der Frage, ob es überhaupt „Unparteiische“ geben kann – eine Gewähr dafür, dass das Verbraucherinteresse in diesem überaus sensiblen Bereich endlich an die erste Stelle rückt, ist diese Struktur noch lange nicht.

Und Woratschka legt den Finger auf eine weitere und ziemlich große offene Wunde: »Von einem zwingend vorzuhaltenden Mindestpersonal ist bei der Reform der Qualitätskontrollen für Pflegeeinrichtungen bisher nämlich auch noch nirgendwo die Rede.«

Selbst wenn man diese berechtigte Kritik bzw. Zweifel an der Sinnhaftigkeit des neuen Anlaufs ausklammert – bis das, was da jetzt vorgelegt wurde, in welcher Form auch immer das Licht der Umsetzung erblicken darf, wird noch viel Wasser den Rhein runterfließen:

Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums ist die Umstellung des Prüfverfahrens zum Oktober nächsten Jahres geplant. Bis die Sache richtig ins Laufen komme, könne es aber Mitte 2020 werden.