Man kann es drehen und wenden wie man will – aber das Kopftuch polarisiert in unserer Gesellschaft. Von den einen wird die mindestens gefühlt zunehmende Zahl an muslimischen Frauen, die mit einem Kopftuch Verhüllungsbemühungen demonstrieren, instrumentalisiert im Sinne einer angeblichen „Islamisierung“ unseres Landes, von anderen hingegen wird das als eine ebenfalls angeblich selbstbestimmte Entscheidung der Frauen interpretiert und man müsse das tolerieren. Nun kann man argumentieren, dass die Leute im Privatleben machen können was sie wollen, solange sie nicht gegen Gesetze verstoßen oder anderen ihre mehr oder wenige eigenartige Lebensweise aufdrücken wollen. Dann muss man es hinnehmen, dass manche anscheinend Erfüllung darin finden, sich so zu kleiden. Die damit verbundene Distanz trifft ja auch mögliche andere Subgruppen, man denke an Punks oder die Immer-noch-Krawatten-tragenden-Männer in den Banken.
Wobei das letzte Beispiel mit den Banken schon mit einem Fuß in der anderen Dimension des gesellschaftlichen Miteinanders steht, dem Arbeitsleben. Denn man kann sicher plausibel davon ausgehen, dass es viele Bankangestellte gibt, die gar keine Lust haben, jeden Arbeitstag mit diesen die Halsgefäße schädigenden textilen Strangulationsvorrichtungen herumlaufen zu müssen. Aber das Zauberwort lautet: Müssen. Denn der Arbeitgeber erwartet das „im Kundenverkehr“. Man muss hier gar nicht über Sinn und Unsinn der dahinter stehenden Erwartungen oder Annahmen streiten, es ist so. Und bei so einigen anderen Berufen gibt es ebenfalls Kleidervorschriften, die eingehalten werden müssen. Wenn das so ist, dann ahnt man schon, dass wir hier angekommen sind an einer der vielen sprudelnden Quellen möglicher – in diesem Fall textiler – arbeitsrechtlicher Konflikte. Und so ist das auch mit dem Kopftuch.
Der eine oder andere wird sich an dieser Stelle erinnern an Berichte über gerichtliche Auseinandersetzungen, bei denen es um Kopftücher bei (angehenden) Lehrerinnen ging.
➔ Und manche haben dabei sogar Rechtsgeschichte mitgeschrieben. Denn selbst das Bundesverfassungsgericht musste sich mit einem solchen Konflikt befassen: Die muslimische Lehrerin Fereshta Ludin wollte als Beamtin auf Probe in den Schuldienst des Bundeslandes Baden-Württemberg eingestellt werden. Das Oberschulamt Stuttgart lehnte den Einstellungsantrag wegen mangelnder persönlicher Eignung ab, da sie nicht bereit war, während des Unterrichts auf das Tragen eines Kopftuchs zu verzichten. Insbesondere sei die mit dem Kopftuch verbundene „objektive“ Wirkung kultureller Desintegration nicht mit einer staatlichen Neutralität in Glaubensfragen zu vereinbaren. Und die Frau ist dann die ganze Leiter des Gerichtssystems hochgeklettert: Die gegen die Ablehnung der Einstellung eingereichten Klagen Frau Ludins vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart (VG Stuttgart, 24.03.2000 – 15 K 532/99), dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH Baden-Württemberg, 26.06.2001 – 4 S 1439/00) und vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, 04.07.2002 – 2 C 21.01) wurden abgewiesen. Und dann landete das vor dem höchsten deutschen Gericht. Und da wurde die bisherige Serie der Ablehnungen der Klage Ludins gegen die Nicht-Einstellung durchbrochen: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf und verwies die Sache dorthin zurück (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02).
Die beiden Leitsätze der damaligen Entscheidung des BVerfG: (1) Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage. (2) Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein. Die vorangegangenen ablehnenden Urteile würden die Frau Ludin »in ihren Rechten aus Artikel 33 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 und 2 und mit Artikel 33 Absatz 3 des Grundgesetzes« verletzen. Das BVerfG hat festgestellt: »Das Tragen eines Kopftuchs macht im hier zu beurteilenden Zusammenhang die Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur islamischen Religionsgemeinschaft und ihre persönliche Identifikation als Muslima deutlich.« Die Qualifizierung eines solchen Verhaltens als Eignungsmangel für das Amt einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen sei eine Verletzung des Rechts auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt sowie des Grundrechts der Glaubensfreiheit, »ohne dass dafür gegenwärtig die erforderliche, hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage besteht.« Das war allerdings keine einheitliche Entscheidung der Richter des Senats. Die Entscheidung ist mit fünf gegen drei Stimmen ergangen.
Das ist Schnee von gestern. Aber nun geht es erneut um das Kopftuch, das eine Frau bei der Arbeit nicht ablegen will, obgleich ihr Arbeitgeber das von ihr einfordert. Und auch dieser Fall hat es bis weit oben geschafft, in diesem Fall bis zum Bundesarbeitsgericht: »Die Drogeriekette Müller verbietet einer Verkäuferin, mit Kopftuch zu arbeiten. Den Kunden habe man sich religiös neutral zu präsentieren. Das Bundesarbeitsgericht ist am Zug«, so Günther Neufeldt in seinem Bericht Kopftuchstreit an der Ladenkasse. Den hat er vor der heutigen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts verfasst.
Wie sieht der Sachverhalt aus? »Jahrelang arbeitete eine junge Muslima in einem Drogeriemarkt im fränkischen Ansbach – ohne Kopftuch. Als sie aus der Elternzeit zurückkehrte, trug sie das Haar bedeckt und erklärte, auch bei der Arbeit dabei bleiben zu wollen. Ihr Arbeitgeber, die Drogeriemarktkette Müller, war damit nicht einverstanden. Zunächst arrangierte man sich, indem die Frau einen Job ohne Kundenkontakt annahm. Doch dann erklärte sie, weiterhin im Verkauf arbeiten zu wollen. Als der Arbeitgeber ihr das verweigerte, blieb sie zuhause. Vor Gericht macht sie jetzt ihre Gehaltsansprüche geltend.
Die Drogeriemarktkette Müller beruft sich auf das Recht des Arbeitgebers, darüber zu bestimmen, wie ein Unternehmen seiner Kundschaft gegenüber auftritt. Demnach sei es „ein legitimes Unternehmensziel, sich weltanschaulich, politisch und religiös neutral zu stellen, indem das sichtbare Tragen entsprechender Zeichen unternehmensintern untersagt wird.“ Entsprechende Richtlinien habe man für alle Mitarbeiter erlassen.«
Nun hat es bereits Urteile in dieser Angelegenheit gegeben. »Der Anwalt der Verkäuferin … argumentiert mit der Religionsfreiheit. In erster und zweiter Instanz bekam er damit Recht. Die Richter orientierten sich an einem früheren Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Danach dürfe ein Arbeitgeber die Religionsfreiheit seiner Mitarbeiter nur dann einschränken, wenn er dadurch deutliche Nachteile erleide. Das aber sei bei einer Verkäuferin im Drogeriemarkt nicht der Fall.«
Allerdings hat der Anwalt des beklagten Unternehmens, also der Drogeriemarktkette Müller, diese Argumentation vorgetragen: So »gibt es jetzt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das ein Kopftuchverbot für Beschäftigte mit Kundenkontakt unter bestimmten Voraussetzungen zulässt – nämlich dann, wenn der Arbeitgeber eine allgemeine Weisung erteilt, in der er das Tragen religiöser Symbole bei der Arbeit verbietet.« Und die Klägerin hat ja offensichtlich das Kopftuch als Symbol für ihre religiöse Überzeugung ins Feld geführt und darüber den Bezug zur geschützten Religionsfreiheit hergestellt. Es geht hier um EuGH, Urteil vom 14.03.2017, Az. C-157/15, dazu beispielsweise dieser Artikel: Neutralität ist ein berechtigtes Ziel).
➞ Man muss an dieser Stelle hervorheben, dass das Unternehmen also bereits eine allgemeine Weisung mit einem Verbot des Tragens religiöser Symbole an die Mitarbeiter herausgegeben hat. Um das zu verstehen, muss man den Hintergrund kennen: Das Unternehmen »beschäftige rund 15 000 Mitarbeiter aus 88 Nationen, womit viele Kulturen aufeinanderträfen. Um Konflikte zu vermeiden, bestehe die Verpflichtung, auf auffällige religiöse Symbole zu verzichten. In der Vergangenheit habe es bereits Konflikte gegeben. Beispielsweise habe es einen Bewerber gegeben, der sich aus religiösen Gründen geweigert habe, einer Mitarbeiterin die Hand zu geben, weil sie eine Frau sei … In einem weiteren Fall habe eine Mitarbeiterin keine Spielsachen kommissionieren wollen, mit denen man Krieg spielen könne. Sie habe dies damit begründet, dass sie Zeugin Jehovas sei.« Das sind nur zwei Beispiele.
Das Argument der beklagten Seite wurde bereits bei der nun vorletzten Instanz vorgetragen, aber: »Das bayerische Landesarbeitsgericht schlug sich trotzdem auf die Seite der Verkäuferin. Begründung: Im Streit vor dem EuGH sei es um Service-Aufgaben für einzelne Großkunden gegangen, von denen der Arbeitgeber abhängig sei. Bei einem Einzelhandelsunternehmen, das sich mit seinem Angebot an die gesamte Bevölkerung wende, sei die Situation eine andere. Außerdem sei in einem Selbstbedienungsmarkt der Kontakt des Personals mit den Kunden nicht sonderlich intensiv.«
Und wie hat nun das Bundesarbeitsgericht entscheiden? Wie hat das hohe Gericht den offensichtlichen gordischen Knoten durchgeschlagen? Gar nicht, so muss man die Frage beantworten (Beschluss vom 30.1.2019, Az. 10 AZR 299/18). Offensichtlich wollten die Richter in Erfurt ihn diesem Fall, der ja eine ganz grundsätzliche Bedeutung für alle Unternehmen hat, den Kelch weiterreichen, denn: »Das Bundesarbeitsgericht hat den Fall einer Drogerie-Mitarbeiterin an den EuGH verwiesen. Unternehmen fordern schnelle Rechtssicherheit«, so einer der Artikel zur heutigen Nicht-Entscheidung des Gerichts, der unter der Überschrift Welche Rolle dem Europäische Gerichtshof nun zukommt steht.
Michael Fuhlrott hat seinen Artikel über die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts unter diese Überschrift gestellt: EuGH könnte für Wirbel sorgen. »Das Gericht betonte zwar die Bedeutung der grundgesetzlich geschützten Religions- und Glaubensfreiheit, die einem pauschalen Kopftuchverbot entgegenstehe. Allerdings sah sich das deutsche Gericht aufgrund der insoweit die unternehmerische Freiheit stärker betonenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) an einer abschließenden Entscheidung gehindert und legte dem EuGH das Verfahren im Wege der Vorabentscheidung vor.«
Die Vorinstanzen hatten der Klage gegen die Drogeriemarktkette bestätigt und dabei so argumentiert: »Der Wunsch des Arbeitgebers nach „Neutralität“ im Betrieb sei allein kein ausreichender Grund, ein Kopftuch oder andere religiöse Zeichen zu verbieten. Vielmehr müsse der Arbeitgeber hierfür konkrete Störungen der betrieblichen Ordnung durch das Tragen eines Kopftuches darlegen. Auch ein Verlust von Kunden, die sich an einem Kopftuch störten, sei rein spekulativ. Außerdem berücksichtige diese Argumentation nicht, dass es womöglich andere Kunden gäbe, die gerade wegen einer kopftuchtragenden Arbeitnehmerin ihre Einkäufe im fraglichen Markt besorgten.«
Der entscheidende Punkt heute: Das BAG wollte diese Entscheidungen nicht mittragen und sah sich an einer abschließenden Entscheidung gehindert. Und offensichtlich ist das BAG nicht alleine mit seinen Fragezeichen. »So hatte … erst jüngst das Arbeitsgericht Hamburg (Beschl. v. 22.11.2018, Az. 8 Ca 123/18) in dem Fall einer mit einem Kopftuchverbot durch ihren Arbeitgeber belegten Kindergärtnerin das arbeitsgerichtliche Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Klärung des Verhältnisses zwischen Religionsfreiheit und unternehmerischer Freiheit ersucht.«
Und Fuhlrott wagt eine Prognose: »Da der EuGH die unternehmerische Betätigungsfreiheit vergleichsweise hoch gewichtet, spricht einiges dafür, dass sich die nationale Rechtsprechung hier verändern müssen wird: Neutralitätsvorgaben im Betrieb dürften damit womöglich künftig ausreichen, um Kopftücher oder sonstige Zeichen religiöser Bekundung zu untersagen.« Das wäre eine Entscheidung, auf die sicher viele Unternehmen vor allem mit Blick auf die Praktikabilität warten.
Aber Fuhlrott weist darauf hin, dass das Weiterreichen nach Luxemburg noch eine weitere Dimension berührt, die gerade für Deutschland mit seinem ganz eigenen Mischungsverhältnis zwischen Staat und Kirche eine Rolle spielt:
»Letztlich geht es aber mit dem Fall nicht „nur“ um die Frage des Kopftuchverbots am Arbeitsplatz, sondern auch um das Verhältnis der deutschen Grundrechte, insbesondere der Religionsfreiheit, zum Unionsrecht. Dass sich der EuGH von nationalen Regelungen – selbst wenn diese verfassungsrechtliche Natur oder Tradition sind – nur wenig beeindrucken lässt, hat er in verschiedenen Urteilen zum Kirchenarbeitsrecht erst jüngst deutlich gemacht. So entschied er 2018, dass sich auch kirchliche Arbeitgeber der Prüfung staatlicher Gerichte unterziehen müssen, wenn es um die Frage der Religionszugehörigkeit als berufliche Anforderung bei der Besetzung von Stellen (EuGH, Urt. v. 17.04.2018, Az. C-414/16) geht oder ob ein Verstoß gegen kirchliche Vorgaben wie das Sakrament der Ehe die Kündigung eines Arbeitnehmers der Kirche rechtfertigen kann (EuGH, Urt. v. 11.09.2018, Az. C-68/17). Gut möglich, dass die anstehende Entscheidung aus Luxemburg also erneut für Wirbel nicht nur im Arbeitsrecht, sondern auch im Verfassungsrecht sorgen wird.«