In der Online-Ausgabe der BILD am 1. Juli 2018 hieß es: Drei Minister leisten den Pflege-Schwur. Die Ziele: mehr Pfleger, bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne. Daraufhin waren wir aber wirklich guter Hoffnung. Wenn die sogar schon schwören …
Und sie haben sich doch nun wirklich auch ins Zeug gelegt. Da hat man die 8.000 neuen Stellen (nicht lebende Pflegekräfte, das wäre was anderes) für die mehr als 14.000 Pflegeheime mal eben auf 13.000 angehoben, man hat eine Konzertierte Aktion Pflege eingesetzt, die uns in den kommenden Monaten endlich einen Weg aus dem Pflegenotstand weisen wird. Und was machen die Pflegekräfte? Sie nölen weiter rum, ja, sogar noch mehr als vorher. Was für eine Undankbarkeit gegenüber den Politikern, die sich da so ins Geschirr einspannen lassen, um der Pflege, vor allem der Altenpflege, endlich wirksam zu helfen.
Zumindest kann man diesen Eindruck bekommen, wenn man trotz der vielen Sofortprogramme, Konzertierten Aktionen und sonstigen Veranstaltungen nicht auf Begeisterung stößt, sondern ganz im Gegenteil mit solchen Schlagzeilen konfrontiert wird: „Die Stimmung in der Pflege wird frostiger“. Und wie um das auch noch zu untereichen heißt es im Untertitel der Meldung: »Die Ergebnisse des CARE Klima-Index 2018: Veränderungen kommen bei der Pflege nicht an.« Oder für die Zahlenfetischisten: »Für 2018 beträgt der Psyma CARE Klima-Index 95,3. Damit ist das Klima im Vergleich zum Basisjahr 2017 um -4,7 Punkte abgekühlt.«
»74 % der Befragten geben an, dass der Stellenwert des Themas Pflege in der Politik nur von niedriger Relevanz sei und beurteilen ihn damit, angesichts laufender politischer Initiativen durchaus überraschend, um 5 %-Punkte schlechter als im Vorjahr. Auch das gesellschaftliche Ansehen der Berufsgruppe schätzen die Befragten niedriger ein, die Wahrnehmung sinkt um weitere 10 %-Punkte: 38 % der Befragten meinen, der gesellschaftliche Stellenwert der Pflege sei geringwertiger als der von anderen Berufsgruppen.« Und »während die Pflegeversorgung 2017 von 24 % der Befragten als qualitativ mangelhaft eingeschätzt wurde, sind es 2018 bereits 29 %.«
Und die Hoffnungen, dass demnächst nun alles besser wird, scheinen nicht wirklich ausgeprägt zu sein: »Unverändert skeptisch bleibt der Blick in die Zukunft: Wie im vergangenen Jahr gehen 42 % der Befragten davon aus, dass die Pflegeversorgung in Zukunft nur teilweise sichergestellt ist. Sogar 46 % gehen im Jahr 2018 davon aus, dass sie nicht sichergestellt ist, im Jahr 2017 lag dieser Wert noch bei 42 %. Die Patientensicherheit beurteilt, wie auch im Jahr zuvor, die Hälfte der Befragten als „teilweise gewährleistet“.«
Der Anteil derer, die „schlechte“ Werte für die Arbeitsbedingungen der Pflegefachpersonen aussprechen, steigt weiter: »Während 2017 bereits 51 % der Befragten die Bedingungen als „schlecht“ beurteilten, stieg dieser Wert im Jahr 2018 auf 60 %.«
Aber worauf beziehen sich diese Zahlen eigentlich? Dazu erfahren wir: »Der CARE Klima-Index ermittelt einmal jährlich … ein valides Stimmungsbild mit fundierten Trendaussagen … Nach der Erhebung im Basisjahr 2017, der eigentlichen Nullmessung, liegen mit den Ergebnissen aus 2018 Vergleichswerte zu allen Antworten vor, woraus erstmalig Indexwerte errechnet werden konnten. Befragt wurden insgesamt 2.226 Personen – darunter vor allem Pflegefachpersonen, zu Pflegende und ihre Angehörigen, aber auch Ärzte- und Apothekerschaft, Industrie und Kostenträger sowie Verbände und Kommunen.« Anno Fricke weist in dem Artikel Von prima Klima weit entfernt darauf hin: »Der Klima-Index erhebe nicht den Anspruch, ein getreues Abbild der Realität zu zeichnen, sondern vermittele eher die Stimmung in bestimmten Gruppen, sagte die Psyma-Projektverantwortliche Stephanie Hollaus. Der Index vermittelt also eher ein atmosphärisches Bild, das Verantwortlichen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aber deutliche Hinweise auf Schwachstellen in der Versorgung liefern kann.«
Das sind Zahlen, die vielen nicht schmecken: »Andreas Westerfellhaus, Staatssekretär und Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung zeigt sich erstaunt über die mehrheitlich kritischen Ergebnisse, stehe doch die Pflege ganz oben auf der politischen Agenda.«
Aber nur, weil über etwas geredet wird und man mehr oder weniger sinnvolle Klimmzüge veranstaltet in Form von kleinteiligen Sofortmaßnahmen und vielen Versprechungen, heißt das eben noch lange nicht, dass sich die Stimmung dreht und die Menschen ihre Begeisterung in sich aufhellenden Umfrageergebnissen einfließen lassen.
Denn auch aus anderen Ecken erreichen uns Meldungen, die einen fortschreitenden Temperatursturz in der Pflege aufgrund der realen Bedingungen signalisieren. Eines von vielen Beispielen geht so: »In der ambulanten und stationären Pflege fehlt das Personal. Höhere Löhne als Anreiz, die schwere Arbeit zu machen, lassen die Kosten für Heimbewohner steigen«, so Ulrich Thiessen unter der Überschrift Pflege wird Dauerproblem. Hier wird über eine Anhörung im Sozialausschuss des brandenburgischen Landtags berichtet.
Immer ging es dabei um das fehlende Personal: »Und das fehlt nicht, weil zu wenig ausgebildet wird, sondern weil viele Pflegekräfte nur Teilzeit arbeiten – einerseits, um die schwere Arbeit zu bewältigen, andererseits, weil sie nur in Spitzenzeiten eingesetzt werden. Außerdem wandern viele ab: in andere Berufe und in andere Regionen. Ab kommendem Jahr werden die Pflegeberufe gemeinsam ausgebildet: Altenpflege, Kinderkrankenpflege und Krankenpflege. Mehrere Experten rechneten in der Anhörung damit, dass die Berufsanfänger dann in die Kliniken abwandern. In Cottbus wird schon in diesem Jahr mit dieser Form der Kanabilisierung der Pflegebereiche gerechnet.
In der ambulanten Pflege sieht es nicht viel besser aus. Dort müssten die Pfleger zum Teil 150 bis 200 Kilometer täglich fahren, berichtete Ailine Lehmann vom DRK-Verband Fläming-Spreewald. In ländlichen Regionen ist die Versorgung zum Teil nicht mehr gegeben, erklärte sie.«
Und immer wieder ging es um eine bessere Vergütung der Pflegekräfte – nur die ist natürlich nicht umsonst zu haben. Im bestehenden System mit der Pflegeversicherung als Teilleistungsversicherung führt das dazu, dass die damit verbundenen Kostensteigerungen in der stationären Pflege allein von den Pflegebedürftigen selbst, ihren Angehörigen bzw. als letztes Auffangnetz über die „Hilfe zur Pflege“ seitens der Sozialhilfe finanziert werden müssen. Beispiel aus der Anhörung in Brandenburg: »Das DRK Fläming-Spreewald hat im vergangenen Jahr die Löhne erhöht. Die Konsequenz: Der Zuzahlungsbetrag für Heimbewohner stieg von 1847 Euro je Monat auf 2360 Euro. Die Mehrheit der brandenburgischen Rentner hat geringere Einkünfte, hieß es unisono.« Das grundsätzliche Problem ist in diesem Beitrag bereits vom 18. Februar 2018 ausführlich beschrieben: Eine teure Angelegenheit und eine mehr als problematische Lastenverteilung. Die Eigenanteile der Pflegebedürftigen in der stationären Pflege und die Rolle der „Investitionskosten“.
In dem Bericht über die Anhörung im Landtag von Brandenburg wurde en passant behauptet, dass das Personal in der Altenpflege nicht deshalb fehlen würde, weil zu wenig ausgebildet wurde und wird. Zum Thema Ausbildung und Personalmangel in der Pflege erreichen uns neue Informationen auch aus Nordrhein-Westfalen. Unter der Überschrift In NRW fehlen 10.000 Fachkräfte in der Pflege erfahren wir: »Der Report „Landesberichterstattung Gesundheitsberufe“ komme zu dem Ergebnis, dass in der Gesundheits- und Krankenpflege 5.159 pflegerische Vollzeitfachkräfte, in der Kinderkrankenpflege 665 und in der Altenpflege 4.268 Pflegefachkräfte in Vollzeit fehlten.«
Wer einen Blick in die Original-Veröffentlichung werfen möchte, wird hier fündig:
➔ Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2019): Landesberichterstattung Gesundheitsberufe Nordrhein-Westfalen 2017. Situation der Ausbildung und Beschäftigung, Düsseldorf, Januar 2019
»Die Fachkräftelücke habe sich den jüngsten Daten zufolge vergrößert, sagte ein Ministeriumssprecher … Diese stammten aus dem Jahr 2017. Laut dem vorangegangen Report mit Daten aus 2015 fehlten damals 2.290 Vollzeitstellen in pflegerischen Berufen mit einer dreijährigen Qualifizierung.«
Zum Thema Pflegeausbildungen kann man dem Bericht entnehmen, »dass es in der Ausbildung nur in der Altenpflege einen weiteren Anstieg der Ausbildungszahlen gegeben hat. Die Gesundheits- und Krankenpflege und die Kinderkrankenpflege zeigen seit Jahren keine Steigerungsraten, obwohl bereits in der Gesundheitsberichterstattung 2015 auf den Mangel hingewiesen wurde, hat sich in den Krankenpflegeschulen nichts getan.« Dieser Befund korrespondiert mit den Meldungen aus anderen Bundesländern. Beispiel Rheinland-Pfalz: Auszubildendenzahl in der Gesundheits- und Krankenpflege rückläufig, so eine Meldung des Statistischen Landesamtes vom 4. Januar 2019. Wir sprechen hier nicht von Stagnation, sondern von einer rückläufigen Entwicklung: »Zu Beginn des Schuljahres 2018/19 befanden sich in Rheinland-Pfalz rund 3.500 junge Menschen in einer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin bzw. zum Gesundheit- und Krankenpfleger. Wie das Statistische Landesamt in Bad Ems mitteilt, waren das 170 Auszubildende bzw. fünf Prozent weniger als im Vorjahr.«
Bereits derzeit sind die Pflegekräfte sowohl im Krankenhaus- wie auch im Altenpflegebereich mit einem erheblichen Personalmangel konfrontiert, den man auch an solchen Zahlen ablesen kann: Rund 40.000 Pflegestellen unbesetzt. Rebekka Höhl berichtet darin von Daten der Bundesagentur für Arbeit: »Der Arbeitskräftemangel in der Alten- und Krankenpflege hat sich 2018 nochmals verschärft – und das, obwohl Tausende neue Pflegekräfte hinzukamen.«
»Die Zahl der Beschäftigten in der Alten- und Krankenpflege ist 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 2,8 Prozent auf insgesamt 1.646.924 gestiegen. Damit wurden 45.000 Stellen mehr besetzt als noch 2017. Dennoch zeichnet sich beim Personalnotstand in der Pflege alles andere als eine Entspannung ab: Denn gleichzeitig ist die Zahl der unbesetzten Stellen im Vergleich zu 2017 um 46,6 Prozent auf fast 40.000 gewachsen.«
»So wurden im vergangenen Jahr in der Krankenpflege 15.707 offene Stellen (2017: 10.277) und in der Altenpflege sogar 23.862 (2017: 16.700) offene Stellen an die BA gemeldet« – wohlgemerkt, es geht hier nicht um die tatsächliche Gesamtzahl an offenen Stellen, sondern um die der BA gemeldeten offenen Stellen (von denen wiederum einige eher virtuell sind, denn darunter befinden sich zunehmend auch Leiharbeitsfirmen, die oftmals eine überhöhte Zahl an offenen Stellen melden, um an Bewerber-Profile zu kommen). Aber man kann es drehen und wenden wie man will, bereits im bestehenden System ist die Zahl der nicht-besetzten offenen Stellen immens. Hinzu kommt ein wichtiger Aspekt, der bei der Mangeldiskussion in der Regel ausgeblendet wird, vor allem, wenn in der Berichterstattung mit bundesweiten Zahlen operiert wird, die sich beeindruckend sind angesichts der Größenordnung, aber angesichts der Tatsache, dass es keinen bundesdeutschen Pflegearbeitsmarkt gibt, sondern wir es mit einer überaus zersplitterten Landschaft an regionalen, oftmals sogar lokal begrenzten Arbeitsmärkten zu tun haben. Bezogen darauf hilft eine bundesweite Zahl weniger bis gar nichts. Eine Altenpflegefachkraft, die mit ihrer Familie im Westwerwaldkreis lebt, wird nicht nach Frankfurt oder Stuttgart ziehen, weil wir dort einen großen Personalbedarf haben.
Außerdem sollte bei der Einordnung der Zahlen berücksichtigt werden, dass die immer wieder zitierten Größenordnungen des heutigen nicht gedeckten Stellenbedarfs wie auch der in vielen Schätzversuchen genannten zusätzlichen Bedarfe an Pflegekräften aufgrund der parallel steigenden Zahl an Pflegebedürftigen vom Status Quo ausgehen, also den gegebenen Verhältnissen. Die aber werden massiv kritisiert als Personalunterdeckung und man muss nur auf die zahlreichen Berichte aus der Praxis der pflegerischen Versorgung verweisen, dass es vor Ort aufgrund der strukturellen Personalunterdeckung immer öfter innerhalb des Mangelsystems zu teufelskreisartigen Verschärfungen des Mangels kommt und kommen muss, denn das strukturell überlastete Personal wird oft von überdurchschnittlich hohen krankheitsbedingten Ausfallraten getroffen, die dann innerhalb des defizitär ausgestattet Systems von den Übrgiggebliebenen kompensiert werden müssen, deren Ausfallwahrscheinlichkeit damit auch noch nach oben getrieben wird.
Vor diesem Hintergrund kann man mit Blick auf das gesamte Pflegesystem nur froh und mehr als dankbar sein, dass nach den aktuellsten Zahlen der Pflegestatistik 2017 am Jahresende 2017 die meisten Pflegebedürftigen in der SGB XI-Abgrenzung zu Hause überwiegend von ihren Angehörigen gepflegte wurden: 76 Prozent.
Man sollte einfach mal auf die Zahlen schauen und sich vorstellen, was passieren würde, wenn nur ein kleiner Teil der pflegenden Angehörigen aus welchen Gründen auch immer nicht mehr in der Lage oder nicht mehr willens ist, die Hauptlast der Versorgung zu tragen. In wenigen Stunden wäre das deutsche Pflegesystem zusammengebrochen. In diesem Kontext sollte man solche Befunde mehr als ernst nehmen: »Der „größte Pflegedienst der Nation“ steht am Rande seiner Kräfte: Viele der 2,5 Millionen pflegenden Angehörigen sind einer Untersuchung zufolge überfordert, gestresst oder selbst krank«, so der Bericht über den Barmer Pflegereport 2018 unter der Überschrift Pflegende Angehörige fühlen sich oft überlastet: »Die Pflege bestimmt bei 85 Prozent der Betroffenen täglich das Leben. Die Hälfte von ihnen kümmert sich sogar mehr als zwölf Stunden täglich um pflegebedürftige Angehörige. Dazu gehören unter anderem Medikamentenversorgung, Unterstützung beim Essen, bei der Mobilität oder beim Toilettengang.« Und diese Zahlen sind mehr als ein Alarmzeichen: »Demnach stehen 7,4 Prozent (185.000) der pflegenden Angehörigen kurz davor, diese Pflege einzustellen. Rund 164.000 (6,6 Prozent) wollen nur mit mehr Hilfe weiter pflegen.« Und 60 Prozent der pflegenden Angehörigen wünschen sich aber mehr Hilfe – allerdings findet mehr als die Hälfte der Hauptpflegepersonen niemanden, um sich für längere Zeit vertreten zu lassen.
Es gibt aber auch Hinweise, warum es so schwierig ist, die hier nur in Umrissen erkennbaren Probleme zu adressieren. Die Politik wird darauf verweisen, dass man doch mit zahlreichen neuen Leistungen und Angeboten versuche, Hilfe anzubieten. »Die zahlreichen Unterstützungsangebote wie Kurzzeit- und Verhinderungspflege oder Haushaltshilfen werden zwar überwiegend positiv bewertet, allerdings zu wenig genutzt, wie die Umfrage zeigt. Als Begründung wird vielfach angegeben, es bestehe „kein Bedarf“ oder „die Leistung ist unbekannt“. Häufig werden aber auch andere Gründe genannt wie „geringe Qualität“, „zu teuer“, „zu viel Organisation“ oder es „passt zeitlich nicht“.« Die Organisation vor Ort ist das entscheidende Nadelöhr, durch das alle realen Verbesserungen kommen müssen.
Nicht nur, aber auch und gerade hier manifestiert sich eine strukturelle Schwachstelle des deutschen Pflegesystems: die mangelhafte Ausgestaltung der eigentlich dringend angezeigten kommunalen Verantwortung für Altenhilfe und -pflege. Man kann die vielfältigen und überaus heterogenen Herausforderungen einer nicht nur „Irgendwie“-Versorgung der alten Menschen letztendlich nur vor Ort, in den Kommunen lösen. Das würde aber neben eine Umlenken der Finanzströme auf die regionale und lokale Ebene auch bedeuten, dass die Kommunen von der Manpower her gesehen überhaupt in der Lage wären oder versetzt werden, diese wichtige Funktion übernehmen zu können.
Was bleibt zum jetzigen Zeitpunkt? Ein mehr als beunruhigendes Gefühl, dass wir sehenden Auges gegen die Wand laufen. Winter is Coming eben.