Von der Teilleistungs- über eine „echte“ Teilkasko- zu einer „Fast“-Pflegevollversicherung? Oder doch den Blick über den Beitragstopf hinaus richten?

Es geht um Geld, viel Geld. Wenn man in der Sozialen Pflegeversicherung die Beiträge um einen Beitragssatzpunkt erhöht, dann generiert das derzeit 14,8 Mrd. Euro Mehreinnahmen. Das fällt natürlich nicht vom Himmel, sondern das generieren die Beitragszahler. Die Bundesregierung hat nun beschlossen, sich mit einem halben Beitragssatzpunkt mehr ab dem kommenden Jahr „zu begnügen“. Das spült immer noch mehr als 7 Mrd. Euro in die zunehmend klammen Kassen der Pflegeversicherung. Ausführlicher dazu der Beitrag Die „Beitragstreppe“ in der Pflegeversicherung wird steiler und die Systemfragen immer drängender. Diesseits und jenseits der nächsten Beitragssatzanhebung vom 13. Oktober 2018. Der Schluck aus der Beitragszahlerpulle wird notwendig, weil zum einen die Leistungsverbesserungen der letzten Legislaturperiode (in der es schon mal eine Beitragsanhebung gegeben hat) „überraschend“ teurer kommen als (angeblich) gedacht und zum anderen liegen große Aufgaben vor der Regierungshaustür, die der Bearbeitung harren. Mit den Mehreinnahmen sollen beispielsweise auch die Vergütungen in der Altenpflege angehoben werden.

Unabhängig von der Tatsache, dass bereits jetzt absehbar ist, dass wieder einmal zu tief gestapelt wird angesichts des faktischen Mehrbedarfs an Finanzmitteln für das, was angekündigt wird, stellt sich ein systematisches Problem, das aus dem Charakter der Pflegeversicherung als noch nicht einmal Teilkasko-, sondern Teilleistungsversicherung resultiert: Da die anteiligen Leistungsbeträge aus der Pflegeversicherung gedeckelt sind, werden die steigenden Kosten beispielsweise durch notwendig höhere Pflegesätze in der stationären Versorgung aufgrund einer besseren Vergütung der Pflegekräfte (sollte die denn kommen) im bestehenden System auf die anderen Finanzierungsquellen umgelegt, konkret steigen die Eigenanteile der Pflegebedürftigen bzw. die Zahlbeträge der Ausfallbürgen wie der Hilfe zur Pflege nach dem Sozialhilferecht. Vgl. dazu ausführlicher Eine teure Angelegenheit und eine mehr als problematische Lastenverteilung. Die Eigenanteile der Pflegebedürftigen in der stationären Pflege und die Rolle der „Investitionskosten“ vom 18. Februar 2018.

Die Mechanik des bestehenden Systems der Aufteilung der Pflegekosten führt unvermeidlich zu steigenden Eigenanteilen, die natürlich die betroffenen Pflegebedürftigen (bzw. deren Angehörige und schlussendlich, wenn nichts mehr zu holen ist, die Sozialhilfe) belasten, stößt immer mehr an Grenzen dessen, was politisch durchzuhalten ist. Insofern überrascht es nicht, dass nun die schon seit vielen Jahren immer mitlaufenden Diskussion über die Verteilung der Finanzierungslasten prominent platziert wird.

»Rund 2.200 Euro müssen Menschen im Saarland im Schnitt für einen Platz im Pflegeheim bezahlen, Tendenz steigend. Oft müssen Angehörige oder der Staat helfen, weil die gesetzliche Rente dafür nicht reicht. „Die Belastungsgrenze ist erreicht, wenn nicht gar überschritten“, sagt Jürgen Stenger, der Geschäftsführer der Saarländischen Pflegegesellschaft, in der rund 150 Pflegeheime organisiert sind. Eine Diskussion über den Eigenanteil der Bewohner und ihrer Angehörigen sei überfällig.« Das kann man diesem Beitrag entnehmen: Kassenchef will Pflegeheim-Kosten begrenzen: »DAK-Chef und Ex-Minister Andreas Storm fordert, die Altenpflege finanziell auf völlig neue Füße zu stellen. Denn der Eigenanteil steigt immer und immer weiter«, berichtet Daniel Kirch in seinem Artikel.

Andreas Storm war von 2012 bis 2014 saarländischer Gesundheitsminister und ist heute Vorstandschef der Krankenkasse DAK-Gesundheit, mit 5,8 Millionen Versicherten die drittgrößte gesetzliche Krankenkasse in Deutschland. Auch Storm weist auf den ansteigenden Druck im System hin wie viele andere auch: Seit »Einführung der Pflegeversicherung vor 22 Jahren habe sich der durchschnittliche Eigenanteil nahezu verachtfacht. Die Konsequenz sei, dass mittlerweile jeder dritte Pflegebedürftige, der in einem Heim versorgt werde, Hilfe vom Sozialamt brauche. Dass die Zuzahlungen zum Teil höher als die gesetzliche Rente sind, sei „völlig inakzeptabel“ und widerspreche der ursprünglichen Absicht bei Einführung der Pflegeversicherung, Pflegebedürftige unabhängig von Sozialleistungen zu machen.«

Und was schwebt dem Kassenchef Storm als Lösungsansatz vor? Es sind vor allem zwei Punkte, die genannt werden:

»Zum einen soll der Bund künftig Steuermittel zuschießen, zum anderen will Storm den seit Jahren stark steigenden Eigenanteil begrenzen.«

Und wie soll die angestrebte Begrenzung der Eigenanteile erreicht werden? »Der DAK-Chef schlägt vor, dass der Eigenanteil für die Pflegeleistungen in Zukunft in einer noch festzulegenden Höhe gedeckelt wird. „Es gäbe dann einen einheitlichen Betrag, den der Pflegebedürftige oder die Angehörigen zahlen, gestaffelt nach Pflegegraden. Alles, was darüber hinausgeht, trägt die Pflegeversicherung.“ Bisher ist es umgekehrt: Die Pflegeversicherung übernimmt die Kosten bis zu einer gewissen Höhe, den Rest zahlen die Pflegebedürftigen oder die Angehörigen.«

Ganz offensichtlich geht es hier um die Transformation der bestehenden Teilleistungsversicherung hin zu einer „echten“ Teilkaskoversicherung bzw. einer „Fast“-Vollversicherung, je nach Deckelung der Eigenanteile. Da wird sich der eine oder andere daran erinnern, dass das schon seit längerem in der Debatte immer wieder vorgetragen wird.

Beispielsweise von der Initiative Pro-Pflegereform. Dort haben sich Verbände und Träger aus dem Bereich der Pflege, vor allem aus den wohlfahrtsverbindlichen Segment, organisiert, also die Anbieter-Seite. Deren selbst gesteckter Anspruch ist ziemlich weitreichend: »Umsetzung des Echten Teilkaskoprinzips in der Pflegeversicherung, damit Pflege für die Menschen bezahlbar wird und nicht in die Armut führt; Überwindung der ambulanten und stationären Sektoren zur Stärkung wohnortunabhängiger Pflegearrangements und zur Klärung der Finanzierungszuständigkeiten; Stärkung der Zivilgesellschaft mit Honorierung der Angehörigenpflege, mit der Verbesserung gesellschaftlicher Partizipation und einem finanzierten Quartiersmanagement; Ausbau und finanzielle Förderung einer zukunftsfähigen, seniorengerechten Infrastruktur als kommunale Pflichtaufgabe; Sicherstellung der Personalsituation mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und einer gesicherten Refinanzierung der Personalkosten.« Natürlich ahnen selbst thematisch Außenstehende, dass das ziemlich ausgabenträchtig wird. Deshalb haben sich die Akteuere dieses Bündnisses wissenschaftliche Schützenhilfe besorgt und das bekommen:

➔ Heinz Rothgang und Thomas Kalwitzki (2017): Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung – Abbau der Sektorengrenzen und bedarfsgerechte Leistungsstruktur. Gutachten.

Im Kern diskutieren Rothgang und Kalwitzki in ihrer Expertise zwei Lösungsansätze:

➔ Man könnte die Pflegeversicherung umbauen zu einer Vollversicherung – mit einem deutlichen Anstieg der Versicherungsleistungen. Das würde natürlich erhebliche Kosten in der dann Pflegevollversicherung generieren.

➔ Vor diesem Hintergrund sicherheitshalber ein etwas weniger ambitionierter Umbau als zweiter Ansatz: Eine „ausgabenneutrale“ Reformperspektive besteht dagegen darin, die Leistungen der Pflegeversicherung zwar nach oben offen, individuell bedarfsgerecht zu gewähren, aber einen Sockelbetrag als Selbstbeteiligung zugrunde zu legen.

Dazu bereits der Beitrag Pflegeversicherung: Weiter mit Reparatur- und Erweiterungsarbeiten oder doch der Sprung in eine Pflegevollversicherung? vom 13. Mai 2017.

Man kann es drehen und wenden wie man will – jedem müsste klar werden, dass die angestrebte Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen an anderer Stelle des Systems zu deutlich höheren Ausgaben führen muss (zusätzlich zu den genannten „neuen“ Zielen wir einer besseren Vergütung des Personals, bessere Pflegepersonalschlüssel und und und). Das würde aber im bestehenden Rahmen bedeuten, dass man die Beiträge zur Pflegeversicherung in eine ganz andere Dimension heben müsste. Und nicht nur das, es stellen sich auch systematische Anfrage an diesen scheinbar naheliegenden Weg einer Verschiebung der Finanzierungsarchitektur in Richtung auf eine „Fast“-Pflegevollversicherung – um an dieser Stelle nur wie zu nennen:

➔ Zum einen stellen sich die gleichen ordnungspolitischen Fragen, die auch schon in der Zeit vor der Einführung der Pflegeversicherung und immer wieder danach aufgeworfen wurden: Haben wir es nicht im Ergebnis beim Modell einer Pflegevollversicherung vor dem Hintergrund der Unterhaltsverpflichtungen der Kinder gegen ihre Eltern mit einem Erbenschutzprogramm zu tun und einer Umverteilung zugunsten der einkommens- und vermögensstärkeren Gruppen?

➔ Und zweitens muss man natürlich diskutieren, ob es nicht bei einer weiteren Kollektivierung der Pflegekosten zu (noch) stärkeren Preiseffekten auf der Anbieterseite kommen kann?

Und eine ganz entscheidende Frage kann man so formulieren: Ist es wirklich sinnvoll, die aus mehreren gründen steigenden Pflegeausgaben ausschließlich und das dann auch noch in einem potenzierten Volumen aus Beiträgen zur Sozialen Pflegeversicherung zu finanzieren, die aus dem sozialversicherungspflichtigen Lohneinkommen generiert werden (müssen)? Haben wir hier nicht aus sachlogischen Gründen (beispielsweise die Sicherstellung einer altenpflegerischen Versorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe) wie auch aus verteilungspolitischen Überlegungen (man vergleiche die Lastenträger-Unterschiede zwischen einer Sozialbeitrags- und einer Steuerfinanzierung) die Notwendigkeit, eine (mindestens anteilige) Steuerfinanzierung in den Blick zu nehmen?

In diese Richtung geht die zweite Komponente in den Lösungsvorschlägen des DAK-Chefs Andreas Storm: »„Ich bin der Auffassung, dass wir in der Pflegeversicherung einen Bundeszuschuss aus Steuermitteln brauchen“, sagte er. „Die Leistungen der Altenpflege tragen teilweise einen gesamtgesellschaftlichen Charakter, für den es sinnvoll ist, dass wir eine Mitfinanzierung aus dem Steuertopf vornehmen.“ Ähnlich sei es auch bei Renten- und Krankenversicherung. Konkret schlägt Storm vor, dass der Bund 2020 in die Mitfinanzierung der Pflegeversicherung einsteigt und seine Zuschüsse jedes Jahr um 700 Millionen Euro steigert, bis er ab 2024 rund 3,5 Milliarden Euro pro Jahr zuschießt, das wären zehn Prozent der Ausgaben der Pflegeversicherung.«

Ein Beitrag zu einer notwendigen Debatte, die nun wirklich nicht nur in Fachkreisen geführt werden muss, sondern die ganz oben auf der politischen Agenda stehen sollte.