Nehmen, was kommt? Von 13.000 neuen Stellen für die Pflegeheime, den fehlenden Fachkräften und einem gesetzgeberisch freigegebenen Notnagel Hilfskräfte

»Wir wollen das Vertrauen der Pflegekräfte durch Sofortmaßnahmen zurückgewinnen und den Alltag der Pflegekräfte schnellstmöglich besser machen. Deshalb sorgen wir mit dem Sofortprogramm Pflege für mehr Personal, eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege. Stationäre Einrichtungen und Krankenhäuser erhalten finanzielle Anreize, um mehr Pflegekräfte einzustellen und auszubilden: Jede zusätzliche Pflegekraft in Krankenhäusern wird finanziert. In der stationären Altenpflege sorgen wir für 13.000 neue Stellen.« So kann man es auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums lesen unter dem Punkt „3. Stellen schaffen (Sofortprogramm Pflege)“ bei den Erläuterungen, wie man sich die Pflegestrategie der Bundesregierung vorstellen soll.

Immerhin waren es anfangs nur 8.000 zusätzliche Stellen, die man den Pflegeheimen in Aussicht stellen wollte – und nach zahlreichen Unmutsäußerungen hat man dann die Zahl auf 13.000 erhöht, was trotzdem angesichts der Tatsache, dass wir deutlich über 13.000 stationäre Pflegeeinrichtungen in Deutschland haben, weiterhin als berühmter Tropfen auf den heißen Stein charakterisiert wurde. Unabhängig davon, dass der tatsächliche Bedarf an zusätzlichen Stellen vor allem im Altenpflegebereich deutlich größer ist, wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass doch bereits heute zigtausende offene Stellen von den Pflegeheimen gemeldet und offensichtlich nicht oder nur nach langem Suchen besetzbar sind (nach Angaben des im Frühjahr vom Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung veröffentlichten Pflege-Thermometer 2018 muss man von 17.000 nicht-besetzten offenen Stellen nur in den Pflegeheimen ausgehen, davon mindestens 14.000 Stellen für Pflegefachkräfte. Zur Deckung würde es ca. 25.000 zusätzlicher qualifizierter Personen bedürfen, da der Teilzeitanteil in der Pflege weiterhin hoch ist). Wie soll das dann mit den 13.000 neuen zusätzlichen Stellen funktionieren?

Nun muss man ergänzend darauf hinweisen, dass es nicht nur um „irgendwelche“ Pflegekräfte gehen soll, sondern die 13.000 versprochenen Stellen seien finanziert für einen ganz bestimmten Bereich – der „medizinischen Behandlungspflege“ in den Einrichtungen. Darunter versteht man ausschließlich medizinische Leistungen, die von examinierten Pflegekräften bei einem pflegebedürftigen Patienten in diesem Fall in einer stationären Einrichtung durchgeführt werden und zwar auf der Basis einer ärztlichen Verordnung. Es geht hier um Tätigkeiten wie Wundversorgung, Verbandswechsel, die Medikamentengabe, Dekubitusbehandlung oder Blutdruck- und Blutzuckermessung.

Die Anbindung der neuen Stellen an die „medizinische Behandlungspflege“ hat ungeachtet des manifesten Bedarfs an diesen Leistungen in den Heimen primär oder ausschließlich einen finanzierungstechnischen Hintergrund, denn bezahlen sollen diese neue Stellen nicht die Pflegekassen oder der Staat über Steuermittel, sondern die Krankenkassen. Denn deren Schatullen sind im Vergleich noch gut gefüllt und deshalb möchte man sich an diesem Schatzkästchen bedienen. Und wir reden hier wahrlich nicht von Peanuts. Laut dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Pflegepersonals (Pflegepersonal-Stärkungsgesetz – PpSG) in der am 1. August 2018 vom Kabinett verabschiedeten Fassung geht es 2019 um 640 Mio. Euro, die von der Gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen sind (geregelt im § 37 Absatz 2a neu SGB V).

Und der Gesetzgeber hat in dem bereits zitierten Entwurf eines Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes eine eindeutig daherkommende Formulierung gewählt. Bestandteil des neuen Gesetzes ist auch eine Änderung des SGB XI. Dort soll im § 8 SGB XI der folgende neue Absatz 6 aufgenommen werden:

»Abweichend von § 84 Absatz 4 Satz 1 erhalten vollstationäre Pflegeeinrichtungen auf Antrag einen Vergütungszuschlag zur Unterstützung der Leistungserbringung insbesondere im Bereich der medizinischen Behandlungspflege. Voraussetzung für die Gewährung des Vergütungszuschlags ist, dass die Pflegeeinrichtung über Pflegepersonal verfügt, das über das Personal hinausgeht, das die Pflegeeinrichtung nach der Pflegesatzvereinbarung gemäß § 84 Absatz 5 Satz 2 Nummer 2 vorzuhalten hat. Das zusätzliche Pflegepersonal muss zur Erbringung aller vollstationären Pflegeleistungen vorgesehen sein und es muss sich bei dem Personal um Pflegefachkräfte handeln.«

Aber Stellen zu versprechen ist das eine, lebende Pflegekräfte für die tatsächliche Stellenbesetzung zu finden das andere. Was soll man machen, wenn man trotz der Gegenfinanzierung daran scheitert, dass man gar keine Personal findet oder die qualifikatorischen Voraussetzungen für die Arbeit nicht vorhanden sind? Wie wäre es mit einer Absenkung der Qualifikationsanforderungen? Das ist doch keine wirkliche Option bei Stellen, die explizit für die medizinische Behandlungspflege vorgesehen sind. Oder doch?

»Mit seinem Programm gegen den Pflegenotstand übertraf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Versprechen des Koalitionsvertrags: Nicht 8000, sondern gleich 13 000 neue Stellen werde er in den Pflegeheimen der Republik schaffen, kündigte er an. Doch ein Kniff in seinem geplanten Gesetz könnte nun dazu führen, dass Altenheime mit den angekündigten Sondermitteln keine neuen Pflegerinnen und Pfleger einstellen werden, sondern bloß schlechter ausgebildete Hilfskräfte.« Das behauptet Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Helfer statt Pfleger. Und das ist leider keine Vermutung:

»Wenn Pflegeeinrichtungen trotz Stellenausschreibungen und Anfragen bei der Arbeitsagentur „nachweislich innerhalb eines Zeitraums von mehr als drei Monaten“ keine neuen Fachkräfte finden, „ist ein Vergütungszuschlag auch für Pflegehilfskräfte zulässig“, heißt es in der Antwort des Ministeriums auf eine Frage der Grünen. Allerdings dauert es laut Bundesagentur für Arbeit zurzeit im Schnitt 175 Tage, also mehr als fünf Monate, um eine offene Fachkraftstelle in der Altenpflege zu besetzen. Der Einsatz von Helfern käme deshalb wohl für die meisten Altenheime infrage. Die pflegepolitische Sprecherin der Grünen, Kordula Schulz-Asche, wirft Spahn deshalb „Augenwischerei“ vor.« In der Fachkräfteengpassanalyse Juni 2018 berichtet die Bundesagentur für Arbeit zum Bereich Altenpflege: »In keinem Bundesland stehen rechnerisch ausreichend arbeitslose Bewerber zur Verfügung, um damit die der BA gemeldeten Stellen zu besetzen. Gemeldete Stellenangebote für examinierte Altenpflegefachkräfte und -spezialisten sind im Bundesdurchschnitt 175 Tage vakant. Das sind 63 Prozent mehr als die durchschnittliche Vakanzzeit über alle Berufe. Auf 100 gemeldete Stellen kommen rechnerisch lediglich 27 Arbeitslose.« (S. 18). Und man muss anmerken, dass diese an sich schon extremen Vakanzzeiten noch eine Unterschätzung sind, denn sie berücksichtigen nicht die Stellenangebote, die rausgenommen worden sind. Und viele Arbeitgeber gehen gar nicht (mehr) den Weg über die Arbeitsagenturen und Jobcenter.

Aber wie passt das mit den Hilfskräften zusammen mit der hier zitierten eindeutig daherkommenden Formulierung des neuen Absatz 6 im § 8 SGB XI? Dort heißt es doch „es muss sich bei dem Personal um Pflegefachkräfte handeln.“ Nun muss man weiterlesen. Der nächste Satz geht so:

»Nur für den Fall, dass die vollstationäre Pflegeeinrichtung nachweist, dass es ihr in einem Zeitraum von über drei Monaten nicht gelungen ist, geeignete Pflegefachkräfte einzustellen, kann sie auch für die Beschäftigung von zusätzlichen Pflegehilfskräften den Vergütungszuschlag erhalten.«

Da ist der Türöffner im Gesetzestext für die Option, die Ludwig in ihrem Artikel beschrieben hat. »Mit dem neuen Passus im Gesetz sei „die Tür aufgemacht worden, um billig zusätzliche Hilfskräfte zu rekrutieren“, kritisiert auch die Gesundheitsexpertin der Gewerkschaft Verdi, Grit Genster. Dabei fehlten in der Altenpflege keine Assistenten, sondern echte Fachkräfte, die anspruchsvolle medizinische Tätigkeiten ausüben können. Auch Spahn nimmt das Geld für die versprochenen Stellen aus den Töpfen der Krankenkassen und nicht, wie sonst, aus der Pflegeversicherung. Er hatte diesen ungewöhnlichen Schritt damit begründet, dass es sich bei der Arbeit um „medizinische Behandlungspflege“ handele: Fachkräfte verabreichen zum Beispiel Medikamente oder verbinden Wunden. Pflegehilfskräfte sind dagegen zu solchen Dingen weder ausgebildet noch befugt.«

Und nun fügt sich das eine zum anderen. Denn ein weiterer Baustein in der Pflegestrategie der Bundesregierung ist die Konzertierte Aktion Pflege. Genau um diese Komponente gab es vor kurzem einige Aufregung: „Konzertierte Aktion zur Pflege ist gestartet“, so hatte Helmut Laschet einen Artikel in der Ärzte-Zeitung überschrieben – mittlerweile wurde (nicht nur) die Überschrift abgeändert: Konzertierte Aktion zur Pflege konkretisiert, so ist die neue Fassung nun betitelt. Denn in dem Ursprungsartikel hieß es: »Mit drei Pilotprojekten arbeiten die Ministerien für Gesundheit, Bildung und Arbeit zusammen mit Arbeitgebern in der Pflege daran, dass die zusätzlich finanzierten Stellen besetzt werden können.«. Nach einigen Tagen hatte das Bundesgesundheitsministerium über Twitter mitgeteilt, dass die Darstellung der Ärzte-Zeitung insofern falsch sei, als dass die Projekte noch nicht gestartet seien, man sei erst am Anfang der Konzertierten Aktion Pflege (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Konzertierte Aktion Arbeitgeber-Pflege? vom 14. August 2018). Das mag ja sein (wobei hier die These vertreten wird, dass man lediglich der zwischenzeitlich entstandene Kritik an einer Umsetzung von einseitig arbeitgeberorientierten Projekten den Wind aus den Segeln nehmen möchte) – aber aus Arbeitgebersicht passen tun die beschriebenen Pilotprojekte schon – gerade in dem hier interessierenden Kontext.

Dazu muss sich man nur eines der drei Pilotprojekte anschauen:

➔ Pilotprojekt 2: »In einem zweiten Projekt geht es darum, 15.000 Pflegehilfskräfte im Rahmen einer Qualifizierungsoffensive für die medizinische Behandlungspflege in Altenheimen weiterzubilden. Die zentrale Steuerung hat das Bundesgesundheitsministerium in Kooperation mit dem Bundesbildungsministerium übernommen. Das Weiterbildungsprogramm sieht ein Training von 188 Stunden mit einer abschließenden Prüfung vor. Diese Qualifikation soll die so aufgewerteten Pflegehilfskräfte dazu befähigen und berechtigen, medizinische Behandlungspflege durchzuführen. Für die Heime wichtig ist, dass diese Pflegekräfte auf die Fachkraftquote angerechnet werden. Die Kosten des Projekts belaufen sich auf rund 2400 Euro pro Teilnehmer, insgesamt 36 Millionen Euro.«

Das muss man nicht weiter kommentieren. Im Zusammenspiel mit der Türöffner-Klausel im neuen § 8 Absatz 6 SGB XI ist klar, wohin die Reise gehen wird, wenn da nicht Einhalt geboten wird.