Verlogenheit ist eine zugegeben harte Bewertungskategorie. Zumindest aber das Urteil einer sehr ungleichgewichtigen Doppelmoral muss man sich gefallen lassen, wenn man auf der einen Seite das Abschöpfen ausländischer Fachkräfte als eine der (angeblichen) Hauptlösungsstrategien für einen Personalbedarf im eigenen Land proklamiert – und damit den Abgabeländern nicht nur einen Vermögens- und Versorgungsschaden zufügt, wenn wir an Gesundheitsberufe denken, sondern auch deren Ausbildungsinvestitionen voraussetzt, um über die mitesserhafte Verwertung der im Ausland qualifizierten Arbeitskräfte im Importland die Rendite aus einer Investition abzuschöpfen, die man gar nicht getätigt hat. Und wenn man gleichzeitig die eigenen Ausbildungsanstrengungen über viele Jahre bremst und niedriger hält, als es lange absehbar notwendig wäre, dann aber auch noch hingeht und die Abwanderung der „eigenen“ Arbeitskräfte als Problem in den Raum stellt.
Eine solche offensichtlich logisch und auch moralisch fragwürdige Unwucht (außer man betrachtet die Potenzierung der Eigennutzmaximierung auf Kosten anderer als eine moralisch zulässige Verhaltensvariante) kann es nicht geben? Also bestimmt nicht in Deutschland? Dann muss man sich eines besseren belehren lassen, wenn man in die Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 16. September 2018 schaut und dort auf Aussagen des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU) stößt.
Dort findet man unter der Überschrift „Wer soll Arzt werden? Spahn will junge Mediziner in Deutschland halten“ einige der Ausführungen aus einem Interview mit dem Bundesgesundheitsministers. Darunter dieser Passus, den man nicht einfach schnell überfliegen sollte:
»Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will genauer hinsehen, wer in Deutschland einen Studienplatz für Medizin bekommt. „Das Medizinstudium ist das teuerste Studium, das wir haben, und die Absolventen haben zurzeit eine Jobgarantie. Da darf eine Gesellschaft doch die Frage stellen, wer studiert das mit welchem Ziel?“, sagte er im Interview mit dieser Zeitung. „Ich habe nichts dagegen, wenn Ärzte ins Ausland gehen oder etwas anderes machen. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, für den Rest der Welt Ärzte auszubilden. Ich will schon die Erwartung formulieren, dass derjenige, der dieses Studium beginnt, auch Lust haben sollte, in der deutschen Patientenversorgung zu arbeiten.“«
Wenn Minister Spahn sagt, „es ist nicht unsere Aufgabe, für den Rest der Welt Ärzte auszubilden“, dann wird er sicher spontan viel Beifall von vielen Menschen in Deutschland bekommen. Die sollten aber a) genauer hinschauen, b) die andere Seite der Medaille berücksichtigen und c) nach einer Gesamtabwägung dem Bundesgesundheitsminister ein mehr als peinliches Eigentor diagnostizieren. Der Reihe nach.
➔ Bildet Deutschland denn überhaupt Ärzte „für den Rest der Welt“ aus? Nicht wirklich, wenn man einen etwas genaueren Blick auf die Zahlen wirft. Dazu aus der Ärztestatistik der zuständigen Bundesärztekammer – dort wird festgestellt, »dass im Jahre 2017 insgesamt 1.965 ursprünglich in Deutschland tätige Ärztinnen und Ärzte ins Ausland abgewandert sind, wobei der Anteil der deutschen Ärzte 59,3 Prozent beträgt. Die Abwanderung hat im Vergleich zum Vorjahr (2.050) abgenommen und liegt damit etwa auf dem Niveau von 2003. Die beliebtesten Auswanderungsländer sind – wie in den vergangenen Jahren – die Schweiz (641), Österreich (268) und die USA (84).«
Im Jahr 2017 (2016) haben insgesamt 1.165 (1.206) deutsche Ärzte unser Land in Richtung Ausland verlassen. Mit ganz großem Abstand steht bei den „Fluchtländern“ die Schweiz an erster Stelle: 538 deutsche Ärzte sind in dieses Land gegangen. Zum Vergleich: In alle EU-Länder zusammen sind lediglich 306 deutsche Ärzte abgewandert, davon mit 108 die meisten ins Nachbarland Österreich. Und in alle amerikanischen Staaten, also einschließlich der USA, hat es im vergangenen Jahr lediglich 93 deutsche Ärzte verschlagen. Und man muss bei diesen Zahlen darauf achten, dass das ja nicht bedeutet, dass alle diese Ärzte für den Rest ihres Lebens ausgewandert sind, sondern einige bleiben nur eine bestimmte Zeit in dem jeweiligen Land und kehren dann nach Deutschland wieder zurück. Von einem massenhaften Exodus an deutschen Ärzten in den Rest der Welt kann man wahrlich nicht sprechen und der (relativ) starke Zuzug in die Schweiz (und mit großem Abstand nach Österreich) hängt sicher damit zusammen, dass es sich um zwei Länder der gleichen Sprachfamilie handelt und dass dort schlichtweg deutlich bessere Arbeitsbedingungen respektive Verdienstbedingungen gegeben waren und sind als in Deutschland.
➔ Aber wie sieht es aus mit der anderen Seite der Medaille, also dem Import ausländischer Ärzte nach Deutschland? Da erkennt man mit Blick auf die lange Zeitreihe diese Größenordnungen:
Die Zunahme der berufstätigen ausländischen Ärztinnen und Ärzte liegt im Jahre 2017 bei 8,9 Prozent. Damit besitzen 11,8 Prozent der in Deutschland berufstätigen Ärztinnen und Ärzte eine ausländische Staatsbürgerschaft, berichtet die Bundesärztekammer. Die größte Zahl ausländischer Ärzte kommt aus Rumänien (4.505), Syrien (3.632) und Griechenland (3.147).
Am Ende des Jahres 2017 waren 198.500 Ärzte in deutschen Krankenhäusern tätig. Darunter 36.567 ausländische Ärzte, also 18,4 Prozent. Im Schnitt kommt also fast jeder fünfte Krankenhausarzt aus dem Ausland. Allerdings sagt der Durchschnitt wie so oft nichts über die reale (Ungleich)Verteilung. Jeder Patient kann das selbst überprüfen – und die Medien sind voll mit Berichten über Krankenhäuser in bestimmten Regionen unseres Landes, in denen fast nur noch Ärzte aus dem Ausland unterwegs sind und die stationäre Versorgung aufrechterhalten. Übrigens gerade in vielen Kliniken in Ostdeutschland sind es die Ausländer, die den Laden am Laufen halten.
Besonders viele ausländische Ärzte sind in Provinzkrankenhäusern angestellt, was auch in diesem Artikel thematisiert wird: »Kiryl Halavach etwa stammt aus Weißrussland und hat 2011 das Evangelische Krankenhaus Holzminden bei einem Studentenaustausch kennengelernt. Nach dem Abschluss seines Studiums in Minsk zog er 2013 in den Ort im Weserbergland und arbeitet dort seitdem als Assistenzarzt … Von den zehn Assistenzärzten in Halavachs Abteilung stammen neun nicht aus Deutschland.« So sieht es an vielen anderen Orten auch aus. „Gerade in ländlichen Regionen leisten Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung. In vielen Kliniken käme es ohne sie zu erheblichen personellen Engpässen“, wird der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, in dem Artikel zitiert. Jedoch sei auf diese Weise das Fachkräfteproblem nicht zu lösen.
Bleiben wir noch einen Moment bei den ausländischen Ärzten in deutschen Krankenhäusern – und werfen einen Blick auf die Mediziner, die aus bestimmten Ländern kommen, deren Staatsangehörige hier bei uns wenn, dann oft nur negativ etikettiert verhandelt werden. Man denke an die unselige und regelmäßig wieder aufgewärmte Kindergeld-Debatte über die Überweisung von Kindergeld ins europäische Ausland (vgl. dazu ausführlicher Und jährlich grüßen die Zuckungen der Erregungsgesellschaft. Einige Anmerkungen zum Thema Kindergeld, „wir“ in Deutschland und „die“ im Ausland vom 10. August 2018). Da wird dann von interessierter Seite oft so getan, als ob „unser“ Kindergeld von südosteuropäischen „Banden“ abgegriffen wird. Es gibt tatsächlich Spitzenpolitiker in diesem Land, die zu so einer unterirdischen Sprache greifen, beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der auf dem Volksfest Gillamoos gesagt hat: „Zahlen wir das Kindergeld in Deutschland an unsere Kinder und beenden wir den Transfer an irgendwelche Kriminelle in Europa.“ Der Applaus unter seinen Anhängern für diese Aussage war groß. Und wenn man sich die Medienberichte über Rumänen und Bulgaren in Deutschland anschaut, dann wird man eine mehr als bedenkliche einseitige Schieflage auf Themen wie Armutszuwanderung, „Problemhäuser“ oder Sozialbetrug vorfinden.
Dazu ein ergänzender Blick auf die ausländischen Ärzte in den deutschen Kliniken: Ende 2017 waren dort nach Angaben der Bundesärztekammer 3.499 Ärzte aus Rumänien, 1.320 aus Bulgarien sowie 1.418 aus Polen tätig. Mediziner, die in diesen deutlich ärmeren Ländern ausgebildet worden sind und die jetzt natürlich dort vor Ort fehlen und enorme Lücken in der medizinischen Versorgung hinterlassen. Das ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis. Dazu nur als ein Beispiel der Beitrag Ärztemangel und Ärzteimport: Immer mehr und doch zu wenig. Und dann das Kreuz mit der deutschen Sprache vom 27. April 2015: »Seit Jahren geht das so – Deutschland importiert immer mehr Ärzte aus anderen Ländern, bislang vor allem aus den ärmeren ost- und südosteuropäischen Ländern, in denen – das wird oftmals völlig aus den Augen verloren – massive Versorgungslücken gerissen werden durch die Abwanderung der dort ebenfalls knappen Ärzte … Das ist nicht nur für die „exportierenden“ Länder ein echtes Problem, es führt auch zu zahlreichen Problemen bei uns, denn natürlich haben die zu uns kommenden Mediziner teilweise ganz andere Ausbildungen absolviert und vor allem stehen sie vor einer großen Hürde, mit der jeder Ausländer konfrontiert ist, die aber bei den Ärzten im wahrsten Sinne des Wortes eine existentielle Bedeutung hat: Gemeint ist hier die Sprachbarriere.« Und von möglichen kulturellen Barrieren ganz zu schweigen.
Und bereits 2015 wurde in diesem Blog die eigentliche Herausforderung so formuliert: »Wir leben also – zugespitzt formuliert – von der Substanz der anderen. Dabei profitieren wir von dem teilweise enormen Wohlstandsgefälle. Aber das sollte Deutschland nicht entlasten, seine eigenen Hausaufgaben zu machen. Und zu denen würde gehören, dass man endlich die Zahl der Studienplätze für Medizin erhöht – und das nicht nur vor dem offensichtlichen Hintergrund, dass wir auf den Import von Ärzten aus dem Ausland angewiesen sind. Wenn immer mehr Ärzte Ärztinnen sind, bei den Studienanfänger reden wir hier teilweise über Werte von 70%, dann wird eine gleich bleibende Zahl an Absolventen schlichtweg durch geringere Arbeitszeitvolumina nach unten gedrückt.« Hinzu kommt eine auch aus anderen Berufen bekannte besondere demografische Dramatik dergestalt, dass viele Mediziner altersbedingt in den kommenden Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden werden, aber dann der über viele Jahre selbstproduzierte Nachwuchsmangel durchschlagen wird.
Dabei hätte es durchaus die Möglichkeit gegeben, mehr und bereits heute dringend benötigte im Inland qualifizierte Ärzte auszubilden – denn die Zahl der Bewerber für einen Medizinstudienplatz ist um ein Vielfaches größer als die Zahl derjenigen, die dann auch einen Studienplatz bekommen. Dem Beitrag Welches Medizinstudium soll es sein? Und wie viele sollen das machen (dürfen)? Zum „Masterplan Medizinstudium 2020“ in Zeiten der Mangels und des Überschusses vom 16. April 2016 kann man dieses Schaubild entnehmen:
Statt mehr Studienplätze für Humanmedizin zu schaffen und mehr geeigneten Bewerbern eine solche Ausbildung zu ermöglichen erleben wir übrigens seit Jahren eine gesellschaftspolitisch völlig defizitäre Teil-Privatisierung dergestalt, dass die Kinder der Eltern, die es sich materiell leisten können, ein Medizinstudium an privaten, gewinnorientierten Hochschulen in Osteuropa aufnehmen und dort die im Inland nicht zugängliche Ausbildung absolvieren. Was aber natürlich nur bei einem entsprechenden finanziellen Background der Eltern möglich ist.
Es hatte in den zurückliegenden Jahren sogar einen Abbau an Studienplätzen für Medizin in Deutschland gegeben. So hat die Bundesärztekammer in der Vergangenheit beispielsweise darauf hingewiesen: »Dringend notwendig ist es aus Sicht der BÄK, die Zahl der Studienplätze bundesweit um mindestens zehn Prozent zu erhöhen – nicht zuletzt angesichts des Ärztemangels. In ihrer Stellungnahme verweist sie darauf, dass es 1990 allein in den alten Bundesländern 12.000 Studienplätze für Humanmedizin gab. „Diese wurden seitdem kontinuierlich reduziert. Statt 16.000 Plätzen, die sich nach der Wiedervereinigung aufgrund der acht hinzugekommenen Fakultäten hätten ergeben müssen, sind es aktuell nur noch rund 10 000“, kritisiert die Bundesärztekammer. Das habe dazu geführt, dass sich immer mehr Bewerber um immer weniger Plätze bemühen müssten. Tatsächlich kommen aktuell rund fünf Bewerber auf einen Medizinstudienplatz.«
Bereits in dem Blog-Beitrag aus dem Jahr 2016 wurde zum einen die These aufgestellt, »dass wir sehr wohl und angesichts der Ausbildungsdauern, über die wir hier reden, schon längst eine Ausweitung der Zahl der Studienplätze brauchen und gebraucht hätten« – um dann diese Erklärung für das unterlassene Tun der Politik in Deutschland anzubieten:
»Man könnte sich an dieser Stelle natürlich zu der Vermutung hinreißen lassen, dass das vor allem deshalb nicht passiert ist und wahrscheinlich auch nicht passieren wird, weil hier zwei Dinge zusammenspielen:
➔ Zum einen handelt es sich um die teuersten Studienplätze überhaupt aufgrund der Verknüpfung des Medizinstudiums mit der Hochschulmedizin – und Hauptfinanzier der Hochschulen sind die klammen Bundesländer. Die schaffen zwar viele neue und zusätzliche Studienplätze, diese aber überwiegend in Studienfächer, die man als „billig“ bezeichnen muss, hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Platzkosten, also z.B. Studienplätze in den Bereichen Wirtschaft und Soziales.
➔ Zum anderen hat Deutschland natürlich den „Vorteil“, angesichts seiner Wirtschaftsstärke und Wohlstandsposition ausländische Ärzte importieren zu können, mit denen man die Lücken durch die „Unterproduktion“ des eigenen Nachwuchses auffüllen kann. Dabei handelt es sich allerdings um eine mehrfach fragwürdige Strategie.«
Wohl wahr, eine mehrfach fragwürdige Strategie. Und nicht nur das. Neben der offensichtlich und seit vielen Jahren auch öffentlich beklagten quantitativen „Unterproduktion“ von zukünftigen Ärzten wurde bis heute auch eine weitere, mindestens ebenso relevante Aufgabe verweigert: die qualitative Neuausrichtung der Medizinerausbildung. Dazu aus dem Beitrag aus dem Jahr 2016: »Es geht um die Frage, wie denn die Mediziner in Zukunft eingebettet werden in das Gesamtsystem der Gesundheitsberufe, denn allen müsste doch klar sein, dass die Zeiten einer pyramidalen, arztzentrierten Versorgung vorbei sind und es mit Blick auf die vor uns liegenden Versorgungsaufgaben um die Verbindung mit den Potenzen und Kapazitäten anderer Gesundheitsberufe, die ebenfalls einer Weiterentwicklung und in vielen Fällen einer Aufwertung bedürfen, gehen wird bzw. gehen muss.«
Das wären die Aufgaben eines Bundesgesundheitsministers Jens Spahn. Aber nicht auch noch dem selbstproduzierten Mangel einen nationalen Anstrich verpassen, der bereits einer schnellen und oberflächlichen Prüfung zwischen den Fingern abblättert. Wie so vieles in diesem Land derzeit ohne wirkliche Substanz ist.