Gerade in den heutigen Zeiten einer sich beständig drehenden Radikalisierungsschraube in den öffentlichen Debatten, über die – ob bewusst oder nicht – immer mehr Begriffe und Aussagen salonfähig gemacht werden, die man früher aus gutem Grund gemieden hätte, sollte man auf Seiten der Medien und der Repräsentanten von Institutionen eine besondere Sensibilität an den Tag legen. Und wenn man das nicht macht, dann muss man sich der Kritik stellen.
Dies als Vorbemerkung angesichts der Überschrift eines Artikels, der einen erschaudern lässt, wenn man einen Moment weiterdenkt und vor allem den Zusammenhang registriert, in dem die Frage gestellt wird: Wie lange sollen wir Schwerstkranke am Leben halten? Darin berichtet Anette Dowideit im Kontext von erneuten Berichten über Geschäftsmodelle und Profite in der ambulanten Intensivpflege über Äußerungen des AOK-Chefs Martin Litsch, der mit Blick auf die Beatmungspatienten, um die es hier geht, dazu aufgerufen habe, „eine ethische Diskussion über die Sinnhaftigkeit zu führen“, dass „Menschen, die nie wieder Bewusstsein erlangen werden, über Jahre hinweg an Maschinen angeschlossen am Leben“ erhalten werden. Nun könnte man einwenden, dass gegen eine grundsätzliche ethische Debatte über Sinn und Unsinn der technischen Machbarkeit nichts einzuwenden sei, wenn die Äußerung des Krankenkassenchefs nicht in diesem Zusammenhang gefallen sein soll:
»Für die gesetzlichen Krankenkassen sind die außerklinischen Intensivpflegepatienten in kurzer Zeit zu einem immensen Kostenfaktor geworden. Für die Versorgung eines einzigen Patienten fallen pro Monat um die 25.000 Euro an. Wie hoch die Summe von fast sechs Milliarden Euro an Ausgaben im vergangenen Jahr war, zeigt der Vergleich mit den Ausgaben der Pflegeversicherungen für „gewöhnliche“ Pflegebedürftige: Die Versorgung dieser rund 3,3 Millionen Menschen kostete im vergangenen Jahr rund 38,5 Milliarden Euro.«
Allerdings lernen wir an dieser Stelle bereits, dass man bei Zahlen immer gut beraten ist, wenn man diese kritisch zur Kenntnis nimmt: Sechs Milliarden Euro – eine sehr hohe Summe. In einem anderen Artikel der gleichen Autorin taucht dann nicht nur eine andere, weitaus kleinere Zahl auf, sondern auch ein die sechs Milliarden Euro korrigierender Hinweis:
»Für einen einzelnen Patienten kann die Versorgung monatlich um die 25.000 Euro kosten. Die gesetzlichen Krankenkassen gaben für außerklinische Intensivpflege im vergangenen Jahr nach Auskunft ihres Spitzenverbandes im vergangenen Jahr rund 1,5 Milliarden Euro aus*.«
Und beim * findet man dann diese Aufklärung: »*In der gedruckten Version dieses Textes und zunächst auch in der Onlinefassung hatten wir die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen als deutlich höher beschrieben: rund 5,9 Milliarden Euro. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung hatte uns die Zahlen zur Verfügung gestellt. Leider ist es dabei zu einem Übermittlungsfehler gekommen, der trotz mehrerer Rückversicherungen erst nach der Veröffentlichung entdeckt wurde.«
Aber die Botschaft dieses Zahlenvergleichs ist mehr als eindeutig. Können und wollen wir uns das noch leisten? Läuft da nicht was aus dem Ruder, was doch keinen „Sinn“ mehr macht – und dann für eine so „leine“ Gruppe an Menschen, während die vielen anderen mit vergleichsweise wenig Geld abgespeist werden?
Was ist der Hintergrund für diese Debatte? Es sind Meldungen über Betrug in einer ganz bestimmten Ecke des Pflegesystems: Ermittlungen gegen viele Anbieter von ambulanter Intensiv-Pflege, so Anette Dowideit: »Außerklinische Intensivpflege ist die Boombranche schlechthin im Gesundheitswesen. Recherchen von WELT zeigen: In der Branche ist Abrechnungsbetrug weit verbreitet. In Bayern ermitteln Staatsanwaltschaften gegen jeden vierten Pflegedienst … Ihnen wird vorgeworfen, den Kassen zu viel in Rechnung gestellt und Patienten zum Teil gefährdet zu haben. Nach Einschätzung der AOK Bayern rechnen kriminelle Anbieter Arbeitsstunden ihrer Mitarbeiter oftmals falsch ab. Anstatt der von den Kassen bezahlten Fachpfleger säßen häufig nicht dafür Ausgebildete an den Betten oder es seien weniger als die bezahlten Pfleger im Einsatz.«
Es geht um eine echte Boombranche: »Die außerklinische Intensivpflege ist ein junger Zweig der Pflegebranche, der um die Jahrtausendwende entstand und stark gewachsen ist. Laut der zuständigen Fachgesellschaft bis gab es im Jahr 2003 rund 500 Schwerstkranke, die auf diese Weise versorgt wurden. Heute sind es bis zu 20.000 Patienten, die aus den Intensivstationen von Krankenhäusern entlassen werden, obwohl sie weiterhin rund um die Uhr beobachtet werden müssen.«
Die neue Berichterstattung zu den angeblichen Betrügereien wurden erwartungsgemäß von vielen Medien aufgegriffen und in der Öffentlichkeit verteilt. Nun muss man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das wahrlich und leider keine neue Erkenntnis ist, die jetzt aufgedeckt wurde. Die ganze Problematik mit den nun wieder vorgetragenen Betrugsvorwürfen sind bereits vor Jahren der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben worden. Vgl. dazu nur als ein Beispiel den Beitrag Beatmungspatienten in einem Bürogebäude und der Frust der Behörden mit einem renitent schlechten Pflegeheim. Aus den Niederungen realer Pflegemissstände. Der wurde in diesem Blog am 16. November 2014 (!) veröffentlicht. Damals wurde dieses Beispiel aus Dortmund zitiert:
»“Geräumt werden Räume im dritten Stock. In ihnen leben nach Angaben der Feuerwehr vier Menschen. Drei von ihnen müssen mit Maschinen beatmet werden. Zwei von ihnen haben Infektionskrankheiten – deswegen tragen die Rettungsdienst-Mitarbeiter Schutzanzüge.“ Man muss zur Einordnung wissen, es geht hier um ein Bürogebäude. In der „Wohnung“ hätten niemals intensiv pflegebedürftige Menschen untergebracht werden dürfen. »Eigentlich als Büroräume vermietet, hatte der Mieter die Räume an eine Firma untervermietet, die dort die vier Patienten untergebracht hatte. Sie wurden nach Angaben der Feuerwehr von einem Pfleger versorgt.« Bei einem Brand hätten die Patienten nicht gerettet werden können – daher wurde wegen Gefahr in Verzug geräumt. Nun stellt sich hier die berechtigte Frage: Was machen Beatmungspatienten in einem Bürogebäude? Wie konnte es überhaupt zu so einem abgründigen Geschäftsmodell kommen?«
Und auch die Autorin der neuen Berichte über die Missstände in der außenklinischen Intensivpflege, Anette Dowideit, wurde 2014 bereits zitiert mit einem Artikel, den sie unter dieser Überschrift veröffentlicht hat: Beatmungs-Stationen sind lukrativ und gefährlich. Und bereits im August 2012 hatte der Pflegeexperte des SWR-Fernsehens, Gottlob Schober, in einem Beitrag für das Politikmagazin „Report Mainz“ das brisante Thema aufgegriffen: Verkaufte Patiente. Der skandalöse Handel mit schwer kranken Pflegepatienten, so hieß der Beitrag: Der Bericht skandalisierte den Vorwurf, dass Intensivpflegepatienten im häuslichen Bereich in einer Preisspanne von 40.000 bis 60.000 Euro zwischen Pflegediensten gehandelt werden. In einem verdeckt gedrehten Verkaufsgespräch hat ein Pflegedienst dem Magazin fünf Patienten zum Preis von 250.000 Euro zum Kauf angeboten. Die dazu gehörenden Pflegeteams können auch übernommen werden. Der Inhaber des Dienstes betonte, dass derzeit keiner der zu verkaufenden Patienten „im Sterben“ liege.
Wir haben es also mit einem seit Jahren bekannten und immer wieder mal thematisierten Problem zu tun. Man ist geneigt, die eigentlich zentrale Frage zu stellen: Warum kann dann im September 2018 die ganze Packung erneut präsentiert werden? Wenn man nachgewiesenermaßen seit langem Kenntnis von hochproblematischen Ausformungen in diesem Bereich der Pflege hat, dann hätte man doch reagieren müssen, dann hätte es engmaschige Kontrollen und Überprüfungen geben müssen. Stattdessen berichtet Anette Dowideit in der Neuauflage im September 2018 von solchen Äußerungen, die ein ganz großes Problem anzeigen (denn solche Äußerungen könnte man auch schon aus den Jahren 2012 oder 2014 zitieren):
»Politiker, Patientenschützer und Krankenkassen fordern, das Geschäft mit Intensivpatienten außerhalb von Krankenhäusern deutlich stärker zu kontrollieren. „Das ist ein hochsensibler Bereich, in dem es problematische Anreize gibt“, sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach … Er forderte, dass es künftig schärfere Kontrollbesuche bei den verantwortlichen Pflegediensten geben müsse.
Auch bei der Deutschen Stiftung Patientenschutz sieht man große Defizite bei den Regeln und den Kontrollen der sogenannten außerklinischen Intensivpflege. Der Chef der Patientenschutzorganisation, Eugen Brysch, nannte die Branche einen „undurchsichtigen Dschungel“. „Sie findet hinter verschlossenen Türen statt und ist zudem sehr lukrativ. Das ruft auch unseriöse Anbieter und Kriminelle auf den Plan.“ Er bezweifele, dass die derzeitigen Kontrollmöglichkeiten ausreichten.
Auch der größten Krankenkasse gehen die Prüfungen der ambulanten Pflegedienste in diesem sensiblen Sektor nicht weit genug. Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, schloss sich deshalb der Forderung nach mehr Qualitätskontrollen der Pflegedienste an – auch, weil die Fallzahlen seit Jahren stark steigen … Litsch schlug vor, die von den Krankenkassen beauftragten Prüfer vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) sollten künftig bei ihren Kontrollbesuchen auch „relevante Kriterien zum Thema Patientenschutz“ prüfen dürfen, also den gesundheitlichen Zustand der Patienten. Bislang kontrollieren sie vor allem die Krankenakten und Dienstpläne.
Aus Sicht von SPD-Politiker Lauterbach gehen die derzeitigen Prüfungen nicht weit genug. „Solche Prüfungen können nur dann zielführend sein, wenn sie unangemeldet stattfinden“, sagte er.«
Diese Zitate verdeutlichen mehr als eindrucksvoll, dass wir es mit einem erheblichen Problem der Begleitung und auch Kontrolle zu tun haben. Das kennen wir ja auch aus anderen Pflegebereichen. Das kann man kritisieren (was seit Jahren passiert) und man muss lösungsorientiert diskutieren, wie man hier Verbesserungen hinbekommt.
Aber was nicht geht: Das bisherige Versagen aller beteiligten Institutionen und Akteure in einem mehr als fragwürdigen Ausbruchsversuch dazu nutzen, aufgrund der hohen Kosten die Intensivpflege für diese Menschen in Frage zu stellen (wobei sich solche Dammbruch-Fragen durchaus einpassen in andere Vorstöße, die Grenzen nach primären Nützlichkeit- bzw. Kostenerwägungen zu verschieben, vgl. dazu den Beitrag Die vieldiskutierte Herrschaft der Algorithmen am Beispiel der Entscheidung über Leben und Tod. Ein Todes-Algorithmus „nur“ als ein weiteres Geschäftsmodell? vom 23. Dezember 2017).
Auf der einen Seite ist die Äußerung des AOK-Chefs lediglich der ehrlicher Ausdruck der seit Jahren zu beobachtenden fortschreitenden negativen Ökonomisierung im Gesundheitswesen, die im Alltag vieler Versicherter und Patienten immer wieder erfahrbar wird, beispielsweise als Rationierungsentscheidung oder eine Verschlechterung von Produkt- und Dienstleistungsqualität.
Aber auf der anderen Seite entfaltet so ein Vorstoß enorme Bauchschmerzen angesichts der Debatten, die (noch?) in extremen Randbereichen der Sterbehilfediskussion immer wieder mal auftauchen und die sich irgendwann einmal verselbständigen könnten (vgl. dazu nur als ein Beispiel den Beitrag Aktive Sterbehilfe in den Niederlanden im Nachfrage- (oder Angebots-?)Boom. Zwischen Hilfe zur Selbstbestimmung und Ausdifferenzierung einer Tötungsmaschinerie? vom 24. April 2017). Man sollte nie vergessen, was passierte, als Pandora die Büchse geöffnet hat.