Der Eintritt in eine Welt, in der alle Lebens- und im wahrsten Sinne des Wortes auch Sterbensbereiche des Menschen der Ökonomisierung unterworfen werden, erfolgt nicht von hier auf heute, nicht durch ein großes Tor, das drinnen und draußen trennt, sondern das geht schleichend, man rutscht über viele kleine Etappen da rein. Deshalb ist es ja auch oftmals so schwer, am Anfang der Wegstrecke die Punkte zu erkennen, an denen man hätte stehen bleiben, umkehren, sich des Weges verweigern sollen. In mehreren Beiträgen wurde hier die Ambivalenz oftmals gut gemeinter Ansätze, die in eine völlig andere Richtung abdriften können, am Beispiel der Sterbehilfe diskutiert. So begann der vorerst letzte Beitrag zum Themenfeld Sterbehilfe – Der Algorithmus als Sensenmann? Umrisse der Gefahr einer totalen Ökonomisierung am Ende des Lebens -, der am 9. Januar 2017 veröffentlicht wurde. Und der Blick in das benachbarte Ausland scheint die Grundthese zu bestätigen, dass man – einmal auf die Schiene gesetzt – Fahrt aufnimmt in eine Welt, die wir derzeit erst in Umrissen erkennen bzw. erahnen können.
»Tötung auf Verlangen durch Ärzte ist in den Niederlanden seit 2002 legal. Rund 6.100 Menschen wählten im Vorjahr den Tod auf Bestellung. Und es wächst der Druck, die Gesetzesvorgaben noch weiter zu fassen«, berichtet Florian Staeck in seinem Artikel Niederlande verzeichnet Nachfrage-Boom. Vier Prozent der Menschen, die im vergangenen Jahr in den Niederlanden gestorben sind, wurden legal im Rahmen des dortigen Sterbehilfegesetzes getötet.
Staeck bezieht sich bei den Zahlen auf den Bericht der Staatlichen Kontrollkommission für 2016 (vgl. Regionale Toetsingscommissies Euthanasie (2017): Jaarverslag 2016, April 2017). Die Sterbehilfe-Fälle haben damit gegenüber 2015 um 10 Prozent zugenommen. 216 mal haben Ärzte Hilfe bei der Selbsttötung geleistet – 5.856 Menschen wurden von Ärzten auf Verlangen getötet.
Zu den Indikationen erfahren wir: »Unter den Indikationen, die von Ärzten gemeldet wurden, dominieren Krebserkrankungen (4.137) vor Erkrankungen des Nervensystems (411). Genannt werden im Bericht Parkinson, Multiple Sklerose und ALS. Weitere häufig genannte Gründe waren Herz- und Gefäßerkrankungen (315) sowie Lungenerkrankungen (214).«
Und dann kommt ein Passus, den man genau und mit Beunruhigung zur Kenntnis nehmen sollte:
»Bei 141 Menschen war eine Demenz die Grundlage für die Meldung des Arztes (2015: 106). In dem Bericht der Kontrollkommission heißt es, in der überwiegenden Zahl habe es sich um Patienten in der Frühphase der Erkrankung gehandelt, in der sie noch „Einblick in ihre Krankheit“ gehabt hätten. In mehreren Fällen sind jedoch auch Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz getötet worden … In 60 Fällen war die vom Arzt gemeldete Hauptdiagnose eine psychiatrische Erkrankung, 2015 hat es 56 solcher Meldungen gegeben.«
Man sollte deshalb an dieser Stelle besonders aufmerksam sein, weil bereits im vergangenen Jahr in diesem Blog darüber berichtet worden ist, dass die Entwicklung in den Niederlande in eine höchst bedenkliche Richtung abzudriften droht. Am 13. Oktober 2016 konnte man in dem Beitrag Sterbehilfe weiter auf der Rutschbahn nach unten? den Hinweis auf diese Meldung lesen: Niederlande wollen Sterbewilligen den Suizid erleichtern: »In Zukunft sollen Senioren in den Niederlanden unter ärztlicher Hilfe aus dem Leben scheiden können – auch ohne an einer schlimmen Krankheit zu leiden.«
»Die niederländische Regierung will ihr Gesetz zur Sterbehilfe reformieren. Ältere Menschen sollen Hilfe zum Suizid bekommen können, wenn sie der Meinung sind, ein „erfülltes Leben“ hinter sich zu haben. In einer gemeinsamen Erklärung der Minister für Gesundheit und für Justiz heißt es, der Schritt müsse nach „gründlicher Überlegung“ der Kandidaten sowie unter „strengen Bedingungen“ und „genauen Kriterien“ geschehen … Die Politiker sind … zu dem Entschluss gekommen, dass großes Leid auch ohne eine schwere Krankheit möglich sein und einen legitimen Grund für Sterbehilfe sein könnte. Die Betreffenden sähen „keine Möglichkeit mehr, ihrem Leben einen Sinn zu geben“, seien „tief betroffen vom Verlust ihrer Unabhängigkeit“ und fühlten sich „isoliert oder einsam vielleicht wegen des Verlusts eines geliebten Menschen“. Sie seien zudem „überwältigt von einer vollständigen Müdigkeit und dem Verlust ihres Selbstwertgefühls“. Doch zur Beendigung ihres Lebens benötigten sie Hilfe.«
Meine damaligen Anfragen können hier wieder aufgerufen werden: Wo soll das enden? Wo könnte das enden, auch wenn es von denen, die das initiieren, überhaupt nicht anvisiert war? Trifft die These vielleicht doch zu, dass die Debatte über aktive Sterbehilfe mit einem emanzipatorischen, auf Selbstbestimmung und Wahlfreiheit abstellenden Impuls startet – und irgendwann später immer weiter in das gesellschaftliche Gewebe diffundiert und sich transformiert zu einem nicht nur gesellschaftlich akzeptierten, sondern auch unter Umständen erwarteten Handlungsraum? Wer garantiert uns, dass das in den vor uns liegenden Zeiten mit vielen alten Menschen, die versorgt und betreut und gepflegt werden müssen, nicht ausartet zu einem neuen sozialdarwinistischen Euthanasie-Programm – unter dem liberal daherkommenden Deckmantel, man wolle nur der Selbstbestimmung des Einzelnen zu ihrem Recht verhelfen, in Wahrheit aber das vermischt mit blutleeren Kosten-Nutzen-Überlegungen? Wenn man Kategorien wie ein „erfülltes Leben“ einführt als Bewertungskriterium für die Zulässigkeit eines Tötungsdelikts, was kann dann noch kommen?
Auch in der neuen Berichterstattung über die Entwicklung in den Niederlanden im vergangenen Jahr finden sich Hinweise, die in gewisser Weise die hier vertretene kritische Grundhaltung bestätigen. Beispielsweise der Hinweis von Florian Staeck auf die von der Kontrollkommission beanstandeten Fälle von ärztlichem Suizid: »Überdurchschnittlich häufig waren Ärzte, die für die „Stiftung Lebensende-Klinik“ (Stichting Levenseindekliniek, SLK) arbeiten, an ethisch besonders strittigen Fällen involviert.« Zu der angesprochenen Organisation erfahren wir weiter:
»Auf dieses Netzwerk von Ärzten und Pflegekräften gingen im Vorjahr 487 Meldungen von Tötungen auf Verlangen zurück – ein starker Anstieg im Vergleich zu 2015 (plus 33 Prozent). Die Stiftung ist 2012 von der Sterbehilfeorganisation NVVE (Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde) gegründet worden, um – so die Selbstbeschreibung – Menschen mit Suizidwunsch dann zu helfen, wenn der behandelnde Arzt dies verweigert. Tatsächlich stammten 37 der 60 Meldungen über Tötungen von psychiatrisch erkrankten Patienten von Ärzten, die für die Stiftung arbeiten. Auch jeder dritte Fall von Sterbehilfe bei Demenzkranken geht auf einen SLK-Arzt zurück.«
Über die „Stiftung Lebensende-Klinik“ wurde bereits am 10. August 2015 auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ berichtet: »Die bereits genannte „Lebensendeklinik“ hat ihr eigenes „Geschäftsmodell“, das darauf aufbaut, dass nicht alle Anfragen nach Sterbehilfe von den Ärzten positiv beschieden werden.
»Für die abgewiesenen Patienten hat die Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde im März 2012 eine Levenseindekliniek gegründet. Hier erhalten von Ärzten abgewiesene Patienten eine „zweite Meinung“. Auf Antrag schickt die Klinik ein mobiles Team mit Schwester/Pfleger und Arzt/Ärztin zu den Patienten. Das Zweierteam prüft dann die Krankenakten und interviewt den Kranken.«
Besonders kritisiert wird auch bei unseren Nachbarn: Bei 11 von 40 Patienten (27,5 Prozent), die über „Lebensmüdigkeit“ klagten, stimmte das mobile Team dem Wunsch nach einem vorzeitigen Lebensende zu.«
Und in seinem neuen Artikel geht auch Florian Staeck auf die Diskussionen in den Niederlanden ein – offensichtlich wird der nächste Erweiterungsschritt vorbereitet: »Sterbehilfeorganisationen fordern, den Rechtsrahmen auszuweiten, und zwar auf Menschen, die ihr Leben als „abgeschlossen“ („Voltooid leven“) begreifen. Denn das Gesetz erlaubt aktive Sterbehilfe bislang allein im Falle eines „unerträglichen Leidens ohne Hoffnung auf Besserung“.«
Und er zitiert Stimmen aus der Regierung, die darauf hinweisen, dass diskutiert werden müsse, »ob ein völlig neuer Rechtsrahmen nötig ist, der auch gesunden Menschen die Möglichkeit für einen – staatlich flankierten – assistierten Suizid eröffnet.«
Die immer wieder in den vergangenen Beiträgen hier aufgeworfene Frage: Wo soll das enden?, hat nichts von ihrer Berechtigung verloren. Ganz im Gegenteil. Sie stellt sich immer drängender.