Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern: Ein Fallbeispiel aus dem sozialstaatlichen Maschinenraum

Der Umgang mit den Menschen, die als Bittsteller, Rechteinhaber, Klienten oder seit einigen Jahren auch euphemistisch als Kunden bezeichnet in den Institutionen des Sozialstaats aufschlagen und dort zuweilen auch abprallen, ist immer wieder punktuell Thema der sozialpolitischen Diskussionen. Man kann das derzeit wieder einmal lehrbuchmäßig am Beispiel der Sanktionen im Hartz IV-System studieren. Da plädiert die SPD-Bundesvorsitzende Nahles für ein Ende der Sanktionierung der jungen Menschen im Grundsicherungssystem – die derzeit nach den Buchstaben des Gesetzes sogar härter sanktioniert werden (müssen) als die über 25 Jahre alten Betroffenen – und sogleich bricht eine Debatte aus, ob und wo und wie oder nicht man was modifizieren muss im bestehenden System.

Für die betroffenen Leistungs- oder Hilfeempfänger geht es aber nicht wirklich um die Frage, wie man einzelne Komponenten des Systems justiert oder korrigiert. Sie leben in den Systemen und sie bewegen sich darin in Gänze. Und einige lavieren sich da gut durch, andere hingegen nehmen Schaden und einige verzweifeln gar an den realen Ausformungen der bürokratischen Systeme, an denen Franz Kafka heute zahlreiche bestsellerfähige Studien hätte betreiben können. 

Zuweilen wird das von den Medien aufgegriffen und thematisiert. So in diesem Beitrag von Anja Nehls: Überleben in der Ämterbürokratie: »Knapp acht Millionen Menschen in Deutschland sind Empfänger sozialer Mindestsicherung wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe. Sie leben mit Sanktionen und permanenter Kontrolle. Das macht einige krank, sie fühlen sich verletzt, ohne Würde.« Sie beschreibt darin beispielsweise die „Termine zum Entblößen“ auf den Ämtern. Und der Rechtsanwalt Jörg Lang legt in seinem Artikel Sozialstaat gegen Arme den Finger auf eine für viele Betroffene klaffende Wunde unseres Sozialstaates: Die »Verfahren um Sozialleistungen werden komplizierter und dauern immer länger« – und viele der Menschen, die darin verwickelt werden, verstehen die Welt nicht mehr, sie werden depressiv oder aggressiv, sie prallen an den kafkaesken Schlossmauern ab, von denen es in der modernen Sozialbürokratie viele gibt. Immer wieder wird man mit der Erfahrung konfrontiert, dass man die Leute am ausgestreckten Arm verhungern lässt.

Oder man treibt sie in Situationen, die sie eigentlich (noch) nicht wollen, wofür sie auch gute Gründe haben. Damit wären wir angekommen bei dem hier leider erneut aufzurufenden Thema Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern. Darüber wurde in diesem Blog in der Vergangenheit mehrfach ausführlich berichtet, es sei nur auf die Beiträge Die andere Seite der „Rente mit 63“: Während die einen wollen, müssen die anderen. Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern bereits vom 1. Dezember 2014, Einerseits eine massive Kritik an der abschlagsfreien „Rente ab 63“ und andererseits eine höchstrichterlich bestätigte Zwangsverrentung ab 63, die dazu führt, dass die zumeist armen Schlucker lebenslang noch ärmer bleiben werden vom 19. August 2015 sowie dann am 18. Mai 2016 unter der Überschrift Mehr Zwangsverrentungen von Hartz IV-Empfängern. Oder doch nicht? Ein Paradebeispiel für systemkonforme und zugleich verirrte Sozialpolitik hingewiesen.

Man muss das Thema, um das es hier geht, einordnen:  Da nehmen viele Menschen, die 45 Beitragsjahre nachweisen können, derzeit die von der Bundesregierung geschaffene vorübergehende Option einer abschlagsfreien „Rente ab 63“ in Anspruch. Und das wird an vielen Stellen bitter beklagt, ein „Aderlass“ für die deutsche Wirtschaft sei das, eine zusätzliche „Besserstellung“ der „glücklichsten“ Rentner-Generation, die es bislang gab und die es so nicht wieder geben wird (vgl. dazu nur beispielsweise Rente mit 63 lockt Facharbeiter in den Ruhestand oder gar Rente mit 63 bedroht den deutschen Wohlstand). Gleichzeitig wird aber der betonierte Pfad in Richtung auf die „Rente ab 67“ keineswegs grundsätzlich verlassen, sondern die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters schreitet weiter voran, so dass die 67 für den Geburtsjahrgang 1964 gelten werden. Das gesetzliche Renteneintrittsalter gewinnt seine besondere Bedeutung dadurch, dass es auch die Grenze definiert, deren Unterschreitung beim Renteneintritt, der weiterhin auch vor dieser Grenze möglich ist, zu teilweise erheblichen lebenslangen Abschlägen bei den ausgezahlten Renten führt. Insofern ist es ja auch verständlich, dass viele Arbeitnehmer versuchen müssen, so lange wie nur irgendwie möglich durchzuhalten, damit sie dem Damoklesschwert der Abschläge von den zugleich im Sinkflug befindlichen Renten vor allem seit der Rentenreform der rot-grünen Bundesregierung Anfang des neuen Jahrtausends zu entgehen. Wenn dann die Bundesregierung eine Option anbietet, auch ohne Abschläge in den Rentenbezug zu wechseln, dann darf man sich nicht wirklich wundern, wenn das auch viele machen, die die Voraussetzungen erfüllen.

Ansonsten geht die Debatte munter weiter in die andere Richtung, also das gesetzliche Renteneintrittsalter noch weiter nach oben zu heben (vgl. zu dieser Debatte beispielsweise die Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks In Rente mit 72? Wie lange wir künftig arbeiten müssen). Immer wieder wird dabei argumentiert, dass „wir“ länger arbeiten „müssen“, weil das Rentensystem sonst nicht aufrechterhalten werden kann. Unabhängig von der bereits grundsätzlichen Fragwürdigkeit dieser Argumentation müsste man vor so einer die Debattenlandschaft dominierenden Kulisse erwarten, dass man alles versuchen wird, um Menschen von einem frühzeitigen Eintritt in den Rentenbezug abzuhalten und darauf hinzuweisen, dass sie doch bitte schön bis zum Ende ihre Arbeitskraft zu Markte tragen sollen.

Blöd nur, wenn die Arbeitskraft zwar auf dem Markt angeboten, aber nicht nachgefragt wird, selbst wenn der oder die Betroffene jeden Tag einen Handstand macht und zahlreiche Bewerbungsrunden dreht. Wie das bei vielen älteren Arbeitslosen der Fall ist. Und hier schlägt die Stunde der windigen Gesetzesmacher. Denn die haben das angesprochene Problem in mehrfacher Hinsicht aufgegriffen. So gibt es beispielsweise die vom Gesetzgeber normierte Regelung, dass man Hartz IV-Beziehern, die 58 Jahre oder älter sind und die im vergangenen Jahr kein Stellenangebot vom Jobcenter bekommen haben, zwar weiterhin die Leistungen nach dem SGB II gewährt, sie aber statistisch nicht mehr als Arbeitslose ausweist, obgleich sie das natürlich weiterhin sind. Auch wenn sie selbst dringen einen neuen Job suchen und antreten würden, wenn es ihn denn geben würde. Vgl. dazu den Beitrag „Nicht-arbeitslose“ Arbeitslose. Ein gar nicht so kleines Beispiel aus den Eingeweiden der Arbeitsmarktstatistik vom 5. April 2018. Wir sprechen hier über mehr als 160.000 ältere Arbeitslose, die als „offizielle“ Arbeitslose einfach wegdefiniert werden. Jeden Monat.

Und dann gibt es die Zwangsverrentung von älteren Hartz IV-Empfängern (die ab dem 63. Lebensjahr seitens des Jobcenters aufgefordert und gezwungen werden können, die „vorrangige“ Leistung Rente zu beziehen, um aus dem SGB II-Bezug auszuscheiden)  – auch gegen ihren Willen lange vor dem Erreichen des (steigenden) gesetzlichen Renteneintrittsalters und damit verbunden enormen lebenslangen Abschlägen bei der Rente. In der vergangenen Legislaturperiode war das schon mal Thema und auch aufgrund einer kritischen Berichterstattung und parlamentarischer Aktivitäten der Opposition im Deutschen Bundestag ist eine Abmilderung, nicht aber eine eigentlich dringend angezeigte Abschaffung der Zwangsverrentungen gelungen. Dazu ausführlicher mit den entsprechenden Hintergründen diese Ausarbeitung:

➔ Sell, Stefan (2016): „Rente mit 63“ – die einen wollen, die anderen müssen, aber auch nicht alle. Die „halbierte“ Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern als Beispiel für eine verirrte Sozialpolitik. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 20-2016, Remagen 2016

Auch mit Blick auf die immer wieder vorgetragene Klage, dass die sozialrechtlichen Regelungen in den meisten Fällen restriktiver zuungunsten der Betroffenen ausgestaltet werden, sich also die Rechtslage für die Leistungsempfänger verschlechtert, hier ein kurzer Exkurs dahingehend, dass es im bestehenden System mal deutlich besser war für die Betroffenen:

➔ Bis zum Januar 2008 waren ältere SGB II-Leistungsempfänger über die so genannte „58er Regelung“ geschützt vor einer vorzeitigen Verrentung gegen ihren Willen. Die „58er Regelung“ gab es bis 2008 in der Arbeitslosenversicherung ( § 428 SGB III). Arbeitslose Personen, die das 58. Lebensjahr vollendet hatten, konnten sich per schriftlicher Erklärung aus der Vermittlung abmelden. Dadurch behielten sie ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld, mussten aber keinerlei Bemühungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes vorweisen. Eingeführt hatte man diese Möglichkeit bereits 1985 vor dem Hintergrund der enormen Probleme, die Arbeitslose in dieser Altersgruppe hatten, in die Nähe eines neuen Jobs zu kommen – und natürlich der Arbeitsvermittlung, ihnen einen solchen vermitteln zu können. So sollte es diesen Personen über die Regelung ermöglicht werden, ohne die sonst üblichen Verpflichtungen bis zur Altersrente von Arbeitslosengeld und anschließend der Arbeitslosenhilfe zu leben. Seit 2005 haben wir keine Arbeitslosenhilfe mehr, sondern das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II, wo eine entsprechende Regelung eingefügt wurde (§ 65 Abs. 4 SGB II).

➔ Die Nicht-Zwangsverrentungsmöglichkeit hat sich ab Januar 2008 fundamental verändert (während die Nicht-Berücksichtigung als offizielle Arbeitslose „natürlich“ geblieben ist). Die Bundesregierung begründet die seitdem bestehende Aufforderung, ab 63 in die Rente zu wechseln, mit dem „Nachranggrundsatz“ der Grundsicherung (konkret wird hier auf den § 12a SGB II verwiesen)  und behauptet: „Mit … Ausnahmevorschriften vom Nachranggrundsatz ist sichergestellt, dass Erwerbstätige nicht vorzeitig aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden.“ (Bundestags-Drucksache 18/152). Gemeint ist hier die Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung – Unbilligkeits-V) vom 14. April 2008. Nach dieser Verordnung sei es so, dass auch über 63jährige SGB II-Leistungsempfänger keine Altersrente beantragen müssen, wenn sie
a) einer nicht bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit nachgehen oder parallel die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld beziehen (sog. Aufstocker),
b) in nächster Zukunft (innerhalb der nächsten drei Monate) eine abschlagsfreie Rente beziehen können oder
c) glaubhaft machen, demnächst eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.
Der letzte Punkt ist natürlich ein Witz, denn das bedeutet, wenn der betroffene Arbeitsuchende zum Zeitpunkt seiner drohenden zwangsweisen Frühverrentung mit den beschriebenen Konsequenzen zufälligerweise einen konkreten Job gefunden hat, den er demnächst beginnen kann, dann verzichtet man auf die Zwangsverrentung. Nicht aber, wenn er dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und beispielsweise hofft, über Aktivitäten der Jobcenter wieder in Arbeit zu kommen. Die werden durch diese extrem einengende Interpretation der Bundesregierung vollständig aus der Schusslinie genommen, denn man könnte ja auch so argumentieren, dass für die Jobcenter das Bemühen um einen neuen Job doch Kernanliegen sein sollte, das eben auch für einen 58jährigen „Kunden“ fortbestehen kann (und sollte). Stattdessen hat man 2008 eine Regelung eingeführt, mit dessen Hilfe man sich der älteren Arbeitslosen schon mit 63 entledigen kann, weil man sie an die Rentenversicherung „verliert“, die sich dann um diese Menschen kümmern muss.

In der vergangenen Legislaturperiode hat die damalige Große Koalition zwei Veränderungen vorgenommen – eine Verschärfung und eine scheinbare Erleichterung. Das Problem für die Jobcenter, das der Gesetzgeber angegangen ist, lässt sich so beschreiben: Schätzungen zufolge werden jährlich Tausende Hartz-IV-Empfänger aufgefordert, vorzeitig mit 63 in Rente zu gehen – obwohl sie dabei Abschläge hinnehmen müssen. Kommen die Menschen der Aufforderung nicht nach, können Jobcenter die Anträge dafür stellen. Nötige Unterlagen würden die Betroffenen aber oft nicht vorlegen, so die Klage aus den Jobcentern. Nach bisheriger Rechtslage seien die Möglichkeiten zur Einwirkung auf die Betroffenen damit erschöpft. Deshalb sollen die Jobcenter in solchen Fällen künftig Leistungen versagen, bis die Betroffenen ihren Mitwirkungspflichten nachkommen.
Die Verschärfung des Zwangscharakters der Zwangsverrentung im Sinne einer verpflichtenden Sanktionierung der Betroffenen, wenn sie nicht oder nicht ausreichend mitwirken an der eigenen Zwangsverrentung, wurde direkt im SGB II normiert als Auftrag an die Jobcenter, denen die sich nicht mehr entziehen können. Zugleich hat man auch aufgrund der damaligen Kritik versucht, die Regelungen wieder zu entschärfen – aber nur für einen Teil der Betroffenen: Nicht mehr zur Zwangsverrentung gezwungen werden die Hartz IV-Empfänger, die dadurch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter angewiesen wären. Die anderen schon, weil die ja das System der Grundsicherung durch den Wechseln des Zahlers entlasten.

Das hat man dann in der bereits angesprochenen „Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente“, der sogenannten Unbilligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) umgesetzt. Dort findet man im § 6 Satz 1 UnbilligkeitsV den folgenden Passus: »Unbillig ist die Inanspruchnahme, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden würden.«

Und es gibt noch eine weitere Ausnahme von der Verpflichtung, Rente auch mit Abschlägen beantragen zu müssen. So heißt es im § 3 UnbilligkeitsV: »Unbillig ist die Inanspruchnahme, wenn Hilfebedürftige in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen können.« Unter „in nächster Zukunft“ versteht die Bundesagentur für Arbeit einen Zeitraum von drei Monaten. Wenn das länger dauern sollte, dann muss die Rente beantragt werden.

Aber genau darum ging es nun in einer neuen Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG). In dem Artikel Aus Hartz IV abschlagsfrei in Rente finden wir diese Hinweise zum Sachverhalt: »Vier Monate Hartz IV noch. Dann hätte der Kläger aus Neubrandenburg ohne Abzüge in Rente gehen können. Schließlich hat er insgesamt 45 Jahre gearbeitet und wurde erst zum Ende seiner Erwerbsbiographie arbeitslos. Doch das Jobcenter hat den Hartz-IV-Empfänger zwangsweise frühverrentet. Finanzielle Folge: 100 Euro Rente weniger im Monat. Bis ans Lebensende.«

Das Jobcenter hatte die vorgezogene Altersrente mit Abschlag beantragt, der Betroffene dagegen wollte verständlicherweise die Altersrente ohne Abschläge. Das Sozialgericht Neubrandenburg hat dann das Begehr des Jobcenters nach Zwangsverrentung widersprochen und die Aufforderung zur Rentenantragstellung aufgehoben. Mit welcher Begründung?

»Die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente mit Abschlägen sei unbillig, weil der Kläger im Sinne von § 3 Unbilligkeitsverordnung „in nächster Zukunft“ eine abschlagsfreie Altersrente beziehen könne. Bei einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte sei das nach den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen auch bei einer Zeitspanne von vier Monaten und nicht nur bei den im Referentenentwurf zur Unbilligkeitsverordnung angeführten drei Monaten der Fall.«

Mit seiner Sprungrevision zum BSG hat das Jobcenter die Entscheidung des SG Neubrandenburg angegriffen. Doch das BSG hat sich mit seiner Entscheidung gegen das Jobcenter gestellt (AZ: B 14 AS 1/18 R): »Liegt zwischen der abschlagsbehafteten und der abschlagsfreien Altersrente ein Abstand von vier Monaten, ist der Verweis auf die Inanspruchnahme der geminderten Altersrente nach § 3 Unbilligkeitsverordnung unbillig, weil in diesem Sinne die Möglichkeit der abschlagsfreien Altersrente „in nächster Zukunft“ besteht.«

Und vertiefend berichtet das BSG: »Mit der Freistellung von der Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer geminderten Altersrente im Hinblick auf eine „bevorstehende abschlagsfreie Altersrente“ hat der Verordnungsgeber nach seiner Regelungsintention auf das Missverhältnis zwischen der Höhe der bei vorzeitiger Inanspruchnahme hinzunehmenden Abschläge im Rentenbezug einerseits und der vergleichsweise kurzen restlichen Bezugszeit von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bis zum Beginn der abschlagsfreien Altersrente andererseits reagiert. Daran gemessen ist eine zusätzliche Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen von vier Monaten bei einer durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von gegenwärtig nahezu 20 Jahren so kurz, dass der Verweis auf eine dauerhaft geminderte Altersrente einem Leistungsberechtigten nicht zuzumuten ist.«

Was wir mit diesem Urteil allerdings nicht erfahren: Wie lang darf es denn sein? Die bisher von der BA verwendeten drei Monate sind mit der BSG-Entscheidung hinfällig, aber wo ist denn die relevante Grenze?

Und wenn der eine oder andere angesichts der verwirrenden Detailaspekte vielleicht den Eindruck bekommen haben sollte, hier wird doch nur über belanglose Kleinigkeiten gestritten und Berichtet, dann sollte man einen Blick werfen auf diese Geldbeträge: »Hätte er sich auf die Zwangsverrentung eingelassen, würde er auf die nächsten 20 Jahre gerechnet 24.000 Euro weniger Rente bekommen.« Das sind wahrlich keine Peanuts.

Aber wie viele sind es denn, die von diesem Instrumentarium betroffen sind bzw. werden? Diese Frage ist überaus schwierig zu bearbeiten, denn von der Rentenversicherung gibt es keine Statistik, wer und wie viele zwangsverrentet wurden. Zu der möglichen Größenordnung gibt es jetzt eine neue Kurzexpertise aus der Paritätischen Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes:

➔ Andreas Aust, Joachim Rock und Greta Schabram (2018): Zwangsverrentungen im SGB II. Eine empirische Abschätzung der Auswirkungen auf Bestand und Abgänge von älteren SGB-II-Leistungsberechtigten. Kurzexpertise Nr. 3 /2018, Berlin, 15. August 2018

Die Expertise versucht eine näherungsweise Bestimmung der Zahlen vorzunehmen. Sie stützt sich dabei auf eine Sonderauswertung der Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Folgende Befunde:

»Dabei zeigt sich, dass Zwangsverrentungen weiterhin in erheblichem Umfang stattfinden, obwohl das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im September 2016 meldete, Zwangsverrentungen „abgeschafft“ zu haben. Zwar hat sich die Zahl der Abgänge von arbeitslosen Leistungsbeziehenden im Alter von 63 und 64 Jahren aus dem SGB II nach einer Reform der sog. Unbilligkeitsverordnung, die Ausnahmen von der Zwangsverrentung regelt, verringert. Auch 2017 waren jedoch noch 49.119 Abgänge der über 63-Jährigen und 22.473 Abgänge von über 64-Jährigen aus dem SGB II in die Nichterwerbstätigkeit oder ohne weiteren Aufschluss zu verzeichnen. Das sind mehr als doppelt so viele, wie etwa fünf Jahre zuvor, im Jahr 2012.«

Die Studienautoren kommen zu dem Ergebnis, dass »trotz der Reform der Unbilligkeitsverordnung 2017 nach wie vor von einer fünfstelligen Anzahl von zwangsverrenteten Menschen pro Jahrgang auszugehen. Für die Betroffenen folgen daraus zum Teil erhebliche und lebenslang wirkende Abschläge auf den monatlichen Rentenanspruch, die sich schnell auf mehrere tausend Euro summieren.«

Man hat jetzt an dieser Stelle den Punkt erreicht, wo man kopfschüttelnd die sich ausdifferenzierenden Regelungen zur Kenntnis nimmt oder das entstandene Ungetüm beklagt.

Man könnte aber auch einfach die Empfehlung aussprechen: Die Sonderregelung Zwangsverrentung wird ersatzlos gestrichen. Aus und gut ist.