Die Untiefen der großen kleinen Zahlen: Von mickrigen Renten, einer falschen Gleichsetzung mit Altersarmut sowie zugleich deren beharrliche Leugnung

Es ist ja nun wirklich eine Binsenweisheit, dass man bei Statistiken verdammt aufpassen muss. Gerade auch deshalb, weil sie gerne von den einen oder anderen für ihr jeweiligen Zwecke genutzt oder vernebelt werden. Besonders gefährlich wird es, wenn mit Durchschnittswerten gearbeitet wird. Ein Beispiel: »Dem Alterssicherungsbericht der Regierung zufolge lag das durchschnittliche Netto-Gesamteinkommen für Ehepaare im Jahr 2016 bei 2.543 Euro. Alleinstehende Männer über 64 kamen auf 1.614, alleinstehende Frauen auf 1.420 Euro.« Also wirklich, wird der eine oder andere denken, den Senioren geht es doch sehr gut, als Rentnerpaar netto mehr als 2.500 Euro im Monat – da kann man das Leben ordentlich genießen und das erklärt uns dann die vielen älteren Menschen auf den Kreuzfahrtschiffen dieser Welt. Nun sind aber solche Zahlen fragwürdig bzw. sogar kontraproduktiv, wenn man die Streuung der einzelnen tatsächlichen Einkommenswerte um diesen Mittelwert nicht kennt oder diese stark ausgeprägt ist. Genau das ist aber bei den Haushaltseinkommen der Fall, was auch erklärt, warum Millionen Rentner beim Lesen dieser Werte sicher mehr als erstaunt reagieren, wie weit weg davon doch ihr verfügbares Einkommen ist. Während einige andere über 2.500 Euro pro Monat und dann auch noch für zwei Personen nur müde lachen können.

Und nun erreichen uns solche Meldungen: Fast jede zweite Rente niedriger als 800 Euro. Grundlage ist Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. Rund 8,6 Millionen Rentner erhielten Ende 2016 demnach eine Rente von weniger als 800 Euro monatlich – ein Anteil von 48 Prozent. Darunter 2.185.162 Männer (=27 Prozent aller Männer im Rentenbezug) sowie 6.436.623 Frauen (= 64 Prozent aller Frauen im Rentenbezug). Die Zahlen beziehen sich dem Bericht zufolge auf Renten nach Sozialversicherungsbeiträgen, jedoch vor Abzug von Steuern.

Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sabine Zimmermann, wird mit diesen Worten zitiert: „Die Zahlen zeigen, dass schon heute ein großer Teil gesetzliche Rentenbezüge unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle und sogar unter der Grundsicherungsschwelle erhält.“ Nun passiert etwas, was erwartbar ist: Viele werden eine solche Botschaft so lesen, dass Millionen Rentner heute schon eine Rente unterhalb der Sozialhilfeschwelle bekommen und auch nicht mehr haben. Das ist natürlich falsch. Das Bundesarbeitsministerium schreibt der Abgeordneten auf ihre Frage erst einmal zutreffend, dass die »Rentenhöhe für sich genommen nur eingeschränkt Hinweise auf die Einkommenssituation im Alter (gibt). Da weitere Einkommen nicht berücksichtigtwerden, ist die Bezugnahme auf die Höhe des durchschnittlichen Bruttobedarfs von Empfängerinnen und Empfängern der Grundsicherung im Alter (800 Euro, Stand Dezember 2016) diesbezüglich nicht aussagefähig.« Was die Ministerialen damit zum Ausdruck bringen wollen: Nur weil jemand eine mickrige Rente von 400 oder 500 Euro im Monat bekommt, bedeutet das noch lange nicht, dass die auch nur davon über die Runden kommen bzw. beim Sozialamt aufstocken müssen. Es kann sich nämlich durchaus um Personen handeln, die insgesamt betrachtet gut leben können – weil sie tatsächlich weitaus mehr Geld zur Verfügung haben.

Die Auflösung dieses scheinbaren Rätsels ist einfach und mehrgestaltig zugleich:  Eine niedrige Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung darf nicht mit einem niedrigen Alterseinkommen oder gar mit Altersarmut gleichgesetzt werden. So können Rentenzahlungen aus anderen Sicherungssystemen, wie der Beamtenversorgung, Betriebsrente, Lebensversicherung hinzukommen – oder es könnten Ansprüche auf andere Einkommen wie Mieteinnahmen bestehen. Außerdem können Rentner neben der Versichertenrente auch eine Hinterbliebenenrente beziehen. Und diejenigen, die nur sehr geringe Renten beziehen (weniger als 300 Euro), sind in aller Regel hauptsächlich durch andere Alterssicherungssysteme abgesichert: Vor dem Eintritt in ein Beamtenverhältnis oder vor Beginn der Selbstständigkeit waren sie für kurze Zeit versicherungspflichtig beschäftigt, sodass ihre gesetzlichen Renten niedrig ausfallen. Schlussendlich ist das Haushaltseinkommen insgesamt zu berücksichtigen: Eine Ehefrau mit einer geringen Rente kann in einem Haushalt leben, in dem aufgrund der Rente ihres Ehemanns insgesamt ein ausreichend hohes Haushaltseinkommen erreicht wird.

Auf diese Argumentation setzen dann andere, interessierte Kreise, beispielsweise das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft. Von dort meldet sich Jochen Pimpertz unter der Überschrift Armutsgefährdung treffsicher bekämpfen zu Wort: Das fast jede zweite Monatsrente unter 800 Euro liegt, deutet »jedoch noch nicht direkt auf eine steigende Armutsgefährdung hin – denn die niedrigen Renten werden oft durch den Partner ausgeglichen.« Wenn man denn (noch) einen Partner hat und der über eine deutlich bessere Altersversorgung verfügt, möchte man einwerfen. Aber damit greifen wir vor. Schauen wir uns erst einmal den weiteren Argumentationsgang von Pimpertz genau an:

»Dass heute so viele niedrige Renten ausgezahlt werden, ist auch ein Spiegel der familiären Arbeitsteilung, die früher vor allem für westdeutsche Haushalte typisch war: Vorherrschend war der männliche Alleinverdiener, der deshalb auch das Gros des Ruhestandseinkommens beisteuert. Das sichert auch den Ehepartner ab, selbst wenn dessen Rentenanspruch vergleichsweise gering ausfällt. So lässt sich erklären, warum fast die Hälfte der gesetzlichen Monatsrenten unter dem Hartz IV-Niveau eines Single-Haushalts (einschließlich pauschalierter Wohnkosten) liegt, aber nur 3,1 Prozent der über 65-Jährigen Grundsicherung im Alter beziehen.«

Die Botschaft ist klar – von einem besonderen Problem Altersarmut kann man nun doch nicht wirklich sprechen, wenn die Quote der Grundsicherungsempfänger im Alter bei schlappen 3,1 Prozent liegt. Also alles relativ gut, von den wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Aber halt. Dem fachlich geschulten Beobachter der Szenerie fällt natürlich auf, dass hier eine ganz perfide Engführung von Altersarmut vorgenommen wird – auf die Gruppe derjenigen, die sich in das System einer bedürftigkeitsabhängigen und -geprüften Sozialhilfeleistung begeben haben. „Natürlich“ berichtet das Institut der deutschen Wirtschaft mit keinem Wort von den vielen, die eigentlich Anspruch hätten auf aufstockende Grundsicherungsleistungen aufgrund ihrer niedrigen Renten, diese aber aus unterschiedlichen Gründen nicht wahrnehmen (Dunkelziffer der Armut). Aber selbst darum geht es hier nicht – sondern um den Tatbestand, dass nach international gültigen statistischen Konventionen die Altersarmut oder das Risiko, von ihr betroffen zu sein, eben nicht an der Zahl der Grundsicherungsempfänger gemessen wird, sondern an der relativen Einkommensarmutsquote. Und die ist so definiert: Wenn man weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens hat, dann gilt man als von Einkommensarmut „bedroht“. Um das mal lebensnäher auszudrücken: Wenn man als Einpersonenhaushalt im Jahr 2016 weniger als 969 Euro im Monat für alles zur Verfügung hatte, also für Miete, Lebensmittel und sonstige Ausgaben, dann war man im Status „armutsgefährdet“. Man kann natürlich auch sagen: Mit solchen Geldsummen war und ist man schlichtweg arm, wenn man sich die Miet- und sonstigen Preise anschaut.

Aber die Verengung des Begriffs Altersarmut auf den Grundsicherungsbezug hat derzeit Konjunktur. Als Beispiel kann man solche Meldungen heranziehen: Wenn es schiefläuft: 2030 über eine Million in Altersarmut, so die Überschrift eines Artikels von Manfred Brüss: »Die Deutsche Rentenversicherung hat ausrechnen lassen, wie sich wohl die Inanspruchnahme der Grundsicherung durch Ältere bis zum Jahr 2030 entwickeln könnte. Die ungünstige Projektion geht von einer Verdoppelung der Grundsicherungsbezieher im Alter aus, die günstigere von einem verlangsamten Zuwachs auf gut 834.000.«

Aber warum wird hier eigentlich nicht die „Armutsgefährdungsschwelle“ herangezogen, also das international gültige Maß? Weil man dann konzedieren muss, dass der Anteil der altersarmen Menschen mit über 15 Prozent deutlich höher liegt als die Quote der Grundsicherungsempfänger? Und bzw. oder, weil man vermeiden möchte zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass der Anstieg der so gemessenen Armutsquote bei den 65 Jahre und älteren Menschen deutlich über der allgemeinen Armutsentwicklung lag?

Weil man dann möglicherweise diskutieren muss, dass der bereits in den vergangenen Jahren erkennbare überdurchschnittliche Anstieg der Armutsquote bei den älteren Menschen erst das „Warmlaufen“ einer Entwicklung mit Blick auf die vor uns liegenden Jahre ist, die ohne grundlegende Reformen einen starken Schub an altersarmen Menschen bringen muss?

Und wir werden in den kommenden Jahren eine erste Welle mit vielen dann nur noch prekär im Alter abgesicherten Menschen in Ostdeutschland zur Kenntnis nehmen müssen. Denn dort gehen jetzt immer mehr Menschen in die Rente, die nach der Wiedervereinigung über 40 waren und die damals keinen richtigen Fuß mehr auf den Arbeitsmarktboden bekommen haben. Von Kurzarbeit Null in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung, später vielleicht, wenn überhaupt, eine Beschäftigung im dort grassierenden Niedriglohnsektor mit Stundenlöhnen zwischen vier und sechs Euro. Jeder, der sich nur etwas mit der Rentenformel in unserem System beschäftigt hat (die an sich mehr als simpel gestrickt ist, vgl. dazu § 64 SGB VI), weiß, dass man mit solchen Einkommen keine gesetzliche Rente erwirtschaften kann, die selbst bei jahrzehntelanger Arbeit über dem Grundsicherungsniveau liegen wird.

Und gerade in Ostdeutschland kommt gleichsam eine altersarmutsrelevante Kumulation von Risiken hinzu, denn dort geht es jetzt um ganz viele Menschen, die zerschossene Erwerbsbiografien aufweisen mit teilweise sehr langen und/oder immer wiederkehrenden Arbeitslosigkeitszeiten (deren rentenrechtliche Absicherung übrigens über die Jahre immer schlechter geworden ist, vgl. dazu ausführlicher Johannes Steffen: Zeiten der Arbeitslosigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung), sowie Beschäftigungszeiten in dem gerade in Ostdeutschland ausgeprägten Niedriglohnsektor. Und das waren und sind Branchen, wo es so gut wie nie irgendwelche Formen der ergänzenden betrieblichen Altersvorsorge gab und gibt, so dass auch keine Ansprüche auf Betriebsrenten aufgebaut werden konnten. Und private Altersvorsorge haben die meisten auch nicht betreiben können, sie kamen ja schon mit den laufenden Kosten kaum über die Runden. Von Vermögensaufbau ganz zu schweigen. Und eine signifikant große Erbengeneration gibt es hier auch nicht. Daraus folgt aber eben auch: Viele dieser Menschen werden im Ruhestand ganz überwiegend bis ausschließlich auf die Leistungen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen sein. Diese einseitige Unwucht kann man bereits für die Vergangenheit feststellen, gerade wenn man sich das anschaut, was nach den Kritikern an einer Überbewertung der niedrigen Einzelrenten der eigentlich relevante Maßstab für die Beurteilung der Frage sein sollte, ob wir es mit armen Haushalten zu tun haben – also das Gesamteinkommen der Haushalte älterer Menschen, das eben auch aus anderen Quellen als nur der gesetzlichen Rente gespeist werden kann.

Die Tabelle aus dem Rentenversicherungsbericht 2017 mit Zahlen aus dem Projekt Alterssicherung in Deutschland 2015 (ASID 2015) zeigt nun wirklich eindrücklich die einseitige Struktur der Haushaltseinkommensquellen der Älteren in Ostdeutschland und deren bereits heute bestehende Abhängigkeit bzw. ihr Ausgeliefertsein an das, was aus dem gesetzlichen Rententopf reinkommt.

Und der enorme Stellenwert der niedrigen Löhne und der daraus zwangsläufig selbst bei langen Beschäftigungszeiten resultierenden niedrigen gesetzlichen Rentenansprüche ist auch heute ein Charakteristikum für viele Menschen in Ostdeutschland. Vgl. dazu den Beitrag 3,7 Millionen – wohlgemerkt – sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte verdienen weniger als 2.000 Euro brutto pro Monat. Das hat Folgen, nicht nur heute schon vom 29. April 2018. Für Ende 2016 wird ausgewiesen, dass fast jeder dritte vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer in Ostdeutschland weniger als 2.000 Euro brutto nach Hause bringt. Was das nicht nur für das heutige Leben, sondern auch in unserem bestehenden Rentensystem zur Folge hat, muss nicht wirklich weiter entfaltet werden.

Fazit: Eine weiter ansteigende und in den unteren bis in die mittleren Einkommensgruppen teilweise explodierende Altersarmut (bei gleichzeitiger Zunahme derjenigen, die materiell im Alter aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden multiplen Einkommensquellen sehr gut abgesicherten Älteren) lässt sich im bestehenden System der Alterssicherung nicht mehr aufhalten, es sei denn, man wagt systemverändernde Umbauarbeiten. Gleichzeitig zeigt die aktuelle Diskussion, dass wir die schleichende und immer weniger auch von den Medien hinterfragte Reduktion von Altersarmut auf den Bezug der Sozialhilfeleistung Grundsicherung im Alter nicht hinnehmen sollten. Ganz offensichtlich geht es dabei darum, die Zahlen möglichst klein zu halten. Aber gerade wenn es durchaus berechtigt nicht um die Höhe einer einzelnen Rente gehen soll, wenn über Altersarmut diskutiert wird, sondern um das Haushaltseinkommen insgesamt, dann muss man den Maßstab heranziehen, der in der internationalen Armutsforschung und übrigens auch auf der Ebene der internationalen Statistik als der relevante Maßstab ausgewiesen wird. Und das ist die „Armutsgefährdungsquote“. Und deren Ampelsignal ist bereits heute zwischen  gelb und rot und wird möglicherweise tiefrot werden.