Gentrifizierung – die zerstörerischen Schneisen hinter einem abstrakten Begriff und die Maschinerie von Angebot und Nachfrage

Auch wenn das im noch laufenden Wahlkampf wie so viele andere wahrlich bedeutsame Themen keine Rolle spielt – eine der ganz großen sozialen Fragen, mit denen wir es zu tun haben und die absehbar an Konfliktintensität und Verzweifelungspotenzial gewinnen wird, ist die Wohnungsfrage. Ein eklatanter Mangel an bezahlbarem Wohnraum für die vielen Menschen in den unteren und zunehmend auch mittleren Einkommensschichten in den (groß)städtischen Wachstumsregionen ist bereits vorhanden und wird sich der Mechanik der großen Angebots-Nachfrage-Maschienerie entsprechend weiter entfalten müssen, wenn man nicht korrigierend eingreift. Wenn man das überhaupt kann.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder in der Debatte über das, was in vielen Großstädten abläuft, der Begriff der „Gentrifizierung“ verwendet.

Was muss man sich darunter vorstellen? Das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) sollte das wissen. 2011 hat das Institut einen Erläuterungsversuch veröffentlicht. Die Stadtforscher schreiben in ihrem kurzen Beitrag Was ist eigentlich Gentrifizierung?: »Der Begriff Gentrifizierung wurde in den 1960er Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt, die Veränderungen im Londoner Stadtteil Islington untersuchte. Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (= niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanzkräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen einhergeht.« 

Interessant sind auch die Hinweise auf den prozesshaften Charakter dessen, was dann oftmals vom Ende her kritisiert oder beklagt wird:

»Ausgangssituation bei solchen Prozessen ist häufig zunächst Leerstand. In solche leerstehenden Gebäude ziehen „Kreative“, die sie als Ateliers und für preiswertes Wohnen nutzen. Dies wiederum verändert das Image zuvor unattraktiver Quartiere, die sich nun in „Szenequartiere“ wandeln und damit öffentliche Aufmerksamkeit – und Begehrlichkeiten – auf sich ziehen.

Im Zusammenhang mit dem Aufwertungsprozess erfolgt oft die Verdrängung sowohl der alteingesessenen, gering verdienenden Bevölkerung als auch von langansässigen Geschäften, die dem Zuzug der neuen kaufkräftigeren Bevölkerung und deren entsprechend veränderten Nachfrage weichen müssen. In der Regel sind es innerstädtische Viertel, die von Gentrifizierung betroffen sind.«

Davon nun können viele in Berlin, München, Frankfurt und den anderen größeren Städten ein Lied singen, das wird ihnen bei aller Nüchternheit der Beschreibung verletzend bekannt vorkommen.

Aber, so meine These, diese „klassische“ Beschreibung, wie Gentrifizierung abläuft, muss als das gesehen werden, was es ist: Der Versuch, eine Dimension davon einzufangen. Vieles, was man heute in Berlin und anderswo als „Gentrifizierung“ etikettieren bzw. brandmarken würde, kommt ohne irgendwelche Künstler oder mehr oder wenige „Kreative“ aus, sondern folgt eher den ehernen Marktgesetzen von (zu wenig) Angebot und (zu viel) Nachfrage in einem zugleich höchst doppeldeutigen Sinne.

Der Artikel „Ist ja alles so teuer geworden“ von Silvia Perdoni illustriert das am Beispiel eines Besuchs in Berlin-Kreuzmitte. Damit wird eine Gegend bezeichnet an der »Bezirksgrenze zwischen Mitte und Kreuzberg, wo Schickeria und Schrammeligkeit zu „Kreuzmitte“ verschmelzen.« Die dort (noch) lebende Rita Timm, 82 Jahre alt, hat alle Phasen des Auf und Ab miterlebt. 1961 hat sie von ihrem Schlafzimmer den Bau der Mauer verfolgen müssen – danach war ihre Gegend „Zonenrandgebiet“ und schlechte Lage, um das mal im Immobiliendeutsch auszudrücken. Und dann 1990, als erneut Bauarbeiter kamen und die Mauer wieder abgerissen haben – »und plötzlich blickte sie auf einen Grünstreifen, der so friedlich dalag, als wäre nie etwas gewesen. Sie wohnte nun im geografischen Zentrum einer geeinten Stadt.«

In eine immobilienökonomisch gesehen „wirklich gute Lage“ wurde Rita Timm mit ihrer Wohnung hineinkatapultiert. Mittlerweile wohnt die alte Dame im Herzen eines Booms. Und sie gerät nun in das große Mahlwerk von Angebot und Nachfrage. Ihr Haus, in dem sie wohnt, wird saniert. Und sie wird deshalb bald mehr Miete zahlen müssen, eine Miete, die ihr signalisieren wird, dass sie hier nicht mehr erwünscht ist, dass sie nicht mehr zu dem Quartier passt.

»Rund um die Otto-Suhr-Siedlung, wo Rita Timm seit 59 Jahren wohnt, wo Berlin laut Sozialstrukturatlas noch heute am ärmsten ist, sind in den vergangenen Jahren neue Wohnkomplexe entstanden, schicke Bauten mit Glasbalkonen, Fußbodenheizung und Tiefgaragen.«

Der Verteilungskampf um Aufwertung, Sanierung und Verdrängung, der in vielen deutschen Städten tobt, wird auf dem Rücken und Im Schlafzimmer der alten Dame ausgetragen.

Hier in ihrem Haus, einem ehemaligen Sozialbau aus den 50er-Jahren, lässt sich der Vermieter die Modernisierung teuer bezahlen. „In der Nachbarschaft wohnen Alte und Behinderte, für die es schwer wird, die Mieterhöhung zu stemmen“, sagt Rita Timm. „Aber wo sollen sie hin? Ist ja alles so teuer geworden.“

In Deutschland fehlen eine Million Wohnungen, sagt der Deutsche Mieterbund. Immer mehr Menschen ziehen in die Städte, Wohnraum ist zum Luxusgut geworden. Selbst Normalverdiener haben es schwer, einen Platz für sich und ihre Familien zu finden. In einer Meinungsumfrage geben 61 Prozent der Befragten an, die nächste Regierung müsse sich dringend um bezahlbaren Wohnraum kümmern, so Silvia Perdoni in ihrem Artikel.

»„137 Euro soll ich in Zukunft mehr bezahlen“, sagt Rita Timm. Bisher kostet ihre Dreizimmerwohnung 509 Euro warm, nun sollen es 646 Euro werden. Rund zehn Euro pro Quadratmeter zahlt sie dann – immer noch ein Preis, von dem neue Mieter in dem Viertel nur träumen können. Und dennoch zu viel für Arbeitslose, Alleinerziehende oder Aufstocker.«
Man ahnt schon, für wen das wie ausgehen wird.

In einigen Nachbarwohnungen sollen die Mieten um bis zu 80 Prozent steigen. Möglich wird das durch das deutsche Recht: Vermieter dürfen elf Prozent der Modernisierungskosten auf die Mieter umlegen.

Wer agiert hier eigentlich? Dazu Perdoni: »Der mit 1.700 Wohnungen größte Vermieter in der Otto-Suhr-Siedlung ist die Deutsche Wohnen. Und die kalkuliert sogar damit, die Quadratmeterpreise im Kiez verdoppeln zu können. Das schreibt das Unternehmen in einer nicht-öffentlichen Präsentation für Investoren.«

An dieser Stelle passt dann ein erneuter Blick in die Erläuterung des DIFU, was man sich unter Gentrifizierung vorstellen muss:

»Die Entwicklung des deutschen Wohnungsmarktes zeigt, dass – auch durch das seit der Jahrtausendwende zunehmende Agieren internationaler Finanzinvestoren auf dem deutschen Immobilienmarkt – hierzulande Gentrifizierung zu einem wachsenden Problem geworden ist.«

Und Perdoni liefert uns gleich ein handfestes Beispiel dazu in ihrem Artikel:

»Auf dem alten Mauerstreifen haben im Frühjahr die Arbeiten für eine neue Siedlung begonnen. Hier entsteht das Quartier Luisenpark, ein „exklusives Neubauprojekt in der Mitte Berlins“, wie es in der Broschüre heißt.

Ein Plakat am Bauzaun zeigt ein weißes Gebäude in der Dämmerung, aus Panoramafenstern fällt Licht. „Cosmopolitan Houses“ steht darüber. Was „cosmopolitan“ heißt, weiß Rita Timm nicht. Und dennoch ahnt sie, was es für ihren Kiez bedeutet: „Noch mehr Eigentumswohnungen!“«

Und schon sind wir mittendrin in dem Spiel von Angebot und Nachfrage und der Orientierung auf den Preis: Der Bund hat eines der letzten großen Filetgrundstücke im Zentrum, direkt vor dem Fenster von Rita Timm gelegen, nicht an die Stadt verkauft, damit hier günstige Wohnungen entstehen können. Er verkaufte das zweieinhalb Fußballfelder große Areal im vergangenen Jahr an den Meistbietenden: einen privaten Investor. Für 29,1 Millionen Euro.
Übrigens ein Verhalten, das dem Gesetz entspricht, den nach dem soll der Bund seine Immobilien zum Höchstpreis verkaufen.  Ein Antrag, die Praxis zu ändern, scheiterte im Jahr 2015 im Bundestag.

Seien wir einmal herzlos und lassen uns nicht blenden von Gefühlsduselei, sondern begreifen das als wirkkräftiges Zusammenspiel eines (bestimmten) Angebots und einer (bestimmten) Nachfrage. Mit „bestimmt“ ist hier eben nicht generell ein vorhandener Nachfrageüberhang bezeichnet, der zu einer Angebotsausweitung führen müsste, weil man hier Geschäfte machen könnte. Also nicht gemeint ist der enorme Nachfrageüberhang nach günstigem oder halbwegs bezahlbaren Wohnraum, denn die Rendite aus der Bearbeitung einer anderen Nachfrage sind nun einmal aus der einzelbetrieblichen Sicht eines Anbieters im Segment der höherpreisigen oder gar der Luxuswohnungen höher (bis es in diesem Segment dann Marktungleichgewichte gibt, also konkret einen Angebotsüberschuss, der gut ist für die überschaubare Zahl an Nachfrager in diesem Bereich und schlecht für die Anbieter – aber das dauert und der einzelne Anleger hat nur die in der Vergangenheit erzielten Renditen vor Augen und schreibt diese in die Zukunft fort).

Und diese Verzerrung auf der Angebotsseite kann eben befördert werden durch die Entscheidung der öffentlichen Hand, das Nadelöhr für die Entwicklung, also Grundstücke, entweder in öffentlicher Hand zu belassen und/oder deren Nutzung durch Auflagen zu steuern – oder aber (scheinbar) „Kohle zu machen“ und die Grundstücke bzw. Immobilien an private Investoren zu verticken.

Dazu ein zweites Beispiel aus Berlin, das zugleich verknüpft ist mit einem anderen Thema aus dem großen Pott der zunehmenden Ungleichheitsentwicklung in unserem Land. Es geht um Studenten. Auch die haben Wohnraumbedarf und gerade Studenten aus einkommensschwachen Familien haben Probleme, steigende Mieten zu finanzieren. Wenn sie denn überhaupt etwas finden. Die anderen Studenten aus den anderen Familien, die gibt es aber eben auch und sogar aufgrund der sozialen Schichtung der hochschulischen Ausbildung in großer Zahl gibt, was wiederum verzweifelt Anlagemöglichkeiten suchende private Investoren anzieht.

Und die befördern dann mit ihren – für sich und in ihrer Welt völlig rationalen Investitionsentscheidungen – die weitere Gentrifizierung. Dazu der Artikel 635 Euro Miete für 18 Quadratmeter von Ulrich Paul:

»Die Internetseite des Wohnprojekts Neon Wood verspricht „unvergessliche Semester im Herzen der Stadt“. In den gerade fertiggestellten Apartments an der Warschauer Straße, Ecke Frankfurter Tor in Friedrichshain könnten die Bewohner „entspannen“, sich „verwirklichen“ und von hier aus Berlin entdecken. Vorausgesetzt, dass sie das nötige Geld haben.«

Machen wir das mit dem „nötigen Geld“ mal konkreter: »18 Quadratmeter großes, möbliertes Apartment vom Typ Classic kostet im Neon Wood ab 635 Euro Miete monatlich. In der nächst höheren Kategorie, in der das Apartment noch einen Balkon hat, sind schon 680 Euro Miete zu zahlen, in der Deluxe-Version mit 24 Quadratmetern und Balkon beginnen die Mietpreise schließlich bei 750 Euro.«

Vermietet werden die Apartments von der Cresco Urban Yurt GmbH, die zur Cresco Capital Group gehört. Im Vergleich zu den Mieten in den Wohnheimen des Studierendenwerks, sind die Neon-Wood-Apartments fast dreimal so teuer. Zu dem „normalen“ Anbieter studentischen Wohnraums in Berlin erfahren wir:

»Die 9.500 Wohnheimplätze des Studierendenwerks kosten im Schnitt nur 220 Euro. Sogar die neu errichteten, vollmöblierten Mikro-Apartments der landeseigenen Berlinovo sind mit 340 Euro für 16 Quadratmeter nur etwa halb so teuer.«

Das ist nun eine ganz andere Hausnummer – aber hier haben wir auch ein ganz bestimmtes Angebots-Nachfrage-Problem: Beim Studierendenwerk stehen 4.150 Studenten auf der Warteliste.

Das nun ist auch mit ein Grund dafür, dass der private Investor derart hohe Mieten verlangen kann. Aber wie konnte er überhaupt so ein Objekt hochziehen? Da kommen wir wieder bei der öffentlichen Hand an: Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) hatte das ehemals bundeseigene Filetgrundstück im Jahr 2013 privatisiert.

»Die 10.381 Quadratmeter große Fläche ging damals nach einem Bieterverfahren für 15,75 Millionen Euro an die Cresco Capital Frankfurter Tor mit Sitz in Luxemburg.«

Und weiter berichtet Ulrich Paul:

»Forderungen Berliner Politiker, die Immobilie lieber an die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) zu verkaufen, damit diese dort bezahlbare Wohnungen anbieten kann, wurden vom Bund ignoriert. „Bei bundespolitischen Entscheidungen seien lokale Interessen nicht zu berücksichtigen“, wird der Bundestagsabgeordnete Norbert Brackmann (CDU/CSU) in einem Protokoll über die Sitzung des Bundestags-Haushaltsausschusses vom 2. April 2014 zitiert.«

Und auch Paul erwähnt in seinem Artikel die neuen Filetstücke auf und um die ehemalige Mauer zwischen West- und Ost-Berlin:

»Die Folgen der Privatisierung bundeseigener Flächen zeigen sich noch an anderer Stelle. Auf dem früheren Mauerstreifen an der Stallschreiberstraße in Mitte hat der Bund im Jahr 2015 ein rund 17 500 Quadratmeter großes Baugrundstück für 29,1 Millionen Euro an die Firma Formart verkauft.

Sie hatte in einem Bieterverfahren „das wirtschaftlichste Angebot“ gemacht. Die zwischenzeitlich in Instone Real Estate umbenannte Firma errichtet auf dem früheren Mauerstreifen 409 Eigentumswohnungen – zu Preisen ab 4900 Euro pro Quadratmeter. Nach Maklerangaben reicht das Preisspektrum der 40 bis 156 Quadratmeter großen Wohnungen von 269.000 Euro bis 1,48 Millionen Euro.«

Das alles bleibt nicht ohne Folgen. Hinter den nackten Zahlen und den großen Euro-Beträgen stehen enorme Veränderungen der Räume, in denen Menschen leben. Was aus einer Gegend, die bis Anfang der 2000er-Jahre vor sich hin vegetierte, durch Gentrifizierung werden kann, berichtet Silvia Perdoni in ihrem Beitrag „Ist ja alles so teuer geworden“: Nicht weit entfernt von der Wohnung der 82-jährigen Rita Timm an der ehemaligen Mauer befinden sich die „Fellini Residences“.

»Im dritten Stock des Seitenflügels wohnt Rohan Dutta. Dielen aus Naturholz bedecken den Fußboden, durch eine weiße Kassettentür gelangt man ins Wohnzimmer mit offener Einbauküche. Alles sieht hochwertig aus – und trotzdem fühlt sich Rohan Dutta nicht wohl …  Vor zwei Jahren kam der 30-Jährige aus Indien nach Berlin, um als IT-Berater zu arbeiten … Die Straßen um seine Wohnung nennt er „Zombieland“. Hier, südlich vom Spittelmarkt, gibt es zwei Supermärkte, aber keine Spätis, keine Metzger, keine Gemüsehändler. Ein paar Restaurants bieten Mittagstisch für die Leute aus den umliegenden Büros an. Abends machen sie zu. Menschen sind dann kaum zu sehen auf den Straßen. Und viele Fenster bleiben dunkel. Hinter ihnen liegen Eigentumswohnungen, für deren Besitzer es unerheblich ist, ob sie vermietet sind oder nicht. Sie sind Kapitalanlagen.«

„Zombieland“ – das sollte man sich merken.

Die Wohnungspolitik, so Silvia Perdoni, steht vor großen Herausforderungen: »Da gibt es die Mietpreisbremse, die nicht funktioniert. Da gibt es Quartiere im sozialen Wohnungsbau, die ihre Preisbindung und damit die auf Jahre festgelegte günstige Miete verlieren. Und nicht zuletzt gibt es die große Frage: Wie viel Wachstum verkraften deutsche Städte, ohne die Menschen zu verlieren, die sie lebenswert machen?« Das ist aber eine Kategorie, die dem anlage- und renditesuchenden Kapital völlig egal ist bzw. sein muss. Darum müssen sich andere kümmern.