Das Armutsrisiko war – gemessen an der Armutsgefährdungsquote – im Jahr 2016 in den südlichen Bundesländern Baden-Württemberg mit 11,9 Prozent und Bayern mit 12,1 Prozent am geringsten. Das bundesweit höchste Armutsrisiko wies Bremen mit 22,6 Prozent auf, gefolgt von Sachsen-Anhalt mit 21,4 Prozent und Mecklenburg-Vorpommern mit 20,4 Prozent. So findet man das am Anfang einer dieser typisch-trockenen Pressemitteilungen des Statistischen Bundesamtes: Armutsgefährdung in den Bundesländern weiter unterschiedlich, so ist die überschrieben. Die neuen Zahlen zur „Armutsgefährdungsquote“ wurden in vielen Medien aufgegriffen. Glückliches Baden-Württemberg – so die Überschrift im Handelsblatt. Zugleich wird dort aber auch gleich am Anfang des Beitrags darauf hingewiesen: »Insgesamt verharrt die Armut in Deutschland auf hohem Niveau.« Und dem Artikel kann man außerdem entnehmen: »Als von Armut bedroht gilt danach jemand, dessen Einkommen 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) unterschreitet. Im Bundesdurchschnitt verharrt die Armutsgefährdungsquote bei 15,7 Prozent – so hoch wie 2015. In den Jahren davor ist sie stetig gestiegen.« Andere Schlagzeilen von heute: Armut in Berlin: Fast jeder Fünfte von Armut bedroht, so der in Berlin erscheinende Tagesspiegel: »In Berlin lebt fast jeder Fünfte am Rand des Existenzminimums. Berlin liegt dabei an vierter Stelle nach Bremen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpormmern.«
Die Unterschiede zwischen den Bundesländern – das verdeutlicht auch die erste Abbildung – sind enorm. Nun kann man auch eine zweite Variante der Abbildung darstellen, bei der sich die Werte für die einzelnen Bundesländern teilweise deutlich verändern – mit dem erkennbaren Muster, dass die „Wohlstandskinder“ unter den Bundesländern schlechter abschneiden, während sich in den Hochrisikoländern die Anteilswerte verkleinern:
Man erkennt beispielsweise für Bremen, dem Spitzenreiter bei der „allgemeinen“, am Bundesdurchschnitt gemessenen Armutsgefährdungsquote, dass der Wert von 22,6 auf 18,2 Prozent zurückgeht, wenn man nicht den Bundesmedian bei der Einkommenshöhe heranzieht, sondern den Median im Stadtstaat Bremen. Zugleich steigt die Armutsgefährdungsquote für das reiche und „glückliche“ Baden-Württemberg von niedrigen 11,9 auf 15,4 Prozent. Wie kommen diese Unterschiede bei den Anteilswerten zustande?
Im „Normalfall“ nimmt man den Median der Einkommensverteilung bundesweit – bei den anderen Werten hat man den jeweiligen Median des Bundeslandes herangezogen, um daran dann die 60-Prozent-davon -und-weniger-Schwelle zu bestimmen. Ein Beispiel mit konkreten Euro-Beträgen:
2016 lag die Armutsgefährdungsschwelle für einen Einpersonenhaushalt laut der amtlichen Sozialberichterstattung bundesweit bei 969 Euro pro Monat. Wenn man weniger Geld zur Verfügung hat, dann wird man als „armutsgefährdet“ klassifiziert.
Wird die Armutsgefährdung am jeweiligen Landes-Median gemessen, ergeben sich andere Anteilswerte, denn die (regional differenzierte) Schwelle lag 2016 in Baden-Württemberg bei 1.055 Euro/Monat, der niedrigste Wert wurde für Mecklenburg-Vorpommern mit 846 Euro/Monat ausgewiesen.
Es gibt durchaus gute Argumente für eine regionale Differenzierung, wenn es denn die Daten zulassen. Viele tragen immer wieder und nicht unberechtigt vor, dass die Euro-Beträge in Mecklenburg-Vorpommern hinsichtlich der dortigen Lebenshaltungskosten einen anderen wert haben als beispielsweise in Stuttgart und München. Das leuchtet auf den ersten Blick ein, nicht nur, wenn wir an Mieten denken. Aber das statistische Problem lautet: Es gibt keine ausreichend validen Daten regional unterschiedlicher Preisniveaus, die man aber bräuchte, um den Regionalisierungsweg beschreiten zu können. Also bleibt man derzeit bei der Bemessung an einem bundesweiten Durchschnittswert bei der Bestimmung der Armutsgefährdungsschwelle, wie das die Statistiker nennen.
Nun gibt es nicht nur erhebliche regionale Differenzen schon auf der Ebene der Bundesländern, sondern auch mit Blick auf einige soziodemografische Merkmale. Schauen wir uns das einmal genauer an.
Einer der wichtigsten und diskussionswürdigen Punkte ist die Differenzierung der Armutsgefährdungsquote nach Altersgruppen:
Zwei zentrale Befunde sind erkennbar: Zum einen die überdurchschnittliche Betroffenheit der jüngeren Jahrgänge – und dabei die Feststellung, dass das Armutsrisiko vor allem für die unter 18 Jahre alten Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Jahren weiter angestiegen ist. Dies ist unauflösbar verknüpft mit einem der großen gesellschaftspolitischen Skandale dieses Landes – das „Armutsticket“, das viele Alleinerziehende ziehen (müssen). Die Anteilswerte für diese, überwiegend aus Frauen bestehenden Gruppe, sind skandalös:
Fast die Hälfte der Alleinerziehenden – und damit auch ihre Kinder – sind von Einkommensarmut betroffen. Zugleich werden viele Alleinerziehende auf das Hartz IV-System verwiesen, das aber einer ganz anderen Logik folgt.
Zum anderen kann man der Zeitreihe parallel zu der besonderen Schwere der „Kinder- und Jugendarmut“ in unserem Land entnehmen, dass das Armutsrisiko für die Älteren stetig ansteigt. Noch vor einigen Jahren lag die Armutsgefährdungsquote der 65 Jahre und älteren Menschen deutlich unter dem Durchschnitt der gesamten Bevölkerung, aber wir sehen seit Jahren einen kontinuierlichen Anstieg bei dieser Personengruppe:
Es sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass das erst der Anfang einer sich beschleunigenden Entwicklung sein wird, wenn man keine Systemveränderungen vornimmt, denn die Älteren mit den durchlöcherten Erwerbsbiographien und die vielen, die in dem seit Mitte der 1990er Jahren massiv expandierenden Niedriglohnsektor hängen geblieben sind, werden erst noch in den kommenden Jahren in die Altersgruppe hineinwachsen.
Und auch ein weiterer Befund soll hier nicht unterschlagen werden – die Stabilisierung und der leichte Rückgang der Armutsgefährdungsquote bei den Personen ohne Migrationshintergund und der parallele Anstieg der Quote bei den Menschen mit Migrationshintergrund:
Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der naheliegende Verdacht, dass die vielen Flüchtlinge die Quote nacht oben treiben, dahingehend zu präzisieren ist, dass aufgrund erhebungstechnischer Gründe – die Werte basieren auf dem Mikrozensus, in dem beispielsweise die Menschen in Sammelunterkünften nicht enthalten sind – deren quotensteigernder Effekt erst in diesem und im kommenden Jahr richtig sichtbar werden wird.
Die ganze Entwicklung muss auch vor dem vielbeschworenen Hintergrund gesehen werden, dass wir „goldene Jahre“ auf dem Arbeitsmarkt hatten und haben, mit sinkender Arbeitslosigkeit und steigender Erwerbstätigkeit. Aber offensichtlich gibt es in Teilbereichen eine Abkoppelung und Verfestigung von Einkommensarmut.
Und für alle, die sogleich versuchen werden, die hier vom Statistischen Bundesamt präsentierten Zahlen wieder Kleinzureden, dass das doch gar keine Armut sei, dass da nur Einkommensungleichheit gemessen wird: Man möge mal versuchen, als Alleinstehender mit 969 Euro im Monat alle Kosten, also Miete und Lebenshaltung und „Teilhabe“ am gesellschaftlichen Leben abzudecken.
Wer das dann auch noch fachlich fundiert braucht, der sei beispielsweise auf diesen Beitrag verwiesen:
Arbeitskreis Armutsforschung (2017): Erklärung zum Armutsbegriff, in: Soziale Sicherheit, Heft 4/2017: »Wenn ein neuer Bericht über Armut in Deutschland vorgelegt wird, entbrennt regelmäßig eine Diskussion darüber, was überhaupt unter Armut zu verstehen ist und wie Armut gemessen werden soll. Die Interpretationen gehen hier sehr weit. Dabei gibt es schon seit über 30 Jahren eine international anerkannte Methode für die Armutsmessung. Der Arbeitskreis Armutsforschung, in dem sich Wissenschaftler, Vertreter von Wohlfahrtsverbänden und andere Praktiker austauschen, hat in der folgenden »Erklärung zum Armutsbegriff« die derzeit gängigsten Kritikpunkte an der Methode der Armutsmessung aufgegriffen und ihnen fundierte Antworten gegenübergestellt.«