»Die Kinderarmut in Deutschland hat 2016 erneut spürbar zugenommen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die unter der Armutsgefährdungsgrenze leben, stieg um 0,6 Prozentpunkte auf 20,3 Prozent. Das entspricht rund 2,7 Millionen Personen unter 18 Jahren.« Das berichtet die Hans-Böckler-Stiftung mit Bezug auf eine Auswertung offizieller Zahlen durch das Wirtschaftswachstum- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI). Unter der Überschrift Armut in Deutschland: Bei Kindern deutlicher Anstieg durch Zuwanderung, Altersarmut wächst ebenfalls leicht erfahren wir weiter, dass man die Zahlen zur Kinderarmut allerdings differenziert betrachten muss: »Grund für den Anstieg ist, dass sich die große Zahl der in letzter Zeit nach Deutschland geflüchteten Kinder und Jugendlichen jetzt in der Sozialstatistik niederschlägt. Dagegen sind die Armutsquoten unter Kindern und Jugendlichen, die keinen Migrationshintergrund haben oder als Kinder von Migranten in Deutschland geboren wurden, leicht rückläufig.«
Die Gesamtbetrachtung – die man auch in den Abbildungen aus der WSI-Expertise ablesen kann – wird abgerundet durch diese Hinweise: »Die allgemeine Armutsquote in Deutschland stagniert, während sich der langfristige kontinuierliche Anstieg der Armutsgefährdung unter Senioren auch 2016 fortgesetzt hat.« Die neuen Zahlen für 2016 basieren auf einer Auswertung von Daten, die aus dem Mikrozensus stammen. Hierbei handelt es sich um die die größte jährliche Haushaltsbefragung der amtlichen Statistik in Deutschland. Es werden fast ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland zu ihren Arbeits- und Lebensbedingungen befragt. Für 2016 konkret heißt das: Über 365.700 Haushalten mit fast 744.000 Personen wurden befragt (vgl. dazu genauer den Qualitätsbericht Mikrozensus 2016 des Statistischen Bundesamtes).
Die Auswertung des WSI im Original findet man in dieser Veröffentlichung:
➔ Eric Seils und Jutta Höhne (2017): Armut und Einwanderung. Armutsrisiken nach Migrationsstatus und Alter – Eine Kurzauswertung aktueller Daten auf Basis des Mikrozensus 2016. Policy Brief WSI Nr. 12, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), August 2017.
Wenn die Wissenschaftler für das Jahr 2016 schreiben: »Die Armutsquote für die Gesamtbevölkerung liegt aktuell bei 15,8 Prozent«, dann meinen sie damit – wie sie selbst erläutern – ganz korrekt gesprochen die Armutsgefährdungsquote. Die ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Standard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied (so bekommen Kinder beispielsweise ein deutlich geringeres Gewicht zugewiesen als Erwachsene). Nach EU-Standard wird zur Bedarfsgewichtung die neue OECD-Skala verwendet. Danach wird der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1 zugeordnet, für die weiteren Haushaltsmitglieder werden Gewichte von < 1 eingesetzt (0,5 für weitere Personen im Alter von 14 und mehr Jahren und 0,3 für jedes Kind im Alter von unter 14 Jahren), weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames Wirtschaften Einsparungen erreichen lassen.
Es sei an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass diese gerade in Deutschland gerne und von Ökonomen kritisierte Armutsgefährdungsquote, auf die man sich international vor langer Zeit als Maßstab verständigt hat, eine insgesamt betrachtet absolut sinnvolle und korrekte Größe zur Abbildung des Umfangs der Einkommensarmut(sgefährdung) ist. Sie basiert auf dem Konzept der relativen Armut, was logischerweise bedeuten muss, dass Menschen in Deutschland mit anderen Geldbeträgen als arm oder von Armut bedroht klassifiziert werden als in Bangladesch. Das die Bemessung von Einkommensarmut an weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens eine in mehrfacher Hinsicht korrekte Art und Weise der Messung darstellt, wurde in dem Blog-Beitrag Die ritualisierte (Nicht-)Debatte über Armut und Armutsgefährdung, weitere Armutsberichte und ein wissenschaftlicher Ordnungsruf vom 20. März 2017 ausführlich dargelegt. Und zuweilen hilft in dieser abstrakten Quoten-Debatte ein Blick auf die zugrundeliegenden Euro-Beträge. Die Statistiker bezeichnen den Geldbetrag, bei dessen Unterschreitung man als „armutsgefährdet“ gilt, als „Armutsgefährdungsschwellen“. Für 2015 weist die Amtliche Sozialberichterstattung für Alleinstehende einen Betrag von monatlich 942 Euro aus. Mit diesen 942 Euro muss man dann alle Ausgaben decken, Wohnen, Lebenshaltungskosten usw.
Der vom WSI ausgewiesene Anstieg der Kinderarmut geht zurück auf die starke Zuwanderung, vor allem von Flüchtlingen, nach Deutschland:
»Die Zunahme spiegelt die starke Zuwanderung von Minderjährigen wider, die als Flüchtlinge zumeist unter der Armutsgrenze leben müssen. Dabei geht der rechnerische Zuwachs zum Teil auf datentechnische Probleme zurück: Viele der 2016 als armutsgefährdet ausgewiesenen Kinder dürften bereits 2015 zugewandert sein. Die amtliche Armutsstatistik hat sie jedoch nur mit zeitlicher Verzögerung berücksichtigen können: Die Armutsquote bezieht sich stets nur auf Personen in Privathaushalten. Viele Flüchtlingsfamilien lebten aber Ende 2015 in Sammelunterkünften und wurden daher zunächst ausgeklammert.«
Dagegen ist die Armutsquote von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden, zwischen 2015 und 2016 von 28,9 auf 28,2 Prozent gesunken. Bei Personen unter 18 Jahren ohne Migrationshintergrund ist die Quote ebenfalls leicht zurückgegangen – von 13,5 auf 13,3 Prozent.
Wem das jetzt mit Blick auf die Situation armer Kinder und Jugendlicher vor dem Hintergrund, dass es in diesem Beitrag vor allem um Statistiken geht, zu trocken und abstrakt daherkommt, dem sei aus der Vielzahl der „Frontberichte“ dieser Artikel empfohlen: Abgehängt und ausgegrenzt: So leben Deutschlands Kinder in Armut: »Miese Wohnungen, wenig Geld, Gewalt und soziale Ausgrenzung: In Bremerhaven ist all das in vielen Haushalten bittere Realität. Über 40 Prozent der Kinder dort sind armutsgefährdet – so viele wie in keiner anderen Stadt in Deutschland.«
Auf der Basis der zitierten Daten könnte man also zu der Schlussfolgerung kommen, dass die soziale Lage (gemessen an der Einkommensarmutsquote) für die einheimische Bevölkerung leicht besser wird, zugleich aber die der Menschen mit Migrationshintergrund schlechter, was vor allem auf die Flüchtlinge zurückzuführen ist.
Aber so einfach kann man es sich nicht machen, wenn man neben den Kindern eine weitere Teilgruppe der Bevölkerung unter die Lupe nimmt – die Rentner. Dazu erfahren wir in der Zusammenfassung der Auswertung durch die Hans-Böckler-Stiftung:
»Unter der Bevölkerung im Rentenalter zeigen sich … keine vergleichbaren Unterschiede nach Migrationsstatus … Seit 2009 steigt auch die Armutsquote bei Menschen über 65 Jahren, die keinen Migrationshintergrund haben. Eine geringfügige Zunahme in dieser Gruppe (12,6 auf 12,7 Prozent) ist der Grund dafür, dass die Altersarmut insgesamt 2016 um 0,2 Prozentpunkte auf 14,8 Prozent gestiegen ist. Senioren ohne Migrationshintergrund sind mittlerweile häufiger armutsgefährdet als der Durchschnitt der Bevölkerung ohne Zuwanderungsgeschichte.«
Das hier sollten sich alle, die einer Debatte über die zunehmende Altersarmut in unserem Land ausweichen wollen, genau anschauen:
»Die Altersarmut hat den Angaben der Amtlichen Sozialberichterstattung zufolge seit 2006 kontinuierlich zugenommen … Nunmehr leben 14,8 Prozent aller Personen im Alter von 65 Jahren und mehr unter der Armutsgrenze … Zumindest für den Zeitraum seit 2009 wird ferner deutlich, dass sich der Anstieg der Altersarmut in Deutschland sehr wohl auch auf die Älteren ohne Migrationshintergrund erstreckt. Diese Gruppe ist inzwischen deutlich stärker armutsgefährdet als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund insgesamt … Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Älteren mit Migrationshintergrund ein noch viel höheres und weiter steigendes Armutsrisiko aufweisen.« (Seils/Höhne 2017: 3 f.)
Das Fazit der WSI-Wissenschaftler: »Das Armutsrisiko der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Die Einwanderer und ihre Kinder tragen hingegen weiterhin ein hohes Armutsrisiko. Der kontinuierliche Anstieg der Altersarmut zeigt ein Problem an, das unabhängig von der Herkunft immer mehr Menschen betrifft und systematisch gelöst werden muss.« (Seils/Höhne 2017: 4).