Es gibt ja seit Jahren eine kontroverse Debatte über „den“ Fachkräftemangel. Die einen belegen einen solchen massiv und dass das immer schlimmer werde, die anderen melden Skepsis und Zweifel an, ob es einen solchen wirklich gibt oder wir nicht eher Zeuge des nachvollziehbaren, aber eben auch sehr einseitigen Wehgeklages der Arbeitgeber sind, die veränderte Angebots-Nachfrage-Bedingungen auf den Arbeitsmärkten zu spüren bekommen.
Aber es gibt einen real existierenden Fachkräftemangel in bestimmten Bereich a) definitiv schon heute und b) mit fatalen Folgewirkungen auf andere, in diesem Fall schutzbedürftige Menschen: In vielen Jugendämtern. Und wenn wir von Jugendämtern sprechen, dann geht es nicht um irgendwelche Aktenproduktionsanlagen und Stempelverwaltungsenklaven, sondern um Institutionen der Daseinsvorsorge, die es mit vielen Dilemmata zu tun haben in ihrer täglichen Arbeit – man denke nur an den Teilbereich der Gefahr für das Kindeswohl, wo bei den konkreten Fällen die einen oftmals den Jugendämtern vorwerfen, sie haben zu spät oder gar nicht interveniert, die anderen aber Jugendämter als „Kinderklaubehörden“ anklagen, weil sie angeblich zu Unrecht Kinder aus Familien geholt haben.
Ein Hotspot des seit Jahren immer wieder beklagten Fachkräftemangels und der schieren Personalnot sind die Jugendämter in Berlin. In diesen Tagen werden wir Zeuge dieser unendlich daherkommenden Fortsetzungsgeschichte.
Jede achte Stelle ist nicht besetzt, in manchen Bezirken sogar jede fünfte. Davon sind auch die Schulen betroffen: Sie müssen länger auf Hilfe warten, so der Beginn eines Beitrags von Susanne Vieth-Entus und Ann-Katrin Hipp in ihrem Artikel Personalnot in Berlins Jugendämtern. In den sozialen Diensten, die auch für den Kinderschutz zuständig sind, fehlen rund 100 Mitarbeiter. Das wirkt sich nicht nur auf die Familien, sondern auch direkt auf die Schulen aus. „Das Jugendamt kann sich nicht kümmern“, ist längst eine feste Redewendung unter Schulleitern, wenn es beispielsweise um renitente Schwänzer, Störer oder Schulabbrecher geht.
Nun wird der eine oder andere sich erinnernd einwerfen, dass die personelle Unterausstattung in den regionalen sozialen Diensten mitsamt Jugendschutz doch schon seit Jahren ein Thema war und man sich auf Verbesserungen in diesem Bereich verständigt hatte. Richtig. Auf dem Papier.
»2015 hatten sich Bezirke und Senat darauf geeinigt, dass ein Mitarbeiter nicht mehr als 65 Fälle bearbeiten sollte. 170 neue Stellen sollten laut Jugendverwaltung entstehen, die genannten 100 sind aber noch immer offen. In der Folge muss sich – etwa in Mitte – ein Mitarbeiter um „real 80 bis 90 Fälle“ kümmern.«
Nur eine Anmerkung zu der Sichtweise auf „Fälle“: Die Sozialarbeiter beklagen zu hohe Fallzahlen und weisen zugleich darauf hin, dass hinter jedem Fall eine Familie stehe, „der man bei der Menge kaum mehr gerecht werden kann“. Eine mögliche amtliche Kindeswohlgefährdung sozusagen. Dass dann auch noch angesichts dieser Rahmenbedingungen besonders dort Leistungen runtergefahren oder gar eingestellt werden, die nicht von unmittelbarer auch rechtlicher Brisanz für den öffentlichen Jugendhilfeträger sind wie beispielsweise die Präventionsarbeit, versteht sich leider fast von selbst.
Und wieder geht es natürlich auch um das Geld, also die Vergütung für die sicher schwere Arbeit – und erneut werden wir Zeuge für ein föderales Gefälle, allerdings für den einen oder anderen überraschend nicht nach dem bekannten West (mehr) und Ost (weniger)-Gefälle, sondern: Sozialarbeiter und Sozialpädagogen wandern aus Berlin in das benachbarte Brandenburg ab, wo der monatliche Bruttoverdienst um rund 400 Euro höher liegt. Das beklagt nicht die Gewerkschaft, sondern der neue rot-rot-grüne Senat sieht das genau so und will eine bessere Vergütung. Das gleiche Gehaltsgefälle gilt übrigens für die Erzieherinnen – und das vor dem Hintergrund, dass demnächst in den Berliner Kitas schon heute Personal fehlt und das in den kommenden Monaten massiv zunehmen soll.
Zur Situation im Kita-Bereich vgl. auch den Artikel Alltäglicher Kampf der Erzieher: Bis zum Sommer dieses Jahres rechnen Experten mit 1.500 unbesetzten Stellen. Und das, obgleich man in der vergangenen Legislaturperiode die Ausbildungsplätze für Erzieher verdoppelt hat und auch in Zukunft sollen die Fachschulen ausbauen, so die Senatsverwaltung für Bildung. Rund 30.000 neue Kitaplätze will Berlin bis zum Jahr 2020 schaffen, dazu sollen sich Erzieher in den kommenden Jahren durchschnittlich um weniger Kinder kümmern.
Zurück zu den Jugendämtern in Berlin. Ein Amtsleiter wird mit der Einschätzung zitiert, »dass nicht nur die geringe Bezahlung zur Vakanz der Stellen führe, sondern auch die Tätigkeit an sich: „Da kommen Berufsanfänger mit Ende 20 und merken, wie psychisch belastend diese Arbeit ist. Sie wechseln dann in einen Schulhort.“ Da jahrelang nicht eingestellt worden sei, würden Kollegen fehlen, die zwar schon Routine hätten, aber noch nicht kurz vor der Pensionierung stünden.«
Und die betroffenen Sozialarbeiter werden dann auch noch mit den Folgen von „Reformen“ konfrontiert, die man wie so oft zwar umgesetzt hat, die damit verbundenen Konsequenzen aber den Leuten vor die Füße kippt. Aus den Reihe der Gewerkschaft GEW wird ein Beispiel genannt:
Man »sei „maßlos enttäuscht“ darüber, wie „zäh“ die Verwaltung auf Probleme mit „Systemsprengern“ reagiere. Unter „Systemsprengern“ versteht man Schüler, der einen geregelten Unterricht unmöglich machen. Früher landeten sie in Sonderschulen für Verhaltensauffällige, die aber abgeschafft wurden. Jetzt sollen temporäre Kleingruppen weiterhelfen, die es aber nicht überall gibt. Ein weiteres Problem, bei dem auch die Jugendämter gefordert wären, ist die große Zahl von Dauerschwänzern, die wegen Personalmangels nicht ausreichend betreut und „eingefangen“ werden können.«
Wir reden hier nicht über die Produktion von Abfalleimern oder den Betrieb einer Mastanlage für superbilliges Hähnchenfleisch. Sondern von Kindern und Jugendlichen. Von Menschen.