Aus sozialpolitischer Sicht sind die Beamten ein echter „Fremdkörper“. Sie sind nicht in die normale Sozialversicherung integriert, zahlen keine Beiträge in die Arbeitslosenversicherung, haben ihr eigenes Alterssicherungssystem, aus dem sie keine Rente bekommen, sondern nach dem Alimentationsprinzip eine dem Amt, das sie vorher mehr oder wenig ausgefüllt haben, angemessene Pension. Und auch die Absicherung im Krankheitsfall weicht ab von dem der normalen Arbeitnehmer. Denn sie bekommen zum einen von ihrem „Dienstherrn“ Beihilfeleistungen, mit den anteilig die tatsächlich angefallenen Kosten erstattet werden (im Regelfall übernimmt die Beihilfe 50 Prozent, bei Pensionären sogar 70 Prozent der Krankheitskosten). Und den Rest sichern sie über eine private Krankenversicherung ab, womit sie auch in den Genuss der meisten Besonderheiten des Privatversicherungssystems kommen.
Nun gibt es immer wieder die Forderung, dass doch neben den Selbständigen auch die Beamten einbezogen werden sollten in das „normale“ Sicherungssystem. Die Debatte kreist dann zum einen um die Alterssicherung, also im Sinne einer Einbeziehung in das Regelwerk der Gesetzlichen Rentenversicherung. Zum anderen haben wir ebenfalls seit längerem unter dem Terminus „Bürgerversicherung“ eine Debatte, bei der es um die Erweiterung des Versicherten- und Beitragszahlerkreises in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geht (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Der Weg würde ein steiniger sein: Vom dualen Krankenversicherungssystem zur „Bürgerversicherung“ (light) vom 22.11.2016).
Erst im Dezember 2016 wurde – sicher nicht ohne Grund in zeitlicher Nähe zum nun anlaufenden Bundestagswahlkampf – von der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Positionspapier veröffentlicht, das auf der Arbeit einer Expertengruppe basiert: Der Weg zur Bürgerversicherung. Solidarität stärken und Parität durchsetzen. Dort findet man auf der Seite 11 auch Ausführungen die Beamten betreffend: Wahlfreiheit (auch für Beamten_innen), so heißt es in der merkwürdigen, für Leser nervigen Schreibweise, die von der Stiftung mittlerweile in ihren Publikationen betrieben wird. Die Argumentation der Expertengruppe geht so:
Es gibt derzeit rund 1,7 Millionen Beamte bei Bund, Ländern und Kommunen. Die versicherungs- und beitragsrechtliche Situation von Beamten, die sich freiwillig gesetzlich versichern wollen oder versichert sind, ist rechtlich unbefriedigend geregelt. Faktisch existiert für sie keine echte Wahlfreiheit bei der Entscheidung über ihren Krankenversicherungsschutz. Beamte in der GKV müssen – anders als andere freiwillig in der GKV versicherte Arbeitnehmer – den gesamten Krankenversicherungsbeitrag selbst zahlen. Die Beitragsbelastung für gesetzlich versicherte Beihilfeberechtigte, die über ihre Krankenkassen primär Sachleistungen in Anspruch nehmen, ist damit unangemessen hoch. Es gibt keinen stichhaltigen Grund, weshalb diesem Personenkreis ein Beitragszuschuss des Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin – wie er parallel den freiwillig versicherten höher verdienenden Arbeitnehmern nach § 257 SGB V zusteht – verweigert wird … Notwendig ist daher eine Gesetzesänderung, die den gesetzlich versicherten Beamten bei Wegfall der bestehenden Beihilfeansprüche im Krankheitsfall alternativ einen Anspruch auf einen Arbeitgeberzuschuss einräumt.
Das war es dann auch schon.
Und nun meldet sich die Bertelsmann-Stiftung zu Wort: Gesetzliche Krankenversicherung für Beamte würde Bund und Länder um 60 Milliarden Euro entlasten, so ist deren Pressemitteilung überschrieben. Die Stiftung stellt die (angeblichen) Einsparungen für den Staat in den Vordergrund der Argumentation: »… die Beihilfe kostet den Staat jährlich Milliarden. Angesichts unserer älter werdenden Gesellschaft mit steigender Tendenz. Durch ein anderes Krankenversicherungssystem könnte eine Menge dieses Geldes eingespart werden – zum Wohle der Steuerzahler und Versicherten.«
Die Stiftung stützt sich dabei auf diese Studie, die in ihrem Auftrag vom IGES-Institut erstellt wurde:
➔ Richard Ochmann, Martin Albrecht und Guido Schiffhorst (2017): Krankenversicherungspflicht für Beamte und Selbstständige. Teilbericht Beamte, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, Januar 2017
»Würde die Beihilfe für Beamte abgeschafft und für sie auch die gesetzliche Krankenversicherungspflicht eingeführt, … könnten Bund und Länder bereits im ersten Jahr etwa 1,6 beziehungsweise 1,7 Milliarden Euro einsparen. Bis 2030 würden die öffentlichen Haushalte um insgesamt rund 60 Milliarden Euro entlastet«, behauptet die Stiftung. Wie kommt man auf solche Beträge? Zum einen plädiert die Stiftung für einen radikalen Systemwechsel, denn die Abschaffung der Beihilfe »beträfe … rund 67 Prozent der bislang privat versicherten Staatsbediensteten in Arbeit und Ruhestand. Weitere 21 Prozent würden aus finanziellen Gründen freiwillig in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wechseln. Lediglich 12 Prozent der bisher privat versicherten Beamten blieben das aus finanziellen Gründen auch weiterhin. So wären dann insgesamt neun von zehn Beamten gesetzlich krankenversichert.«
Und diese gewaltige Entlastung des Staates muss man vor dem Hintergrund der Ausgaben für die Beihilfe sehen, die von Thomas Öchsner in seinem Artikel Wie der Staat 60 Milliarden Euro sparen könnte unter Bezugnahme auf die IGES-Studie so zusammenfasst:
»Die Berliner Forscher unterstellen bei ihrer Berechnung, dass die Ausgaben für Beihilfe in den nächsten Jahren deutlich anziehen. Bereits 2014 gab der Bund dafür 4,5 Milliarden Euro aus, die Länder mussten dafür sogar 7,4 Milliarden Euro springen lassen. Der Studie zufolge erhöhen sich diese Ausgaben für den Bund bis 2030 um 46 Prozent auf jährlich 6,6 Milliarden Euro. Für die Länder klettern die Kosten für die Beihilfe demnach sogar um mehr als 80 Prozent auf 13,6 Milliarden Euro pro Jahr.«
Für den Staat würde sich ein solcher Systemwechsel rechnen: »Für seine gesetzlich krankenversicherten Beamten müsste der Staat zwar den üblichen Arbeitgeberbeitrag zahlen. Das wäre aber für den Bund und die meisten Länder weniger als was sie derzeit für die Beihilfe ausgeben. Und: Je mehr pensionierte Beamte in der GKV, desto größer die Einsparungen, denn in dieser Altersgruppe fallen die meisten Krankheitskosten an«, so formuliert das Stefan Etgeton von der Bertelsmann-Stiftung.
Aber wenn neun von zehn Beamte in das GKV-System einbezogen werden, dann müssen dort ja auch die Ausgaben gedeckt werden. Dazu kann man der Studie laut Öchsner entnehmen:
»Nach den Berechnungen der Forscher erhöhen sich mit der zusätzlichen Versorgung der Beamten und Pensionäre die Ausgaben um knapp zwölf Milliarden Euro jährlich. Auf der anderen Seite würden aber die Krankenkassen durch die Beiträge der neuen Mitglieder gut 15 Milliarden Euro mehr einnehmen. Der Beitrag von derzeit 14,6 Prozent (ohne Zusatzbeitrag) ließe sich dann um mindestens drei Zehntel verringern.«
Kurzum – das sieht nach der ersten Inaugenscheinnahme doch nach einem guten Geschäft aus. Allerdings – darauf weist Thomas Öchsner zu Recht hin – stellen sich bei einem Systemwechsel immer auch Systemfragen. Drei davon werden von ihm angeführt:
1.) Geht so ein Systemwechsel rechtlich gesehen überhaupt? Öchsner zitiert Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg, nach dessen Auffassung die Beihilfe nicht zu den durch die Verfassung geschützten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehört und damit abgeschafft werden können
2.) Was passiert mit den Altersrückstellungen der Beamten in der PKV? In der Studie werden diese auf immerhin 72 Milliarden Euro geschätzt. Der IGES-Studie kann man dazu entnehmen: „Sollen die Mittel weiter ihre Funktion erfüllen, Beitragsbelastungen für diese Versicherten im Alter zu mindern, wären sie an die gesetzliche Krankenversicherung zu übertragen, wobei dies sukzessive im Zeitverlauf geschehen könnte.“
3.) Welche Folgen hat dies für die Honorare im Gesundheitssystem? Die Antwort allerdings wird einigen Akteuren nicht gefallen, denn die Autoren der Studie räumen an dieser Stelle ein, dass die Umstellung „zu merklichen Umsatzausfällen“ bei niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und den dort arbeitenden Chefärzten führen würde. Welcher Sprengsatz hier liegt, kann man sich an dieser einen Zahl verdeutlichen: Es geht um Mehreinnahmen bei den Anbietern von jährlich gut sechs Milliarden Euro.
Zum letzten Punkt muss man anmerken, dass offensichtlich das Rechenmodell der Studie hinsichtlich eines Teils der so prominent herausgestellten Einsparvolumina davon ausgeht bzw. ausgehen muss, dass die bislang höheren Zahlungen für die Beamten komplett abgeschnitten werden, es also beispielsweise keine Kompensation für die Leistungsanbieter gegen wird, in dem für gesetzlich Versicherte höhere Preise gezahlt werden, was aber die Bilanz für die gesetzlichen Krankenkassen verschlechtern würde. Allerdings spricht aus Sicht der politischen Rationalität nichts dafür, dass man dem System einfach mal so sechs Milliarden Euro entziehen kann.
Es hat wahrlich nicht lange gedauert, bis sich der Deutsche Beamtenbund (dbb) zu Wort gemeldet hat: dbb kritisiert Bertelsmann-Studie zur Beihilfe. Der dbb Bundesvorsitzende Klaus Dauderstädt wird mit diesen Worten zitiert (und damit eine andere Auffassung vertretend als Thorsten Kingreen: „Die Beihilfe gehört neben Besoldung und Versorgung zum Gesamtpaket der Alimentation von Beamten durch ihren Dienstherrn. Nur dadurch wird die Wettbewerbsfähigkeit mit der Wirtschaft bei der Nachwuchsgewinnung sichergestellt.“ Es folgen noch einige kritische Anmerkungen zur Methodik der Studie, aber offensichtlich müssen sich die Beamtenfunktionäre erst einmal sammeln und organisieren.
Wir werden in den kommenden Tagen sehen, unter welchen Beschuss die Vorschläge kommen werden.