Das Jahr 2016 geht zu Ende und erneut werden wir Zeuge einer eigenartigen, mehr als diskussionswürdigen Entwicklung in der Medienlandschaft: Da berichtet jemand über die Ergebnisse einer „Studie“ von Wissenschaftlern und wenn man das gut platzieren kann, dann schreiben alle anderen ab und verbieten die Botschaft in der heute üblichen Schnelligkeit. Und wenn man sich das dann genauer anschaut, wird man konfrontiert mit der Ausgangsquelle, die aus einer „noch nicht veröffentlichten Studie“, so dass man das glauben muss, was da berichtet wird und – für Wissenschaftler ein echtes Problem – auch nicht überprüfen kann anhand der Originalquelle, wer da wie vorgegangen ist und ob man den Ergebnissen vertrauen kann/soll.
Nehmen wir als Beispiel diesen Artikel, dessen Inhalt sich sehr schnell im Netz verbreitet hat, nachdem er am 30.12.2016 am frühen Morgen publiziert wurde: Bundesweit fehlen 228.000 Kita-Plätze für Kleinkinder, so die Online-Ausgabe der Rheinischen Post. Bereits die Überschrift lässt keinen Zweifel zu, sondern berichtet offensichtlich über einen nicht in Frage zu stellenden Tatbestand. Lesen wir weiter: »Nach einer noch unveröffentlichten Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fehlen aktuell bundesweit Betreuungsplätze für 228.000 Kinder unter drei Jahren. Das sind gut zehn Prozent der Kinder, für die Bedarf besteht.« Da haben wir sie, die „noch unveröffentlichte Studie“.
Der „Erfolg“ im Sinne einer ungefilterten Verbreitung ist beeindruckend – nicht nur die Daten, auch die Interpretationen werden übernommen: »Trotz Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz gehen 228 000 Kinder leer aus. In manchen Orten ist der Grund schlichtweg das fehlende Engagement der Kommunen«, so die Süddeutsche Zeitung in ihrem Artikel Jedes zehnte Kind unter drei ohne Kitaplatz. Die FAZ ebenfalls: Deutschland fehlen 228.000 Betreuungsplätze für Kleinkinder. Und auch Zeit Online schließt sich an: Deutschland fehlen 228.000 Betreuungsplätze. Die Liste ließe sich erheblich verlängern. Eine wie gesagt beeindruckende Medienresonanz auf eine „noch unveröffentlichte Studie“, die der Wissenschaftler angesichts der enormen Zahl, die hier in den Raum gestellt wird, unbedingt im Original einsehen möchte.
Nachdem die Botschaft durchs Netz gegangen ist, konnte man dann auf der Seite des Instituts der deutschen Wirtschaft (scheinbar) fündig werden: Bund muss Kita-Lücken schließen, so ist die Mitteilung des IW überschrieben, dort findet man dann auch die am Anfang dieses Beitrags dokumentierte Abbildung mit den Zahlen für die einzelnen Bundesländer.
»In Deutschland gibt es derzeit fast 230.000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige weniger, als den Wünschen der Eltern zufolge benötigt würden – damit sind gut 10 Prozent der Kinder in dieser Altersgruppe unversorgt.«
Natürlich stellt sich sofort die Frage, wie man denn zu einer derart genauen Quantifizierung fehlender Plätze kommt? Wenn man in der IW-Meldung weiterliest, stößt man auf diese Antwort:
»Die Ursachen für die fehlenden Plätze liegen zum einen darin, dass das bereits für 2013 vereinbarte Ziel, 750.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren zu schaffen, noch immer nicht erreicht ist – obwohl es schon 2007 auf dem sogenannten Krippengipfel beschlossen wurde. Im März 2016 standen aber lediglich 720.000 staatliche oder staatlich geförderte Plätze zur Verfügung.
Zum anderen ist aber auch der Bedarf in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen:
War der Krippengipfel 2007 noch davon ausgegangen, dass sich 35 Prozent der Eltern bereits vor dem dritten Geburtstag ihres Kindes eine institutionelle Betreuung wünschen, sind es nach neuesten Zahlen des Familienministeriums mehr als 43 Prozent.«
Ergänzend wird nun noch darauf hingewiesen, dass „wieder mehr Kinder geboren“ werden und außerdem sind da ja auch noch die Flüchtlinge, unter denen sich auch kleine Kinder befinden, so dass »Ende Dezember 2015 … in Deutschland 120.000 Jungen und Mädchen unter fünf Jahren (lebten), die erst im Laufe des Jahres« nach Deutschland gekommen seien.
Also hat man das alles berücksichtigt? Das nun kann man mit dem vorliegenden Material nicht beantworten, denn eine richtige Studie ist derzeit nicht zu finden, lediglich die Pressemitteilung des Instituts mit der Abbildung. Und dort kann man der Fußnote entnehmen:
Betreuungsbedarf: Stand 2015. Ursprungsdaten: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Das war es dann. Eine richtige Quellenangabe fehlt, mehr Informationen bekommen wir nicht. Das ist mehr als unbefriedigend. Hat man etwa auf Umfragedaten zu den Betreuungsbedarfen zurückgegriffen, die vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) in der Vergangenheit veröffentlicht worden sind – wohlgemerkt, Befragungsergebnisse auf Stichprobenbasis? Sollte das sein – was vermutlich so ist, dem Material aber wie gesagt nicht belegbar entnommen werden kann -, dann wäre zu berücksichtigen, dass es sich um Umfrageergebnisse handelt, die gerade in dem hier relevanten Feld der Bedarfe an Kindertagesbetreuung mit Vorsicht zu genießen sind, denn erfahrungsgemäß unterscheiden sich schon die Werte, wenn nicht nur ein allgemeiner Bedarf abgefragt wird, sondern die Befragten auch mit dem Preis konfrontiert werden, der in vielen Bundesländern aus teilweise ganz erheblichen Elternbeiträgen besteht.
Der Verdacht kommt auf, dass die – nun ja – „Studie“ daraus besteht, dass man einfach die Zahl der in jedem März eines Jahres erhobenen (tatsächlich besetzten) Kita-Plätze für die unter dreijährigen Kinder genommen hat (die aktuellsten und regional differenziertesten Werte für 2016 findet man in dieser Veröffentlichung: Statistisches Bundesamt: Kindertagesbetreuung regional 2016. Ein Vergleich aller 402 Kreise in Deutschland, Wiesbaden, Dezember 2016) und die Differenz zwischen den dort für die einzelnen Bundesländern ausgewiesenen Werten und den (angeblichen) Bedarfen – also dem im IW-Text genannten 43 Prozent-Wert – berechnet und als „fehlende“ Plätze ausgewiesen hat. Eine recht simple Rechenoperation. Aber andere, vor allem weiterreichende methodische Hinweise kann man den dürren Erläuterungen des IW nicht entnehmen.
Das wäre natürlich ein mehr als fragwürdiges Unterfangen, wenn man um die Komplexität des Themas Kindertagesbetreuung weiß.
Ein Grundproblem ist natürlich, dass wir es mit einem „beweglichen Ziel“ zu tun haben. Das IW verweist ja selbst auf den Tatbestand, dass man bei der früher ausgewiesenen „bedarfsdeckenden“ Quote an Kinderbetreuungsplätzen immer von den 35 Prozent ausgegangen ist (der Wert wurde später auf 39 Prozent angehoben), was sich mittlerweile als zu niedrig herausgestellt hat, um den wirklichen Bedarf der Eltern abzubilden. Aber darauf haben viele schon in der Vergangenheit hingewiesen, beispielsweise das Statistische Bundesamt selbst in der Veröffentlichung der regional differenzierten Werte des Jahres 2014. Dort haben sie angemerkt:
»Auf dem Krippengipfel von Bund, Ländern und Kommunen im Jahr 2007 wurde vereinbart, bis zum Jahr 2013 bundesweit für 35 % der Kinder unter 3 Jahren ein Angebot zur Kindertagesbetreuung in einer Kindertageseinrichtung oder durch eine Tagesmutter beziehungsweise einen Tagesvater zu schaffen. Die damalige Planungsgröße wurde auf 750.000 Plätze beziffert. Mittlerweile wird der Bedarf sogar auf rund 780.000 Plätze für unter 3-Jährige geschätzt, was einer Betreuungsquote von gut 39 % entspricht. Da der Bedarf regional unterschiedlich hoch sein wird, kann es auf regionaler Ebene zu deutlichen Abweichungen nach oben oder auch nach unten kommen.« (S. 5)
Am 20. Februar 2015 wurde in diesem Blog in dem Beitrag Noch nie so viele. Kinder unter 3 Jahren in Kitas und Tagespflege. Und viele Fragen jenseits der nackten Zahlen ergänzend darauf hingewiesen: »Und die Insider wissen, dass auch diese Quote von 39 % von vielen Fachleuten als zu niedrig angesetzt eingeschätzt wird, der tatsächliche Bedarf also eigentlich einen noch höheren Wert zur Folge haben müsste.«
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es geht nicht darum, die Zahl von 228.000 (angeblich) fehlenden Kita-Plätzen nach unten zu rechnen, es gibt durchaus Hinweise (und die schon seit langem), dass die Zahl noch weitaus größer sein könnte. Aber wir können das derzeit nicht quantifizieren und die Veröffentlichung der „Studie“ des IW, die ja auch – weil sie mit der einen Zahl bzw. – wie praktisch für regionale Berichterstattung – mit der einen Zahl für jedes Bundesland operiert – von den Medien so gerne aufgegriffen wurde, suggeriert ein Wissen, das derzeit schlichtweg nicht existiert.
Nehmen wir für die zahlreichen methodischen Probleme nur als ein Beispiel die vom IW selbst erwähnten Flüchtlingskinder. Die sind zusätzlich dazu gekommen – aber um die Auswirkungen auf den Platzbedarf in der Kindertagesbetreuung korrekt quantifizieren zu können, müsste man berücksichtigen, dass die ja nicht gleichverteilt sind über alle Regionen in Deutschland, sondern ganz im Gegenteil oftmals eine ganz erhebliche regionale bzw. lokale Konzentration zu beobachten ist, die dazu führt, dass es dort vor Ort große zusätzliche Bedarfe gibt und an anderen Orten nichts davon zu spüren ist.
Man kann und muss deutlich beklagen, dass sowohl die Bundes- wie auch die Bundesländerebene in den vergangenen Jahren beim Aufbau einer elaborierten Bedarfsforschung versagt haben – und das gilt nicht nur für die eben nicht triviale Frage nach dem Platzbedarf, sondern beispielsweise auch für die Frage, wie viel Personal brauchen wir denn in der Kindertagesbetreuung (und auch diese Abschätzung ist nicht trivial, denn man müsste dabei auch berücksichtigen, unter welchen Personalschlüsseln sollen die Fachkräfte arbeiten).
Aber so ist es derzeit leider. Und mit einer Zahl an „fehlenden Kita-Plätzen“ zu operieren mag zwar medientauglich sein, ist aber schlichtweg nicht wirklich seriös und führt gleichzeitig – ob bewusst oder unbewusst – auf ein gefährliches Gleis: Wieder einmal nur über Quantitäten zu diskutieren und dabei erneut die Frage nach den Qualitäten auszublenden bzw. zu verdrängen. Das aber wäre ein neues Fass, das im kommenden Jahr aufgemacht werden muss.