Mittlerweile ist ein zweiter Entwurf des 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung an die Öffentlichkeit gedrungen. Bereits im Oktober gab es einen ersten Entwurf, der nunmehr an einigen Stellen überarbeitet worden ist. Während der erste Entwurf vom Bundesarbeitsministerium erstellt worden ist, haben bei der zweiten, jetzt vorliegenden Version das Kanzleramt und andere Ministerien mitschreiben können.
Zuerst eine Vorbemerkung: Als der Entwurf des 4. Armut- und Reichtumsberichts am 17.09.2012 veröffentlicht wurde, hatte man es mit 487 Seiten zu tun. Der nun vorliegende Entwurf des 5. Berichts kommt schon auf 649 Seiten. Wir werden nicht nur Zeuge einer gewaltigen text- und zahlenlastigen Aufblähung, sondern erleben zugleich ein bekanntes Vorgehen, wenn man sich entweder nicht entscheiden kann oder aber – was hier als These in den Raum gestellt wird – wenn man Verwirrung stiften will in dem Sinne, dass man sich verliert in einer Vielzahl an Einzelaspekten, die dann auch noch eine Gewichtung neben- bzw. nacheinander abgearbeitet oder auch nur angerissen werden. Und auch das erleben wir – wenn man denn das Problem der „großen Zahlen“ hat, beispielsweise bei der Zahl der armen bzw. von Armut bedrohten Kinder, dann geht man hin und rechnet die Zahlen nach unten. Dazu mein Beitrag Armutsbericht: Welche Kinderarmut soll es denn sein? Die Zahlen werden eingedampft, bis die Kinderarmut in homöopathischen Welten verschwindet vom 13. Dezember 2016, wo demonstriert wird, wie man es schafft, eine Armutsrisikoquote von erschreckenden 19,7 Prozent unter den Kindern auf knapp 5 Prozent runterzurechnen.
Und dann sollte man – wenn man so ein Werk auf der Regierungsseite schon erstellen muss – nicht vergessen, den Entwurf des Berichts immer wieder „textkritisch“ zu lesen und „problematische“ Passagen umzuschreiben oder – wenn es denn sein muss – sie lieber zu streichen, als später mit ihnen konfrontiert zu werden.
Nur „leider“ aus Sicht der Streichenden (bzw. dankenswerterweise aus Sicht der anderen) geht so ein Streichkonzert heute nicht mehr geräuschlos über die Bühne, sondern dem einen oder anderen fällt auf, was da gemacht wurde. Und das kann dann zu solchen Schlagzeilen führen: Regierung strich heikle Passagen aus Armutsbericht.
Thomas Öchsner berichtet darin: »Ministerin Nahles hatte den Einfluss von Reichen auf die Politik untersuchen lassen. Manche Ergebnisse fehlen in der zweiten Fassung – an ihr hat auch das Kanzleramt mitgeschrieben.« Klare Aussagen, ob Menschen mit mehr Geld einen stärkeren Einfluss auf politische Entscheidungen haben als Einkommensschwache, sind in der überarbeiteten Fassung des Berichts gestrichen. So fehlt zum Beispiel jetzt der Satz: „Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird.“ Zum Hintergrund schreibt Öchsner:
»Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte im März 2015 angekündigt, in dem Bericht erstmals den Einfluss von Eliten und Vermögenden auf politische Entscheidungen untersuchen zu lassen. Ihr Ministerium gab daher eine Studie bei dem Osnabrücker Politikwissenschaftler Armin Schäfer in Auftrag. Dessen Erkenntnisse flossen in den Bericht, den das Arbeitsministerium im Oktober vorlegte. So wurde in dieser ersten Fassung noch von einer „Krise der Repräsentation“ gewarnt: „Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“ Diese Aussagen fehlen nun. Ebenso gestrichen wurde dieser Satz aus der Studie der Forscher: In Deutschland beteiligten sich Bürger „mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen“.«
Bei der im Artikel angesprochenen Studie handelt es sich um diese Arbeit:
Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer (2016): Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015. Endbericht, Osnabrück, 02.06.2016
Die Forscher kommen in ihrer Zusammenfassung der Befunde zu dem recht eindeutigen Ergebnis, dass sie erstmals für Deutschland nachweisen konnten, »dass politische Entscheidungen mit höherer Wahrscheinlichkeit mit den Einstellungen höherer Einkommensgruppen übereinstimmen, wohingegen für einkommensarme Gruppen entweder keine systematische Übereinstimmung festzustellen ist oder sogar ein negativer Zusammenhang. Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren von 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden. In Deutschland beteiligen sich Bürger_innen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen. Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden – die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert. Das für die USA nachgewiesene Muster von systematisch verzerrten Entscheidungen trifft auch auf Deutschland zu.« (Elsässer/Hense/Schäfer 2016: 42).
Alles keine wirklich neuen Erkenntnisse. Die Befunde werden seit langem publiziert und diskutiert (und das macht die Versuche einer Textbereinigung beim neuen Entwurf auch irgendwie lächerlich). Man schaue sich beispielsweise die Ergebnisse einer vertiefenden Analyse des Wahlverhaltens bei der Bundestagswahl 2013 an, publiziert in Armin Schäfer, Robert Vehrkamp, Jérémie Felix Gange (2013): Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Gütersloh 2013, aus der auch die Abbildung entnommen wurde.
Ebenfalls herausgenommen aus dem neuen Entwurf sind die Hinweise auf den „Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit“.
Auf die Streichungen wurde auch schon in der Hintergrund-Sendung Armut in Deutschland: Die Bedürftigen ohne Lobby des Deutschlandfunks vom 13.12.2016 aufmerksam gemacht. Dort findet man auch diese Wahrnehmungsbeschreibung durch Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband: »… der Armutsbericht der Bundesregierung erschlägt einen erst mal. Man kriegt Hunderte von Seiten. Und man hat den Eindruck, da hat man wirklich mal alles aufgeschrieben, was einem so zur Armut einfallen kann. Dadurch hat der Bericht überhaupt keine Aussage mehr. So wie dort mit Armut umgegangen wird, kann man auch versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln, man kriegt’s nicht auf den Punkt gebracht.“«
Und damit der Pudding noch glitschiger wird, erleben wir jetzt (erneut) das aus Sicht der Regierenden so bewährte Muster der Textbereinigung. Damit steht man durchaus in einer Art Traditionslinie.
Auch beim Bericht aus dem Jahr 2013 hatte es Ärger gegeben. Damals setzte die FDP durch, dass Aussagen über die ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland verschwanden.
Aber die zunehmende Ungleichheit lässt sich vielleicht aus Berichten verbannen, wenn sie aber Realität ist, dann bricht sie an anderer Stelle durch und manifestiert sich in einem breiten Spektrum bis hin zur Protestwahl, wenn die Betroffenen merken, dass die Stimmabgabe für eine bestimmte Partei sehr wohl eine große Unruhe und Unsicherheit entfalten kann, egal, was die Partei denjenigen aus den Kelleretagen unserer Gesellschaft wirklich zu bieten hat.