Derzeit wird mal wieder kräftig die Renteneintrittsaltersverlängerungssau durchs mediale Dorf getrieben. Die Bundesbank wird zitiert mit der Aussage, eigentlich müsste man die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalter schrittweise über die bereits gültigen 67 auf 69 Jahre vorantreiben und das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft sieht gar den Bedarf, die Altersgrenze auf 73 anzuheben. In einigen Medien gibt es dann die passende Begleitmusik. Nur ein Beispiel dazu von Dyrk Scherff: Rente mit 73, so lapidar ist sein Artikel überschrieben. Darin findet man diese sprachlos machende Feststellung ex cathedra:
»Zunächst einmal ist es nicht verwerflich, längeres Arbeiten vorzuschlagen. Denn noch nie hat eine Rentnergeneration so ausgiebig ihren Ruhestand genießen dürfen wie die heutige: 20 Jahre lang, doppelt so lang wie 1960. Hinzu kommt, dass von diesen 20 Jahren ein größerer Teil als früher in guter Gesundheit verbracht wird. Die Rentner bekommen also viel gesunde Zeit geschenkt. Davon einige wenige Jahre durch einen späteren Ruhestand wieder abzugeben wäre nicht so unzumutbar, wie manche Kritiker behaupten. Es könnte die Älteren sogar glücklicher machen, etwas länger zu arbeiten. Denn sie haben ein zu optimistisches Bild vom Ruhestand, können es vorher kaum erwarten, in Rente zu gehen. Nachher sind sie oft ernüchtert.«
Wir haben also eigentlich glücklich zu sein über die Perspektive, bis 73 (oder womöglich bis zum Tod) arbeiten zu dürfen/können/müssen? Und natürlich darf dann die Individualisierung der gesundheitlichen Situation nicht fehlen: »Auch Menschen mit körperlich anstrengenden Berufen müssen im höheren Alter nicht arbeitslos werden. „Es wird sehr unterschätzt, was man alles für seine Gesundheit tun kann durch einen gesunden Lebensstil, Sportprogramme und Vorsorgeuntersuchungen“, sagt Gerontologe Andreas Kruse. Technische Hilfsmittel, etwa der Hebekran in den Pflegeheimen, könnten die Belastungen für die älteren Mitarbeiter reduzieren.« Und wie theoretisierend man durch die heutige Arbeitswelt laufen kann, verdeutlicht der folgende Passus aus dem Artikel von Scherff: »Selbst für die, die es körperlich nicht mehr schaffen, gibt es Verwendung. Der Handwerker kann im Büro arbeiten oder die Lehrlinge schulen, Pflegekräfte können die Leitung übernehmen oder in der Verwaltung helfen. Oder ganz die Tätigkeit wechseln, etwa in die Kinderbetreuung als Leihoma.«
Was hinter den immer wieder vorgetragenen Forderungen nach einer Anhebung der Altersgrenzen steckt, wurde bereits am 28. Juli 2016 in diesem Blog-Beitrag thematisiert: Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Aber es soll in diesem Beitrag gar nicht um eine sicher notwendige Kritik dieser putzig daherkommenden Argumentation gehen, sondern um die andere Seite der Medaille. Also auf der einen Seite wird die Unausweichlichkeit des immer längeren Arbeiten-Müssens beschworen, auf der anderen Seite schiebt man andere möglichst früh in den Rentenbezug, auch wenn das für die Betroffenen lebenslange und enorme Abschläge von der bereits sehr überschaubaren Rente bedeutet.
»Die Bundesagentur für Arbeit schickt immer mehr Langzeitarbeitslose vorzeitig in Rente. Das legt die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken nahe … Während im Jahr 2008 rund 10.000 63-Jährige aus dem Hartz-IV-Bezug ausschieden, waren es 2015 knapp 39.000 Menschen in diesem Alter. Im selben Jahr wurden aber nur 1.745 Hartz-IV-Empfänger mit 63 in Arbeit vermittelt«, berichtet Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Jobcenter zwingen Hartz-IV-Empfänger in die Rente.
Auch wenn sich einige ältere Arbeitslose selbst dazu entscheiden, früher in Rente zu gehen und dafür Abschläge in Kauf zu nehmen, sei die Praxis der „Zwangsverrentung“ durch Jobcenter gerade im vergangen Jahr gestiegen, wird der Berliner Arbeitslosenberater Markus Wahle in dem Artikel zitiert. Man muss bedenken: Mit jedem Monat Abstand zum normalen Rentenalter reduziert sich ihre spätere Alterssicherung um 0,3 Prozent.
Das Thema Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern wurde hier bereits in dem Beitrag Mehr Zwangsverrentungen von Hartz IV-Empfängern. Oder doch nicht? Ein Paradebeispiel für systemkonforme und zugleich verirrte Sozialpolitik am 18. Mai 2016 behandelt.
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern sowie der aktuellen gesetzgeberischen Aktivitäten in diesem Bereich kann man dieser Abhandlung entnehmen:
➔ Sell, Stefan: „Rente mit 63“ – die einen wollen, die anderen müssen, aber auch nicht alle.Die „halbierte“ Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern als Beispiel für eine verirrte Sozialpolitik. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 20-2016, Remagen 2016
Die Bundesregierung hat auf die massive Kritik zwischenzeitlich teilweise reagiert:
»Im Vorschlag einer Koalitionsarbeitsgruppe für „flexible Übergänge vom Erwerbsleben in den Ruhestand“ steht deshalb, dass Jobcenter künftig keine Rentenanträge mehr stellen dürfen, wenn die Abschläge beim Rentner später eine Bedürftigkeit verursachen. Einen weiteren Reformvorschlag, nach dem Jobcenter die Arbeitslosen mit Geldkürzungen drängen könnten, an ihrer eigenen Verrentung mitzuwirken, nahm die Koalition wieder zurück.«
Das hört sich eigentlich doch nach einem Erfolg der Kritiker an, allerdings muss vor allem hinsichtlich der Einschränkung hinsichtlich einer möglichen Bedürftigkeit durch den vorzeitigen Altersrentenbezug neue Problemfelder aufgemacht werden:
»Zwar wären durch eine solche Änderung viele ältere Arbeitslose vor zwangsweisen Abschlägen in der Rente geschützt. Doch der rentenpolitische Sprecher der LinksFraktion, Matthias W. Birkwald, sagt, dass auch nach der Reform vor allem Menschen in Ostdeutschland von einer Zwangsverrentung betroffen wären. Hier lägen die Bruttorenten häufiger als im Westen bei rund 1000 Euro und darüber. Damit fielen sie nicht unter die neue Ausnahmeregelung und müssten sich die Rente durch das Jobcenter gefallen lassen.«
Und müssen dann entsprechend lebenslange Abschläge von ihrer Rente akzeptieren.
Die rentenrechtlichen Folgen sind das eine, die Auswirkungen auf die Arbeit der Jobcenter sind das andere Problem. Dazu wird der Abgeordnete Birkwald zitiert: »Man erlaube den Jobcentern, „sich ihrer gesetzlichen Pflicht zur besonderen Förderung und Eingliederung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu entziehen“.«