Wenn Artikel so anfangen, dann deutet alles auf einen ganz großen Skandal hin: »Sie kommen meist aus Russland, sie sind professionell – und raffiniert. Über Kirchengemeinden suchen sie Kontakt zu Angehörigen von Pflegebedürftigen – und beginnen ihr düsteres, lukratives Business.« Das behaupten zumindest Dirk Banse und Anette Dowideit in ihrem Artikel So funktioniert der Milliarden-Betrug der Pflege-Mafia. Und das schlägt verständlicherweise derzeit hohe Wellen. »Ambulante Pflege ist ein lukrativer Markt, auf dem sich viele dubiose Anbieter tummeln. Seit Jahren gibt es Berichte über osteuropäische Firmen, die Kranken- und Pflegekassen abzocken, indem sie Senioren als Pflegefälle ausgeben, die in Wahrheit noch rüstig sind.« Und die beiden Autoren versuchen das an einem Fallbeispiel zu illustrieren:
»Die LKA-Ermittler waren beeindruckt, als sie die Büros des „Airomed“-Pflegedienstes im niedersächsischen Hildesheim durchsuchten. Im Tresor lagen mehr als 200.000 Euro in Scheinen – deren Herkunft die Besitzer nicht einleuchtend erklären konnten. Später wurde klar, woher das Geld vermutlich stammte: Die Firma hatte bundesweit Pflege für schwerstkranke Beatmungspatienten organisiert und den gesetzlichen Kassen vorgegaukelt, dass ausgebildete Fachkräfte diese Arbeit verrichten würden. Tatsächlich setzte sie Hilfskräfte ein, die weit günstiger waren. „Airomed“ soll die Kassen so um mindestens 443.000 Euro betrogen haben. Im April 2015 hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben.«
Ein bedauerlicher Einzelfall? Nach Ansicht der Autoren keineswegs. Diese Form des Kassenbetrugs habe eine neue Dimension erreicht. »Betrügerische Pflegedienste geben sich oft nicht mehr mit leichten Fällen ab. Stattdessen betrügen sie die Sozialsysteme mit Schwerstkranken, die rund um die Uhr Betreuung brauchen und aus Sicht der Kriminellen deutlich lukrativer sind. Mit ihnen lassen sich pro Monat bis zu 15.000 Euro illegal abzweigen.« Und sie behaupten, dass diese Formen des Betrugs eben nicht mehr auf das Konto einzelner Pflegedienste gehen würden, sondern dass sich die »Spuren sich bis nach Russland zurückverfolgen lassen.«
Auch Jörg Diehl berichtet in seinem Artikel Organisierte Kriminalität: So funktioniert der Milliardenbetrug mit Pflegediensten über einen Beispielfall:
»Harmonie nannten sie ihren Pflegedienst, das klang so nett. Doch nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Köln ergaunerten die Ukrainer Igor P., 40, und Yulya R., 40, mit der Firma in anderthalb Jahren rund 590.000 Euro. Demnach rechneten sie in fast 1300 Fällen Pflegeleistungen bei den Sozialversicherungsträgern ab, die sie gar nicht oder nur in wesentlich geringerem Umfang erbracht hatten. Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen beim Landgericht Anklage wegen gewerbsmäßigen Betrugs erhoben.«
Banse und Dowideit beschreiben in ihrem Artikel das Vorgehen so:
»Das Betrugssystem funktioniert demnach so: Die Firmen knüpfen über Netzwerke wie Kirchengemeinden Kontakt zu den Angehörigen von Schwerstkranken – zum Beispiel Komapatienten oder Bettlägerigen, die nur noch dank Beatmungssystemen leben. Dann offerieren sie ihnen folgendes Geschäft: Anstatt den Pflegebedürftigen tatsächlich rund um die Uhr zu betreuen, wie es mit der Kasse vereinbart ist, schaut nur zwei oder drei Mal am Tag jemand vorbei.
Anstatt einer ausgebildeten Pflegekraft wird nur eine Hilfskraft eingeteilt. Bei der Kasse rechnet der Pflegedienst die Leistungen allerdings so ab, als habe tatsächlich rund um die Uhr eine teure Fachkraft am Bett des Patienten gesessen. Für die Pflegebedürftigen ist das unter Umständen lebensgefährlich: Bundesweit gab es bereits mehrere Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung in genau solchen Fällen.
Den Familien der Patienten wird ein solcher Deal mit der Aussicht schmackhaft gemacht, dass sie einen Teil des ergaunerten Geldes abbekommen. „Es gibt schon fast feste Verrechnungssätze“, sagt Peter Scherler, der Beauftragte für die Bekämpfung von Fehlverhalten bei der AOK Niedersachsen.«
Das Bundeskriminalamt (BKA) sei bereits im vergangenen Herbst zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich um ein bundesweites Phänomen handelt.
Aber wie kommt man auf Beträge durch die betrügerischen Aktivitäten, die die Milliardengrenze überschreiten? Einen Hinweis findet man in dem Beitrag von Diehl:
»Den jährlichen Schaden nur im Bereich der Intensivpflege schätzen seriöse Anbieter wie die Deutsche Fachpflege Gruppe auf etwa eine Milliarde Euro. Demnach wird ein Fünftel der abgerechneten Leistungen zu Unrecht kassiert. Der Berliner Sozialstadtrat Stephan von Dassel, der sich seit Jahren gegen Betrug im Gesundheitswesen engagiert und immer wieder auch vor Betrügern gewarnt hat, taxiert den Schaden sogar noch höher: Er geht von mindestens zwei Milliarden Euro pro Jahr aus.«
Bei der Deutsche Fachpflege Gruppe handelt es sich selbst um einen großen Anbieter in der häuslichen Intensivpflege, um die es vor allem bei den aktuellen Vorwürfen und Ermittlungen geht. Dieser Anbieter »schätzt, dass es bundesweit rund 19.000 Intensivpflegepatienten gibt, von denen jeder die Kassen pro Monat 22.000 Euro und mehr kostet. Mindestens jeder fünfte Euro wird den Schätzungen zufolge aber zu Unrecht bezahlt – das wäre eine Milliarde pro Jahr. Ein Großteil davon, vermutet man bei den gesetzlichen Kassen auf Bundesebene, fließe an russische Pflegedienste«, so Banse und Dowideit in ihrem Artikel.
An dieser Stelle passt der Blick zurück: Wir reden über keine völlig neue Problematik. Vgl. dazu beispielsweise nur den Artikel Abrechnungsbetrug: Bezirk zeigt Pflegedienst an vom 08.09.2011 aus der „Berliner Morgenpost“: »Berliner Pflegedienste rechnen möglicherweise in großem Umfang falsch ab, der Schaden könnte in die Millionen gehen. Das ist das Ergebnis einer Prüfung in Neukölln. „Die Verwaltung dort hat so viele Hinweise auf Unregelmäßigkeiten gefunden, dass wir von systematischem Betrug ausgehen“, sagte Neuköllns Sozialdezernent Michael Büge (CDU).« Auf welcher Grundlage kommt man zu so einer Einschätzung? Seit 2010 hatte man genauer hingeschaut, aber das muss man sich wieder relativieren angesichts der Größenordnung: „Bei allen vier Pflegediensten, die wir uns vorgenommen haben, traten Unregelmäßigkeiten auf“, so wird der damalige Sozialdezernent zitiert.
Hinzu kommt: Damals ging es um „normale“ Pflege im häuslichen Kontext: »“Der Betrug sah so aus, dass eine höhere Pflegestufe angegeben wurde“, so Büge. „Da war die Alzheimerpatientin plötzlich inkontinent, der Demenzkranke brauchte einen Rollstuhl, aber nur auf dem Papier“, sagt Büge.«
Aktuell geht es vor allem um „lukrative“ Beatmungspatienten. Auch hier muss man anmerken, dass das kein neues Feld für eine kritische Draufsicht ist. Vgl. dazu bereits den Beitrag Beatmungspatienten in einem Bürogebäude und der Frust der Behörden mit einem renitent schlechten Pflegeheim. Aus den Niederungen realer Pflegemissstände vom 16.11.2014. Bereits 2012 hatte Anette Dowideit, die auch aktuell wieder als Autorin wirkt, einen Artikel unter der Überschrift Beatmungs-Stationen sind lukrativ und gefährlich veröffentlicht.
Kurzum: Das alles ist nicht vom Himmel vor unsere Füße gefallen.
Warum – so wird sich der eine oder andere an dieser Stelle fragen – ist denn bisher von außen betrachtet so wenig passiert? Wenn man doch schon seit längerem von dem skizzierten Geschäftsgebahren weiß?
Ein Antwortversuch:
„Patienten und Angehörige wirken häufig an den Betrugshandlungen mit“, sagt ein Ermittler aus Nordrhein-Westfalen. „Dafür erhalten sie einen Teil der Beute.“ Vielfach stammten sie ebenfalls aus Osteuropa. „Diese landsmannschaftliche Verbundenheit trägt dazu bei, dass so gut wie keiner mit den Behörden kooperiert.“ Die Beamten stießen auf „eine Mauer des Schweigens“, die kaum zu durchdringen sei. Die Patienten wiederum, die eine schlechte Pflege erdulden müssten und nicht mit den Tätern gemeinsame Sache machten, seien häufig sozial isoliert und so hinfällig, dass sie kaum Aufklärungshilfe leisten könnten, so Jörg Diehl.
Bezeichnend die ersten Reaktionen aus der Politik: „Das ist einer der größten Skandale im Gesundheitswesen der vergangenen Jahrzehnte“, empörte sich der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach im „Morgenmagazin“ der ARD, so Jörg Diehl in seinem Artikel.
Und erwartbar können wir reflexhafte Reaktionen aus der Politik angesichts der im Raum stehenden Vorwürfe beobachten. Die nun aber – das sei hier vorangestellt – nicht unproblematisch daherkommen, denn man sollte bei aller berechtigten Empörung ob der kriminellen Energie, die hier sichtbar wird, wenn denn die Vorwürfe stimmen, in Rechnung stellen, dass wir uns in einem Feld bewegen, in dem tausende von Pflegedienste tagtäglich ihrer notwendigen Arbeit nachgehen und ihrerseits in eine Art Kollektivhaftung genommen werden.
»Russische Pflegedienste stehen unter Verdacht, systematisch betrogen und deutsche Sozialkassen um einen dreistelligen Millionenbetrag geprellt zu haben. Das Bundesgesundheitsministerium will jetzt die Lücken in der häuslichen Pflege schließen – vielleicht aber nicht so, wie einige es sich wünschen«, berichtet Martina Merten in ihrem Artikel Mit Kontrollen gegen den Abrechnungsbetrug. „Betrug muss systematisch verfolgt werden“, zitiert sie einen Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums einen Tag nach Bekanntwerden massiver Betrugsvorwürfe im Bereich der häuslichen Krankenpflege. Das Ministerium wolle mit den Bundesländern im Rahmen der Gesundheitsministerkonferenz beraten, wie man die angesprochenen „Lücken in der Qualitätskontrolle“ schließen könne.
Aber: „Unangemeldete Kontrollen in einer häuslichen Umgebung sind so einfach nicht möglich.“ Dieser Hinweis entschlüsselt sich bei einem genaueren Hinsehen auf die aktuellen Fallkonstellationen, in denen es zu Betrügereien gekommen sein soll. Diese sollen möglich geworden sein, »da der Gesetzgeber den Krankenkassen bei der häuslichen Krankenpflege (§37 SGB V) bislang kein unangemeldetes Prüfrecht einräumt – zum Unmut von GKV-Spitzenverband-Vorstand Gernot Kiefer. „Genau in diese Lücke gehen offenbar die Pflegedienste“, so seine Kritik. Lediglich für Leistungen aus der Pflegekasse sieht der Gesetzgeber unangemeldete Prüfungen durch den MDK vor (§114a SGB XI).«
Hinzu kommt: »Der Vorstand der Deutschen Stiftung für Patientenschutz, Eugen Brysch, kritisiert zudem, die meisten Bundesländer hätten ihre Aufsicht von Wohngemeinschaften und Pflegeheimen auf ein Minimum zurückgefahren. Es sei wichtig, Schwerpunktstaatsanwaltschaften in den Bundesländern einzurichten.«
Gerade der letzte Punkt, die geforderte Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften, ist von Bedeutung. Wir sind hier konfrontiert mit einer erheblichen kriminellen Energie seitens einiger Akteure und das ist normalerweise Aufgabe der Staatsanwaltschaft, diese Aktivitäten zu verfolgen und zu unterbinden.
Aber eine „Lösung“, die alle Pflegedienste adressiert? Der Pflegeexperte Werner Schell warnt vor populistischen Schnellschüssen im Kampf gegen Betrug bei der ambulanten Pflege, so die WirtschaftsWoche über ein Interview mit ihm unter der Überschrift „Mehr Kontrollen verhindern keinen Abrechnungsbetrug“.
»Solche Betrügereien können offensichtlich nur funktionieren, weil es gemeinsames Handeln von Pflegediensten und pflegebedürftigen Menschen gibt. Denkbar ist sogar, dass sich Personen als pflegebedürftig ausgeben und die Prüfsituation entsprechend gestalten. Beispielsweise einigt man sich auf zwei Mal Hilfe beim Waschen die Woche und der ambulante Pflegedienst rechnet das erlaubte tägliche Waschen ab. Der so erzielte „Gewinn“ wird dann zwischen den Beteiligten aufgeteilt.«
Er führt weiter aus: »Notwendiger ist es, dass der MDK bei der Begutachtung mit mehr Sorgfalt den wirklichen Umfang der Pflegebedürftigkeit ermittelt und sich nicht durch angebliche Einschränkungen täuschen lässt, mit deren Hilfe der Patient höhere Leistungen durchsetzen will. Über unangemeldete Kontrollen kann man dann noch einmal nachdenken. Eine „härtere Gangart“ des MDK beim Prüfgeschehen bedeutet aber auch, dass mehrheitlich unschuldige Kranke kontrolliert und alle Pflegedienste mit Misstrauen bedacht werden – beides völlig zu Unrecht. Unangemeldete Kontrollen auch noch nachts oder am Wochenende helfen sicher nicht gegen kriminelle Energie.«