Es gibt die Redensart „Aus den Augen, aus dem Sinn“. An diese muss man unweigerlich denken, wenn man sich den Beitrag Mit Kindern Kasse machen? Wie Heimkinder ins Ausland verbracht werden des Politikmagazins „Monitor“ (30.04.2015, ARD-Fernsehen) anschaut. »Wenn das Jugendamt einschreitet und Kinder aus Familien heraus nimmt, schlägt die Stunde der privaten Träger, die sich um die Unterbringung der Jugendlichen kümmern sollen. Ein riesiger Markt, der offenbar kaum kontrolliert wird und der ganz neue Geschäftsmodelle schafft. Monitor-Recherchen decken ein System auf, in dem Jugendliche in dubiosen Einrichtungen im Ausland eher verwahrt statt pädagogisch betreut werden, während die Verantwortlichen in Deutschland dafür öffentliche Gelder kassieren«, so die redaktionelle Beschreibung dessen, womit sich der Beitrag beschäftigt. Und da werden konkrete Fälle präsentiert. Am Beispiel des Handelns der Jugendämter in Dorsten und Gelsenkirchen. Das schlägt jetzt so einige Wellen, man kann nur hoffen, diesmal mögen sie hoch genug schlagen.
»Die Leiter des Jugendamtes in Gelsenkirchen haben angeblich mit der Unterbringung von deutschen Heimkindern in Ungarn systematisch Kasse gemacht«, kann man dem Artikel Heimkinder-Skandal – Jugendamtsleiter weist Vorwürfe zurück von Sinan Sat und Friedhelm Pothoff entnehmen. Es geht um schwere Vorwürfe gegen den Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes, Alfons Wissmann, und seinen Stellvertreter, Thomas Frings. Demnach sollen die beiden Männer ihre Funktion an der Spitze des Jugendamtes ausgenutzt haben, um mit Kindern, die in staatlicher Obhut waren, Geld zu verdienen. Am Anfang des Monitor-Berichts stand aber ein anderer Fall, aus dem nordrhein-westfälischen Dorsten: »Dort arbeitet das Jugendamt mit der „Life GmbH“ aus Bochum. Sie kümmert sich im Namen der Stadt um die Unterbringung von Heimkindern im Ausland, wenn in Deutschland kein passendes Heim gefunden werden könne. Wie „passend“ die vermeintliche Alternative in Ungarn ist, zeigt das Beispiel eines Elfjährigen. Der Junge wurde von „Life“ in die Obhut eines 64-jährigen Handwerkers gegeben, der offenbar keinerlei Qualifikation als Pädagoge hat. Auch zur Schule geht der Junge nicht. Stattdessen bekommt er vier Stunden Online-Unterricht pro Woche in einer so genannten Web-Schule. Fast 8.000 Euro im Monat soll die Betreuung des Jungen in Ungarn kosten. Den Großteil des Geldes (7.000 Euro) bekomme die Firma Life. 800 Euro gingen an die Web-Schule, die der Tochter des Life-Eigentümers gehört.«
Und das, was der verantwortliche Leiter des Jugendamtes in Dorsten so von sich gibt, muss man erst mal sacken lassen: »Für den Leiter des Jugendamtes Dorsten, Dietmar Gayk, scheint es jedenfalls keinen Grund zu geben, die Unterbringung der Kinder in Ungarn zu kontrollieren. Gegenüber Monitor sagte der Leiter des Amtes: „Wir haben vertragliche Vereinbarungen. So wie der Träger uns vertraut, dass wir monatlich die Zahlungen leisten, die ja nicht unerheblich sind, vertrauen wir auch dem Träger.“«
Zurück nach Gelsenkirchen. Um die dortige Fallkonstellation zu verstehen, muss man sich folgende Akteure vor die Augen führen: Neben Wissmann und Frings vom Jugendamt der Stadt die Firma „Neustart“, die 2004 von Wissmann und Frings gegründet wurde.
»Nach ARD-Informationen soll es eine Abmachung zwischen dem Kinderheim St. Josef und den beiden Männern an der Spitze des Gelsenkirchener Jugendamtes gegeben haben. Durch die gezielte Überbelegung von St. Josef soll das Heim seine Einnahmen erhöht haben.
Im Gegenzug wurden von dort Kinder und Jugendliche in die ungarische Einrichtung weitervermittelt. 5.500 Euro pro Kind und Monat soll der deutsche Staat dafür an die Neustart GmbH bezahlt haben.«
In dem ungarischen Heim habe es keinerlei pädagogische Konzepte gegeben, man habe „einfach irgendwas mit den Kindern gemacht.“ Ein junger Mann, der selber aus Deutschland in die ungarische Einrichtung gebracht wurde, bestätigt in dem Monitor-Beitrag, dass man sich kaum um die Jugendlichen gekümmert habe : „Wir konnten kiffen, das haben wir auch gemacht. Wenn wir nicht zur Schule wollten, konnten wir einfach weiter schlafen.“
Gelsenkirchens Oberbürgermeister, Frank Baranowski (SPD), reagierte am Freitag mit „Fassungslosigkeit“ auf die Vorwürfe. Die beiden leitenden Jugendamtsmitarbeiter der Stadt Gelsenkirchen wurden freigestellt, bis die Vorwürfe geklärt seien.
Und die Beschuldigten? Was sagen sie?
»Die Beschuldigten selber bestreiten laut Monitor die Vorwürfe. Ihre Anteile an der Firma Neustart haben Jugendamtsleiter Alfons Wissmann und sein Stellvertreter Thomas Frings mittlerweile abgegeben.«
Nur sollte man den nächsten Satz auch lesen: »Wissmann an seine Frau und Frings an seinen Bruder.« Das nennt man dann wohl Familienökonomie.
Zur Abrundung sollte man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass erst im Februar 2015 eine ARD-Dokumentation mit dem Titel Mit Kindern Kasse machen von Nicole Rosenbach und Anna Osius ausgestrahlt worden ist.
»Jeden Tag werden im Durchschnitt 100 Kinder und Jugendliche aus ihren Familien genommen und in Einrichtungen untergebracht. Die Jugendämter wollen sie vor ihren Eltern schützen und verhindern, dass sie vernachlässigt oder gar misshandelt werden. Diese „Inobhutnahmen“ sind seit 2005 um 64 Prozent gestiegen. Sie sind traumatisierend für die Seelen der Kinder. Aber nötig und sinnvoll, wenn sie zuhause wirklich in Not sind und in Heimen besser betreut werden und sich entfalten können. Die Jugendämter, die diese „Inobhutnahmen“ beschließen, sind unter Druck: Fehlentscheidungen können das Leben der Kinder und ihrer Familien zerstören. Doch sie sind allerorts überlastet. Nicht selten betreuen Mitarbeiter bis zu 90 Familien. Sie beauftragen freie Träger, sich um die Unterbringung der Kinder zu kümmern. Eine der sensibelsten Aufgaben des Staates, die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Not, ist nahezu komplett privatisiert. Der Markt der stationären Einrichtungen wächst und ist lukrativ. Ein einziger Platz in einem Heim kostet die Kommunen im Jahr rund 50.000 Euro. Doch ob dieses Geld wirklich zum Wohl der Kinder und Jugendlichen verwendet wird, wird kaum überprüft: Den Jugendämtern fehlt die Zeit und ihre Eltern sind dazu nicht in der Lage.
Wenn junge Menschen über Missstände in ihren Einrichtungen klagen, dann wird ihnen wenig Gehör geschenkt. So gerät das Heer der freien Jugendhilfeträger – darunter Privatunternehmer, Verbände, gemeinnützige Vereine – selten ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Doch nicht allen geht es allein um das Wohl der ihnen anvertrauten 140.000 Kinder und Jugendlichen. Längst ist die Jugendhilfe auch ein großes Geschäft geworden.«
Und der eine oder die andere wird an dieser Stelle an die Vorgänge rund um die Heime der Haasenburg GmbH in Brandenburg denken. Am 15. Juli 2013 wurden diese in einem Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ thematisiert: »…wenn es um die Unterbringung und die Betreuung von äußerst schwierigen Jugendlichen geht, die nicht selten eine Gefahr für sich selbst und für die Gesellschaft darstellen, dann erlaubt sich der Staat ein Durcheinander und ein jahrelanges Nicht-Handeln, das einen mehr als zweifeln lässt, weil es zum Himmel schreit.
Es geht hier um eine GmbH, deren Geschäftsmodell die Unterbringung der erwähnten besonders schwierigen Jugendlichen in der brandenburgischen Pampa ist und die damit im Auftrag von Jugendämtern aus ganz Deutschland ein gutes Geschäft zu machen scheint. Die zahlen eine Menge Geld dafür, dass sie ihre „Problemfälle“ in die Heime der Haasenburg GmbH „outsourcen“ kann – die wiederum teilweise Tagessätze von 300 Euro abrechnen kann. Und nun tobt – wieder einmal muss man in diesem Fall sagen – eine heftige Auseinandersetzung über Vorwürfe, dass Kinder und Jugendlichen in den Heimen dieses Unternehmens misshandelt werden, dass dort unhaltbare Zustände an der Tagesordnung sind und das endlich etwas geschehen müsse, um das Ganze zu beenden … seit Jahren gibt es immer wieder sehr kritische Berichte über diese Jugendhilfeeinrichtungen.«
Und in diesem Beitrag habe ich aus dem Artikel Die nette Heimaufsicht von Kaija Kutter aus dem Jahr 2013 zitiert, was hier nochmals aufgerufen werden muss:
»Für die Aufsicht von über 400 Einrichtungen sind nur drei Menschen im Landesjugendamt Brandenburg verantwortlich. Und tatsächlich gab es seit 2010 lediglich eine einzige unangekündigte Prüfung in der „am stärksten kontrollierten“ Haasenburg GmbH. Das Amt möchte den Kindern solche Untersuchungen ersparen, hieß es auf taz-Anfrage im Juni. Diese Prüfung, die dem Schutz der Kinder dienen sollte, wird als „unangemeldetes Eindringen Fremder“ bewertet, das „auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben“ sollte.«
Fazit: Wir sind erneut konfrontiert mit mehreren Anfragen an das Jugendhilfesystem, die endlich einer systematischen Beantwortung unterworfen werden müssen. Wie ist es mit der Kontrolle bzw. der in nicht wenigen Fällen und dann auch noch systematischen Nicht-Kontrolle der beauftragten Träger seitens der öffentlichen Träger der Jugendhilfe bestellt? Und sollten diese, was nicht unrealistisch ist, argumentieren, dass sie schlichtweg keine Ressourcen haben, eine entsprechende Kontrolle sicherstellen zu können – muss dann nicht ein großes Fragezeichen an die Privatisierung der Jugendhilfeträger in dem Sinne gemacht werden, ob es also angesichts fehlender oder sehr defizitärer Kontrollen seitens der Auftraggeber vertretbar ist, diese Leistungen auszulagern an Träger, die auf Gewinn gerichtet sind mit dem, was sie tun?
Aber vielleicht ist das Grundproblem ganz woanders zu verorten: Vielleicht geht es – angelehnt an die eingangs vorgetragene Redeweise „Aus dem Augen, aus dem Sinn“ darum, dass man sich drücken will vor einer wie auch immer ausgestalteten adäquaten Unterbringung und Betreuung auch der ganz schwierigen Fälle in Deutschland, auch weil man sich bei uns gegenseitig blockiert bei Fragen der geschlossenen Unterbringung und des Umgangs mit den wirklich schwierigen Fällen? Dann ist ein Export des „Problems“ und der damit verbundenen Lösungsversprechen ein überaus attraktives Verfahren, weil man scheinbar etwas tut zur Lösung, tatsächlich aber „das Problem“, also den Menschen, loswerden kann. Eine Schlussfolgerung könnte lauten: Gerade die besonders schwierigen Fälle in der Jugendhilfe dürfen nicht mehr ausgelagert werden nach Ungarn, Polen usw. – sondern sie müssen hier vor Ort, in unserem Gemeinwesen bearbeitet und betreut werden. Das wäre zumindest eine erste Konsequenz, die zu ziehen man durchaus in der Lage wäre, wenn man denn wollte.