Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit

In so gut wie allen sozialpolitischen Handlungsfeldern begegnet uns immer wieder der Hinweis auf „die“ demografische Entwicklung. Man kann durchaus die These vertreten, dass die mit der Demografie verbundenen Entwicklungen wie ein „roter Faden“ der Sozialpolitik daherkommen. Ob es um die Planung und Steuerung geburtshilflicher Angebotsstrukturen in der Gesundheitspolitik, um den Ausbau der Kindertagesbetreuung, um die Schulbedarfsplanung und die Entwicklung der Auszubildenden-Zahlen geht, bis hin zu der Frage der Entwicklung des Arbeitskräfteangebots, der Zahl der Rentner oder der Entwicklung der Pflegebedürftigkeit – für alle diese Fragen spielt es eine ganz erhebliche Rolle, wie und in welcher Richtung sich die Bevölkerung hinsichtlich Zahl und Altersstruktur entwickelt. Insofern benötigt man in der sozialpolitischen Diskussion wie auch in den Niederungen der praktischen Politikgestaltung – gerade vor Ort – möglichst genaue Vorhersagen über die demografische Entwicklung. Und die Statistiker versuchen das in regelmäßigen Abständen auch zu liefern. Der 28.04.2015 wird so ein Tag sein, an und nach dem wieder einmal über ganz viele Ältere, zu wenig Kinder, menschenentleerte Regionen und auch boomende Großstädte in den Medien berichtet werden wird, denn das Statistische Bundesamt hat eingeladen zu einer großen Pressekonferenz unter der gewichtigen Überschrift „Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060“, auf der ein aktualisierter Blick in die Zukunft, also die Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, präsentiert werden sollen. Die Bundesstatistiker versprechen: »Auf der Grundlage von Annahmen zur künftigen Entwicklung von Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und Wanderungen wird gezeigt, wie die demografische Entwicklung bis 2060 aussehen könnte.« Und fast wie ein Werbeblock für Journalisten-Spielzeug kommt die Ankündigung daher, an diesem Tag werde auf der Webseite des Statistischen Bundesamtes auch „eine neu gestaltete animierte Bevölkerungspyramide“ freigeschaltet. Prima.

Und natürlich werden sich die Medien auf der ständigen Suche nach „Neuigkeiten“ auf diesen Blick in unsere Zukunft stürzen und je nach Berichterstattungsinteresse werden dann apokalyptische Versionen oder eher beschwichtigende Texte verfasst, sicher mit einer recht deutlichen Neigung hin zur demografischen Apokalypse, weil schlechte bzw. beunruhigend daherkommende Nachrichten (angeblich) mehr Quote und Auflage bringen. Die den demografischen Wandel positiv bewertenden oder wenigstens vor einer einseitigen Dramatisierung warnenden Beiträge sind eindeutig in der Minderheit (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Jenseits der „Demokalypse“? Die fabelhafte Welt des altersgerechten Lebens. Aber alles hat seinen Preis vom 05.04.2015).

Aber unabhängig davon wird kaum einer die eigentlich so naheliegende Frage stellen: Wenn es jetzt um die 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung geht, dann muss es schon 12 vorangegangene gegeben haben – und dann wäre es doch mal interessant zu erfahren, was denn aus den Vorausberechnungen später in der Realität geworden ist. Dieses Wissens über die Genauigkeit der Vorhersagen wäre eigentlich eine absolut erforderliche Hintergrundinformation, um die neuen Zahlen einordnen und bewerten zu können. Und diese Infragestellung der bisherigen Vorhersagen ist nicht einem generellen Ablehnung von Vorausberechnungen der demografischen Entwicklung geschuldet, jeder, der sich mit Sozialpolitik und ihrer Gestaltung beschäftigt, wird solche verwenden oder heranziehen. Und sie ist auch nicht einer generellen Verneinung der Möglichkeit geschuldet, überhaupt eine solche Vorhersage jenseits der reinen Kaffeesatzleserei machen zu können – denn gerade die demografische Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Prinzip gut vorhersagbar ist, denn sie wird von nur drei Einflussfaktoren bestimmt: der Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie dem Wanderungssaldo. Hinsichtlich der Geburtenrate wie auch der Lebenserwartungsentwicklung kann man sich auf recht sicherem Fundament bewegen, aber die Zu- und Abwanderungen und der daraus gebildete Wanderungssaldo stellen einen erheblichen Unsicherheitsfaktor dar. Und selbst wenn man den Wanderungssaldo gut eingrenzen könnte, bleibt immer noch ein großes Restrisiko hinsichtlich des weiteren Gangs der Dinge, denn jemand, der sein restliches Leben hier bleibt, müsste natürlich anders bewertet werden als jemand, der nach zwei Jahren wieder zurückwandert.

Dass das nicht nur theoretische Einwände sind, kann man an einer diese Tage bereits veröffentlichten Bevölkerungsvorausberechnung zeigen. Unter der trockenen Überschrift Neue Vorausberechnung zur Bevölkerungsentwicklung in Nordrhein-Westfalen: Bevölkerungszahl steigt bis 2025 um ein Prozent meldet sich das Statistische Landesamt Nordrhein-Westfalen zu Wort und präsentiert die Ergebnisse der Vorausberechnung der Bevölkerung in den kreisfreien Städten und Kreisen Nordrhein-Westfalens 2014 bis 2040/2060.

Auch hier wird also – wie in der nun vom Bundesamt anstehenden neuen Vorausberechnung – bis in das Jahr 2060 versucht, die demografische Entwicklung vorherzusagen. Wir schreiben bekanntlich das Jahr 2015 und ich erspare mir an dieser Stelle ausführliche Anmerkungen zu dem Hinweis, wie äußerst fragwürdig es ist, von heute aus gesehen auf der Basis unvollständiger und mit zahlreichen Fehlern behafteten Daten aus der Vergangenheit die Zukunft über eine Zeitspanne von 45 Jahren (!) zu modellieren. Man muss sich nur einmal klar machen, dass viele bevölkerungsbezogene Daten, die nun weitergerechnet werden, aus Datensätzen stammen, die beispielsweise in Westdeutschland seit der letzten großen Volkszählung im Jahr 1984 (!) immer nur fortgeschrieben wurden mit den entsprechenden Fehlern, die sich einschleichen müssen. Auch der Zensus 2011 war ja keine echte Volkszählung und konnte nur eine Annäherung an die Realität liefern.

Über einige Ergebnisse aus den neuen Vorhersagen der Landesstatistikern wurde in den Medien sofort berichtet, beispielsweise in dem Artikel Bevölkerung – Am Rhein wird es eng, im Sauerland einsam von Matthias Korfmann und Wilfried Goebels. Dieser Artikel sei auch deshalb hier hervorgehoben, weil er die angesprochene Problematik erkennt und zum Thema macht.
In der Vergangenheit war es ja eine der Kernaussagen der Debatte über die demografische Entwicklung, dass die Bevölkerung unweigerlich schrumpfen wird angesichts einer seit mehr als 40 Jahren stabil (zu) niedrigen Geburtenrate. Die Autoren merken vor diesem Hintergrund zu Recht erstaunt an:

»Nordrhein-Westfalen wächst überraschend bis 2025 – nach neuen Prognosen beginnt der Bevölkerungsrückgang deutlich später als von Experten erwartet. Ursache sind vor allem die hohen Zuwanderungszahlen. Nach den Berechnungen des Landesamtes für Statistik wird die Einwohnerzahl im Bundesland deshalb noch bis 2025 um ein knappes Prozent auf 17,7 Millionen Bürger steigen. Die Statistiker gehen davon aus, dass die Geburtenzahl zwar absehbar sinken wird, zunächst aber ein neuer Bedarf für Kitas und Schulplätze besteht. Erst 2040 soll die Bevölkerungszahl dann laut Prognose landesweit um lediglich 0,5 Prozent auf 17,5 Millionen sinken.«

Und wie immer liegt die wahre Erkenntnis jenseits der Durchschnittswerte, vor allem dann, wenn man eine große Streuung der Einzelwerte hat, aus denen sich der Durchschnitt zusammensetzt. Anders formuliert: Die einen gewinnen, die anderen verlieren. Mit Blick auf NRW und der in den Raum gestellten vorausberechneten Bevölkerungsentwicklung bis 2040:

»So wächst die Einwohnerzahl unter anderem in den Städten Düsseldorf (+13%), Köln (+19%), Bonn (+12%), Essen (+3,6%), Münster (16,6%) und Leverkusen (+8%). Im Ruhrgebiet sinkt die Einwohnerzahl um 3,9% auf 4,8 Millionen Bürger. Den größten Rückgang melden der Märkische Kreis mit -19%, Hochsauerlandkreis -16%, Hagen -9,7%, Oberbergischer Kreis -9,9% und der Ennepe-Ruhr-Kreis -8%. Damit verschärft sich die „Landflucht“ in NRW.«

Und mit Blick auf eine etwas kürzere Zeitspanne, also bis 2025, bringen die beiden Verfasser des Artikels ihre Verwunderung deutlich zum Ausdruck:

»Wir hatten uns schon an all die düsteren Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung gewöhnt. Deutschland, NRW, die Städte an der Ruhr werden schnell und dramatisch schrumpfen, hieß es. Und nun legt das Landesamt IT.NRW eine ganz andere Vorhersage auf den Tisch: Zumindest bis 2025 soll die Zahl der Einwohner in NRW sogar wachsen. Selbst Revierstädte sind unter den „Wachstums“-Kandidaten: Dortmund (+ 5,1 %), zum Beispiel, und Essen (+ 3,6 %).«

Dabei sprechen die beiden von einer „soliden Datenbasis“ der neuen Vorhersage, würde diese doch auf der „Volkszählung 2011“ basieren. Bei allem Respekt vor der Arbeit der amtlichen Statistik, aber der „Zensus 20122“ war keine richtige Volkszählung, allenfalls eine Simulation einer Volkszählung im Wege der Auszählung und des Abgleich zahlreicher Registerdaten und einer Stichprobe.
Und sie bringen selbst Hinweise, wie vorsichtig man sein sollte, wenn es um Prognosen geht:

»Im Jahr 2001 machte eine düstere Vorhersage Schlagzeilen im Revier: „Das Ruhrgebiet verliert immer mehr Bürger“, hieß es damals. Und: „Essen, Dortmund und Hagen trifft es besonders hart.“ Eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) blickte damals bis 2015 voraus. Optimismus war nicht angesagt. Selbst eine Steigerung der Geburtenrate um 50 Prozent werde die Schrumpfung des Ruhrgebiets nicht stoppen können, hieß es.«

Von oben betrachtet ist die Gesamtentwicklung schon so eingetreten, wie damals vorhergesagt – allerdings mit krassen Abweichungen bezogen auf einzelne Ruhrgebietsstädte zu dem, was tatsächlich passiert ist – und zwar nach oben wie unten: »Völlig missglückt hingegen ist die Vorhersage für Dortmund, Essen sowie den Kreis Unna. Essen dürfte heute nur noch eine 529.000 Einwohner-Stadt sein. Tatsächlich sind es … rund 570.000. Dortmund hatte … nach Angaben der Stadt selbst sogar 589.000. Die Prognose sah Dortmund bei nur noch 529.000 Einwohnern. Im Kreis Unna hingegen leben heute sogar rund 45.000 Bürger weniger als vorhergesagt.«

Wie kann es dazu kommen?

Der Blick nach vorne ist eigentlich einer nach hinten, so wird der Regionalforscher Peter Strohmeier zitiert. Man schreibt die durchschnittlichen Verhältnisse der jüngsten Vergangenheit in die Zukunft fort. Dazu auch ein anderer Experte:

»In der Prognose aus dem Jahr 2001 spiegeln sich die Erfahrungen aus den 1990-er Jahren. „Damals gab es zunächst intensive Wanderungsbewegungen. Es kamen viele Aussiedler, Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge. Das ging zum Ende der 1990-er Jahre aber zurück, und offenkundig ließen sich die Experten von diesen Eindrücken leiten“, erklärt Andreas Farwick, Geograph an der Ruhr-Uni.«

Da haben wir sie wieder, die große Unbekannte – und Unsicherheit – Zuwanderung. Dass das auch heute von Bedeutung ist, muss an dieser Stelle kaum besonders hervorgehoben werden. Und das folgende Zitat legt den Finger in die offene Wunde derjenigen, die an schein-exakte Zahlen glauben:

»Die Prognose von 2001 enthält zwar Hinweise auf die Folgen einer EU-Osterweiterung, konnte aber nicht mit einigen dramatischen Entwicklungen rechnen: die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise mit ihren Konsequenzen für Griechenland und Spanien, der arabische Frühling, die Bürgerkriege in Syrien und Irak – das schlägt auch auf die Bevölkerungsentwicklung im Ruhrgebiet durch. Farwick: „Die Kernstädte des Ruhrgebietes, haben eine sehr starke Zuwanderung. In Dortmund gibt es zum Beispiel eine große Südosteuropa-Community, also ziehen andere Menschen aus Südosteuropa in diese existierende Gemeinschaft nach.“ Ähnliches lässt sich in Duisburg beobachten.«

Man wusste es im Jahr 2001 eben nicht und konnte es damals auch nicht wissen. Wer aber weiß, was in den vor uns liegenden 45 Jahren passieren wird? Daran sollten wir denken, wenn das Statistische Bundesamt am kommenden Dienstag seine neue Bevölkerungsvorausberechnung veröffentlicht und viele Medien – anders als der hier zitierte Artikel – eine Zahl oder eine Altersverteilung für das Jahr 2060 in den Raum stellen wird und aus Vereinfachungsgründen sagen, schreiben oder bebildern wird: So wird es kommen. Die Statistiker übrigens sind exkulpiert, weisen sie doch immer in ihren Texten korrekt darauf hin, dass es sich nicht um Prognosen handelt, sondern unter Vorausberechnungen auf der Grundlage bestimmter Annahmen (zu der Geburtenrate, zur Zuwanderung), die so kommen können, es aber nicht müssen. Dann werden mehrere Varianten gerechnet, aber in der Berichterstattung wird das dann alles eingedampft auf eine Zahl aus den vielen.

Korfmann und Goebels zitieren den Bielefelder Bevölkerungsforscher Jürgen Flöthmann, der eine natürliche Grenze für Vorhersagen sieht: „Alles, was über 30 Jahre hinausgeht, ist völlig spekulativ.« Und das ist schon eine recht weit gezogene Obergrenze, sie orientiert sich an einer Generation. Aber was kann und wird da nicht noch alles passieren.

Fazit: Mehr Demut vor der unsicheren Zukunft und mehr Szenarien auf der Basis plausibler Annahmen statt der erfolglosen Suche nach der einen Zahl. Es wird sie geben, aber wir werden sie erst hinterher kennen.