Die „Kreativwirtschaft“ und die dort herrschenden Zustände als Menetekel für viele andere?

Anfang Mai ist es wieder soweit – dann findet in Berlin das diesjährige „Familientreffen“ der Internet-Gemeinde und Kreativen bzw. der, die sich dafür halten, statt: Die „re:publica 14„. Wieder mit vielen spannenden und partiell skurrilen Themen. Und natürlich wird es erneut – wenn auch zumeist am Rande – um „berufspolitische“ Fragen gehen, schlagen sich doch viele der Anwesenden mehr schlecht als recht durch die kreative und das heißt eben oftmals auch mehr als prekäre Existenz.
In diesem Kontext lohnt der Blick auf ein lesenswertes Interview mit dem Tourneeveranstalter Berthold Seliger, der eine umfassende und grundlegende Abrechnung mit dem Musikbusiness vorgelegt hat. Seliger hat mit seinem Buch „Das Geschäft mit der Musik – Ein Insiderbericht“ eine interessante Einführung in fast alle Facetten des Geschäfts mit der Musik geliefert. Er analysiert die aktuellen Geschäftsmodelle und befasst sich mit der Rolle der Künstler und Kulturarbeiter, aber auch mit ihrer miserablen sozialen Situation. Das Interview ist unter der Überschrift „Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt“ auf Telepolis veröffentlicht worden. Eine seiner zentralen Thesen lautet: Die „Kreativwirtschaft“ habe eine Türöffnerrolle für neoliberalen Arbeitsverhältnisse gespielt.

Bevor wir uns dieser These genauer widmen sei eine Annäherung an den immer öfter auftauchenden Begriff der „Kreativwirtschaft“, der auch von Seliger verwendet wird, versucht. Es gibt eine gleichsam „halbamtliche“ Definition dessen, was man sich darunter vorstellen soll, denn im Dezember 2007 wurde der Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ als Bundestags-Drucksache veröffentlicht und da findet man auf den Seiten 333 ff. ein eigenes Kapitel zum Thema „Kultur- und Kreativwirtschaft“. Wobei der Definitionsversuche staubtrocken daherkommt:

Im allgemeinen Gebrauch des Begriffs Kulturwirtschaft respektive Kreativwirtschaft werden in Deutschland diejenigen Kultur- bzw. Kreativunternehmen erfasst, „… welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen.“ (S. 340)

Na ja. Nicht wirklich prickelnd, dieser Definitionsanlauf. Man kann es natürlich auch empirisch versuchen. So hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Jahr 2007 eine Studie über die Bedeutung der Kreativwirtschaft in und für Berlin veröffentlicht. Unter den sieben führenden kreativwirtschaftlichen Zentren lag Berlin gemessen an der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung hinter der Region München an zweiter Stelle, zugleich aber mit der höchsten Dynamik. »Dies gilt zumindest für die privatwirtschaftlichen Teile der Branche, bei den öffentlichen Institutionen machen sich dagegen die Sparmaßnahmen des Berliner Senats bemerkbar«, schrieben Geppert und Mundelius in ihrem Beitrag „Berlin als Standort der Kreativwirtschaft immer bedeutender„. Hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse ist der folgende Passus interessant:

»Fast die Hälfte der in der Kreativwirtschaft Berlins Tätigen sind Selbständige oder freie Mitarbeiter; in den übrigen Wirtschaftsbereichen ist der Anteil dieser Gruppen weniger als halb so groß. Insgesamt arbeitet jeder zehnte Erwerbstätige Berlins in der Kreativwirtschaft. Damit ist dieser Zweig inzwischen größer als das verarbeitende Gewerbe der Stadt.«

An dieser Stelle lässt sich das aktuelle, von Reinhard Jellen geführte Interview mit Berthold Seliger gut andocken, der ja wie bereits erwähnt von einer „Türöffnerrolle“ der Kreativwirtschaft für neoliberale Arbeitsverhältnisse spricht. Seine Sichtweise von den Künstlern als „Kulturarbeiter“ ist eigenwillig und gewinnbringend. Er führt in dem Gespräch dazu aus:

»Die Künstler und Kulturarbeiter stehen als flexible und selbstverantwortliche Subjekte Modell für eine Neuorganisation der Gesellschaft … Im Kern sind die meisten in der Kreativindustrie tätigen Menschen ja „Arbeiter“, wenn man diesen altmodischen Begriff wieder einführen möchte, nämlich „Kulturarbeiter“, ein Begriff, den zu verwenden ich bevorzuge – ob Aufnahmeleiter oder Arbeiterin im Presswerk, ob die Verkäufer in den Plattenfirmen, die sich so gern als „Produktmanager“ bezeichnen, in Wahrheit aber natürlich alles andere als Manager sind, sondern Verkäufer eines industriell hergestellten Produkts, bis hin zu den Komponisten und Interpreten, die ja nach dem Stand der kulturellen Produktionsverhältnisse am ehesten privilegierte produzierende Facharbeiter im Sektor Dienstleistungen sind, wenn man sie soziologisch einordnen möchte, und keineswegs Unternehmer. Sich selbst würden aber all die lohnabhängigen Arbeiter und Manager, die in der Musikindustrie arbeiten, und all die Künstler jedoch kaum als „Arbeiter“, sondern eben als „Manager“ bezeichnen oder im Fall der Künstler als „Selbständige“, als „Unternehmer“. Und da sind wir eben mitten in der Ideologie des neoliberalen Kapitalismus – die Zuschreibung ist ja: Selbst schuld, wenn du arm bleibst! Selbst schuld, wenn du einen unattraktiven Job machst! Du bist Unternehmer deiner selbst! Du bist für deine Selbstoptimierung, für dein neoliberales Selbst verantwortlich. Und all die „Kreativen“, wie es immer so schön heißt, spielen vergnügt die ihnen vom System zugewiesene Rolle als autarke „Miniaturkapitalisten“.«

Die Fakten, die Seliger vorträgt, sprechen für sich. Er verweist auf die vielen »schlecht bezahlten Jobs – im Extremfall: unbezahlte oder skandalös gering bezahlte Praktika – in der „Kreativwirtschaft“, oder Musiker, deren durchschnittliches Jahreseinkommen laut KSK eben nur 12.005 Euro beträgt.« Nur etwa die Hälfte der in der Kulturbranche tätigen Menschen haben irgendeine Form eines festen Arbeitsverhältnisses, nicht selten mit einer Bezahlung knapp über oder unter dem Hartz IV-Niveau. Die andere Hälfte firmiert als „Selbständige“, zwei Drittel in prekären Verhältnissen. Natürlich stellt sich hier die Frage, warum denn überhaupt so viele trotz dieser offensichtlichen Realitäten den Weg suchen und nehmen in diesen Bereich. Darauf Seliger: »Die „Kreativwirtschaft“ hat es … geschafft, den Menschen vorzugaukeln, dass sie Teil von etwas ganz Tollem sind …«. Insofern verwundert es auch nicht, dass man nach Seligers Beobachtung fast nur noch Vertreter der Mittelschicht in der Kreativwirtschaft findet.

Die Anbindung an den neoliberalen Zeitgeist der zurückliegenden Jahre stellt sich für Seliger so dar:

»Der Arme ist selber schuld, er kann sich aber durch Selbstoptimierung aus seiner Lage retten. Man muss einfach nur besser werden, mehr Fortbildungen machen, hart an sich arbeiten, dann klappt es auch mit dem Job. Es ist das Glücksversprechung der kreativen Klasse, das hierzulande im ersten Jahrzehnt unseres Jahrtausends auch massenpsychologisch die Oberhand gewann. Richard Florida übrigens, der den Begriff der „kreativen Klasse“ erfand, musste gerade zugegeben, dass sich die positiven Effekte, die er sich damals erhoffte, nicht eingestellt haben.«

Zugleich sieht er die Kraft des Kapitalismus, seine alles einverleibende Energie:

»Ich glaube, die Kulturindustrie saugt immer alles auf und macht daraus ein eigenes Ding, eine industrielle Ware. Bis Punk mit dem Clash-Stück „Should I Stay Or Should I Go“ in der Levis-Werbung angekommen war, hat es noch 10 oder 15 Jahre gedauert, bei Grunge dauerte es nur noch etwa ein Jahr.
Die Perfektion, mit der etwas irgendwie Widerborstiges und Rebellisches zum Teil des Mainstreams gemacht und zu etwas Affirmativen umgebogen wird, nötigt mir Respekt ab. Den Kapitalismus darf man eben niemals unterschätzen, und die Kulturindustrie ist eine Speerspitze des Kapitalismus.«

Kommen wir zur Sozialpolitik im engeren Sinne. Reinhard Jellen stellt eine Frage, die kommen muss und zugleich auf etwas verweist, was man gerade in der Kreativwirtschaft mit viel Sympathie besetzt vorfinden kann:

»Sie wenden sich in Ihrem Buch gegen die Subventionierung von Popmusik. Anderseits erklärt Owen Heatherley in seinem Buch über die Band „Pulp“ den Qualitätsschwund in der britischen Popmusik durch den Umstand, dass der Bezug von Arbeitslosengeld als Haupteinnahmequelle von jungen Musikern durch verpflichtende Arbeitsmaßnahmen ersetzt wurde. Könnten Sie sich nicht vorstellen, dass man mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, die hiesige Musikszene einigermaßen aufmischen könnte?«

Da ist es also wieder, das bedingungslose Grundeinkommen, das einem immer wieder als „Lösung“ der Existenzprobleme vieler Kreativer vorgeschlagen wird. Verständlicherweise sympathisieren viele Angehörige der kreativwirtschaftlichen Szene mit der Vorstellung eines bedingungslosen Grundeinkommens, wäre man dann doch die wichtigsten Alltagssorgen los und kann dann auch mit den bereits akzeptierten niedrigen Gagen und sonstigen Geldzuflüssen über die Runden kommen. So die Hoffnung. Aber Seliger lässt sich gar nicht auf dieses Glatteis führen, sondern beschreibt lieber den französischen Ansatz, geboren in den 1980er und 1990er Jahren: Man führte Mindestgagen ein, und es gibt eine Art „Arbeitslosengeld“ für die meist selbständigen Pop- und Rockmusiker, wenn die eine Mindestzahl von Konzerten pro Jahr (zwischen 60 bis 70) geben. Dieses Mindesteinkommen auch in der auftrittslosen Zeit muss natürlich finanziert werden: »Finanziert wird das unter anderem durch durchaus üppige spezielle Steuern, zum Beispiel auf die Ticketpreise und vor allem auf die Gagen aller Bands. Es ist eine Art Künstler-Sozialversicherung.«

Spannende Gedanken. Widergelagert zu dem, was passiert seitens des kreativwirtschaftlich-industriellen Komplexes auf der einen Seite, aber auch der Lethargie und Verinselung aufs er Seite der atomisierten Kreativ-Individuen, von denen jeder versucht, sich durchs Leben zu schlagen.

Es erübrigt sich fast schon von alleine vor diesem Hintergrund darauf hinzuweisen, dass es gerade in diesem Bereich sehr schwierig sein wird, einen Mindestlohn durchzusetzen, um das mal mit einer anderen aktuellen sozialpolitischen Baustelle zu verknüpfen.

Handelt es sich bei dem, was wir unter dem Brennglas der Kreativwirtschaft erleben, um einen Menetekel für viele andere Arbeitnehmer bzw. Arbeitskraftunternehmer, wie es ja auch von Seliger mit seiner These in den Raum gestellt wird?

Es gibt zumindest eine noch länger zurückreichende Traditionslinie der Arbeitsmarktforschung, die damals bereits in diese Richtung argumentiert hat: Hier sei beispielsweise auf die Arbeit von Carroll Haak und Günther Schmid aus dem Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin hingewiesen, die 1999 als Discussion Paper veröffentlicht worden ist:

Carroll Haak und Günther Schmid (1999): Arbeitsmärkte für Künstler und Publizisten – Modelle einer zukünftigen Arbeitswelt? P99-506, Berlin: Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin

Die Künstler und Publizisten hatten damals das Interesse der beiden Wissenschaftler geweckt, weil sie „ideales“ Anschauungsmaterial lieferten für die Arbeitsthese der beiden – dass Strukturmerkmale von Künstlerarbeitsmärkten zumindest teilweise paradigmatisch für den zukünftigen Arbeitsmarkt sein werden:

»Viele Künstler und Publizisten arbeiten als ehrenamtliche Mitarbeiter im Kulturbereich, erzielen Einkünfte durch niedrig bezahlte Dienstleistungen oder treten auf den Markt als die „neuen Selbständigen“. Dabei bewegen sie sich häufig zwischen Sequenzen von Erwerbs- und Nichterwerbszeiten und arbeiten traditionell unter Arbeitsbedingungen, die nicht dem Normalarbeitsverhältnis entsprechen. Ihre Beschäftigungsverhältnisse und ihr Erwerb beruhen häufig nicht auf unbefristeten Vollzeitarbeitsverhältnissen. Somit vollzieht sich ihre Arbeit oft in einem organisatorischen Umfeld, das weder der lohnabhängigen noch der selbständig unternehmerischen Tätigkeit entspricht.«

Auf der Basis ihrer damaligen Analysen hat gerade Günter Schmid dann den Gedanken der „Übergangsarbeitsmärkte“ entwickelt und weiter ausdifferenziert und am Ende ihrer Studie kommen die beiden zu einer Beschreibung der eigentlich erforderlichen Umbaumaßnahmen unserer sozialen Sicherungssysteme, die man heute – im Jahr 2014 – so gut wie eins zu eins neu abdrucken kann:

»Die Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen produktiven Tätigkeiten (bezahlt oder unbezahlt, abhängig oder selbständig) wählen zu können, ist eine weitere Anforderung an eine zeitgemäße Vollbeschäftigung. Vollbeschäftigung ist deshalb nicht als ein Zustand kontinuierlicher und abhängiger Vollzeiterwerbstätigkeit zu verstehen, sondern als ein fließendes Gleichgewicht, das eine Vielzahl von Beschäftigungsformen kennt und deren freie Wahl je nach Lebensumständen und wirtschaftlicher Lage ermöglicht. Die institutionelle Inszenierung von Übergängen zwischen verschiedenen Beschäftigungs- und Betätigungsformen sowie deren Absicherung durch ein erweitertes Arbeits- und Sozialrecht ist daher zentraler Bestandteil einer modernen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik« (Haak/Schmid 1999: 38).

An der Aufgabenzuschreibung für eine moderne Sozialpolitik aus dem Jahr 1999 hat sich nicht wirklich viel geändert. Im Jahr 2014.