Der Mindestlohn muss ante portas sein. Auch die Fleischindustrie will sich bewegen. Und wieder einmal Armutsflüchtlinge und unsichtbare Pflegekräfte

Ach, der Mindestlohn. Scheinbar ist jetzt auch die FDP, die letzte Bastion des vom Aussterben bedrohten Mittelstandes, auf den Pfad der sozialistischen Untugend eingeschwenkt, denn seit dem Parteitag vom letzten Wochenende plädiert auch diese Partei – wenn auch nur mit knapper Mehrheit beschlossen –  für die Möglichkeit, Lohnuntergrenzen einzuführen: in bestimmten Branchen und Regionen, wenn es denn nicht anders geht. Und trotz des vernehmlichen Grummelns in der eigenen Partei geht ein Teil des Führungspersonals in die Offensive und fordert die Union zu Verhandlungen auf, den Ansatz regional differenzierter Branchen-Lohnuntergrenzen noch vor der Bundestagswahl umzusetzen – wohl wissend, dass für ein solches Unterfangen die Zeit schon abgelaufen ist, aber der Union wird ein schöner Wahlkampftrumpf aus der Hand geschlagen, hatte die doch offensichtlich vor, auf die Mindestlohnforderungen von SPD und Grünen immer darauf hinweisen zu können, dass man ja auch Lohnuntergrenzen wolle, nur der kleine Koalitionspartner würde sich sträuben. Das wird jetzt schwieriger. 

Schwierig ist die ganze Materie sowieso. Nehmen wir als Beispiel die Friseure, die bei jedem guten Stück über Niedrigst- und Niedriglöhne auftauchen müssen – überraschend haben sich vor kurzem die Arbeitgeber und die Gewerkschaft zügig auf einen schrittweise einzuführenden Mindestlohn verständigt, der im Jahr 2015 die 8,50 Euro erreichen soll, wenn denn dieser Mindestlohn seitens der Politik für allgemeinverbindlich erklärt wird. Lisa Nienhaus betitelt das Vorhaben in der FAZ sogleich als Das Mindestlohn-Experiment und prognostiziert: »Viele Salons werden das nicht überleben.« Wenn man nun glaubt, darunter ist dann der gute Friseur um die Ecke, dann muss man schon ein Stück weit nach unten lesen in dem FAZ-Artikel, um das eingrenzen zu können: »Wenn der Mindestlohn funktioniert, wirkt er wie eine Art kollektive Preiserhöhung, wie ein Preiskartell. Und die ewigen Preisbrecher am unteren Rand, die die Kunden so lieben, werden ausgeschaltet.« Und weiter: »Die Ketten mit Preisen von 10 bis 15 Euro für den Schnitt werden Probleme bekommen«. Die Bewertung des Friseurs Michael Klier bringt es auf den Punkt: „All diejenigen, die ihre Dienstleistungen verramschen, werden jetzt Probleme bekommen“. Und das ist auch gut so – und wenn diese Preis- (und damit Lohndumping)-Anbieter vom Markt verschwinden, dann blutet sicher nur das Herz des autistischen Schnäppchenjägers.

»Es gibt knapp 80.000 Friseurbetriebe in Deutschland, etwa je 1.000 Einwohner einen. In den vergangenen zehn Jahren ist ihre Zahl um gut 20 Prozent gestiegen. Die Betriebe setzen knapp sechs Milliarden Euro um. Und Angst vor dem Mindestlohn hätten die meisten nicht, hieß es heute auf der Jahresversammlung des Zentralverbandes des Deutschen Friseurhandwerks in Bad Homburg. Im Gegenteil«, berichtet der Deutschlandfunk. Sorgen machen sich die ordentlichen Arbeitgeber nur zum einen über die, die versuchen werden, einen Mindestlohn nicht einzuhalten und zum anderen über die so genannten „Mikrobetriebe“: »Ihre Zahl schätzt der Zentralverband des Friseurhandwerks auf 20.000, Kleinstselbständige also in Form eins Ein-Mann-Unternehmens mit so niedrigen Umsätzen, dass sie keine Umsatzsteuer zahlen müssen …« Und darin liegt ein echtes Problem, wie der Hauptgeschäftsführer des Friseur-Verbandes, Rainer Röhr, erläutert: »Es ist ein Problem in den Großstädten, dass es eine Reihe von Betrieben gibt, dies sehr niedrige Preise anbieten, die das deshalb machen können, weil sie alleine tätig sind, weil sie einen Jahresumsatz haben, der so niedrig ist, dass sie keine Mehrwertsteuer bezahlen. Und dadurch haben sie schon einen 19-prozentigen Preisvorteil gegenüber den anderen Friseuren. Wir finden das wettbewerbsverzerrend.«

Da ist also noch einiges zu bearbeiten und man sollte sich in diesem Zusammenhang davor hüten, dem Mindestlohn eine Art „Wunderwaffen“-Wirkung zuzuschreiben, so wichtig er auch ist.
Und zuweilen  gibt es auch in den Untiefen der betrieblichen Realität immer wieder Situationen, die abweichen von den dem Soll. Darüber wird gerade in der Schweiz diskutiert: Im Gewerkschaftshotel verdient jeder Fünfte unter 4000 Franken, berichtet René Lenzin im Schweizer Tagesanzeiger: »Die Arbeitnehmerorganisationen besitzen mehrere Hotels in der Schweiz. Deren Angestellte erhalten teilweise tiefere Saläre, als die Gewerkschaften mit ihrer Mindestlohnkampagne fordern.« Das gibt natürlich keine gute Presse.

Ein gewichtiges Argument für die Mindestlohnbefürworter unter den Friseuren ist der Hinweis, dass viele von ihnen immer schwerer Auszubildende finden aufgrund der schlechten Bedingungen. Das mit dem Image ist so eine Sache – offensichtlich kann es für Bewegung sorgen. Von einer solchen berichtet auch Teresa Havlicek in ihrem Artikel Fleischindustrie tut was fürs Image. Konkret geht es hier um die niedersächsische Fleischindustrie, die seit geraumer Zeit ins Gerede gekommen ist aufgrund der katastrophalen Arbeitsbedingungen, die in den dortigen Betrieben aufgedeckt wurden. Die niedersächsische Landesregierung hat nun Vertreter der Schlachtindustrie zu einem ersten Gespräch geladen und einen Sieben-Punkte-Plan für bessere Arbeitsbedingungen aufgestellt. Hört sich löblich an, man wird diese Aktivitäten der neuen rot-grünen Regierung an den letztendlichen Ergebnissen messen müssen. Die Formulierungen im Artikel verweisen derzeit noch auf den Konjunktiv als vorherrschendes Muster:

»Demnach haben die beteiligten Unternehmen ihre Zustimmung für einen gesetzlichen Mindestlohn signalisiert … Die Unternehmen hätten ihre „grundsätzliche Bereitschaft“ erklärt, mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte einzustellen. Aufgeschlossen zeigten sie sich auch für die Gründung eines Arbeitgeberverbands als Verhandlungspartner für Politik und Gewerkschaften und für die Beteiligung an einer Beratungsstelle für ausländische Beschäftigte. „Offen“ sei die Wirtschaft auch für mehr Transparenz und Betriebskontrollen, hieß es.«

Man wird sehen, ob es mehr als Ankündigungen bleiben.

In diesem Zusammenhang darf die Leiharbeit nicht fehlen. Und hier haben die DGB-Gewerkschaften nach der Ausschaltung der so genannten „christlichen Gewerkschaften“ eigentlich ein starkes Pfund in der Hand, denn wenn sie einem Tarifvertrag mit den Leiharbeitsfirmen nicht (mehr) zustimmen würden, dann würde bald „equal pay“ gelten, denn das ist so im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorgesehen, wenn kein Tarifvertrag etwas anderes bestimmt. Aber: »Trotz wachsender innergewerkschaftlicher Kritik steht Verlängerung der DGB-Tarifverträge zur Leiharbeit offenbar unmittelbar bevor«, berichtet Daniel Behruzi in seinem Artikel Abschluss droht. Eine pikante Situation für die Gewerkschaften, denn:

»Wir fallen doch jetzt als Ausrede weg«, stichelte kürzlich der Bundesvorsitzende der »Christlichen Gewerkschaft Metall« (CGM), Adalbert Ewen, in einer Pressemitteilung. In der Tat hatten die DGB-Spitzen ihre Tarifverträge… stets mit den noch schlechteren Dumpingtarifen der »Christen« gerechtfertigt. Dennoch verhandeln IG Metall, IG BCE, ver.di und Co. nun über eine Verlängerung. »Wir haben uns 2012 mit den Branchenzuschlägen bewußt dafür entschieden, den tariflichen Weg weiterzugehen«, erläuterte Wolfgang Schaumburg, Leiter des Bereichs Tarifpolitik beim IG-Metall-Vorstand, in der Funktionärszeitschrift direkt. Das bestätigt die seinerzeit … geäußerte Kritik, die Zuschläge in der Metall-, Chemie- und Papierindustrie sowie einigen anderen Branchen dienten auch dazu, die Tarifverträge – und damit die Schlechterstellung der Leiharbeiter – zu erhalten.

Da wird das Lager der Kritiker innerhalb der Gewerkschaften aber was zu knabbern haben, wenn die Verhandlungsführer der Gewerkschaften jetzt trotz der Kritik einen Durchmarsch machen. Und sie werden sich in ihrer Kritik bestätigt fühlen, wenn sie Artikel wie diesen in der FAZ lesen müssen: »Vor der Agenda 2010 waren die Gewerkschaften eine tragende politische Kraft – danach nur noch eine Lobby für Arbeitsplatzbesitzer. Die Union weist ihnen wieder ihre alte Rolle zu.« Das soll weh tun.

Also wenn wir schon in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft angekommen sind, in denen sich sicherlich viele Leiharbeiter befinden, dann lohnt ein Blick auf die vor einigen Wochen erhitzt geführte Debatte über eine angebliche Invasion unseres Landes durch südosteuropäische Armutsflüchtlinge: Feindbild Armutsflüchtling, so ist ein Artikel überschrieben, der auf der Grundlage der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken im Bundestag konstatiert: Die Bundesregierung hat keine Beweise für angeblichen Sozialhilfetourismus:

»Soweit amtliche Zahlen vorliegen, deuten sie in eine ganz andere Richtung. Tatsächlich hat der Zuzug aus Bulgarien und Rumänien stark zugenommen. Knapp die Hälfte der hier lebenden 205000 Rumänen und 119000 Bulgaren kam in den letzten drei Jahren. Eine überdurchschnittliche Belastung der Sozialsysteme verursachen sie aber gerade nicht. Mit offiziell 9,6 Prozent ist die Arbeitslosigkeit unter ihnen deutlich niedriger als unter anderen Ausländern (16,4 Prozent). Die meisten Zuwanderer gehen nach Baden-Württemberg und Bayern, also dorthin, wo es mehr Arbeitsmöglichkeiten gibt.«

Etwas anders gestrickt ist da der Beitrag von Thomas Öchsner in der „Süddeutschen Zeitung“. Er schreibt: »Unbeschränkt arbeiten dürfen Bulgaren und Rumänen in Deutschland erst von 2014 an. Haben sie hier ihren Wohnsitz, dürfen sie aber bereits Kindergeld in Anspruch nehmen – und in Ausnahmefällen auch Hartz IV. Das machen immer mehr Armutsmigranten, oft mit der Hilfe von Schleppern.« Das Einfallstor ist also die „Selbständigkeit“, die eine Art Umgehungsstrategie zum derzeit noch bestehenden Arbeitsverbot für Bulgaren und Rumänen eröffnet:

»Bei der Stadt Mannheim heißt es dazu: Bei dem Anstieg der Gewerbeanmeldungen seit 2007 handele es sich in aller Regel „um scheinselbständige, eigentlich ausbeuterische abhängige Beschäftigungsverhältnisse“. Einen Job fänden die Menschen „überwiegend im Bau, Reinigungs- oder Verpackungsgewerbe“. Die Sozialverwaltung von Berlin-Neukölln merkt an, dass die Einkommen meistens nicht zur Existenzsicherung reichten und deshalb Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen bestehe.«

Abrunden kann man diese Reise durch die unteren Etagen mit einem Artikel aus der „taz“ über ein weiteres Phänomen, das in diesem Land gerne tot geschwiegen wird: »Immer mehr Polinnen arbeiten als Hilfspflegerinnen in deutschen Privathaushalten. Die Vermittlungsagenturen versprechen teilweise eine Betreuung rund um die Uhr – die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit sind für die Frauen fließend,«, so Barbara Dribbusch in ihrem Artikel Wenig eigenes Leben in der Fremde:

»Oft wechseln sich die Hilfspflegerinnen in einem Zwei- oder Dreimonatsrhythmus mit einer Kollegin und Landsmännin ab, denn: nur die freie Zeit in der Heimat werde von den Frauen als „das eigene Leben angesehen“, heißt es in einer Studie der Hochschule St. Georgen zu „ausländischen Pflegekräften in Privathaushalten“ … Viele der Betreuerinnen aus Osteuropa arbeiten schwarz. Etwas über 4.000 Hilfskräfte aus Polen sind in Privathaushalten direkt legal angestellt. Betreuerinnen kommen ansonsten legal über polnische Zeitarbeitsfirmen, die mit hiesigen Agenturen kooperieren und ihre Betreuungskräfte nach Deutschland entsenden. Viele verdienen dabei mit: Bekommt eine Hilfspflegekraft netto 1.000 Euro monatlich, muss der Kunde in Deutschland um die 1.800 Euro an die polnische Leiharbeitsfirma zahlen. Die Kunden haben zusätzlich noch einige hundert Euro jährlich an Gebühren für die deutsche Vermittlungsagentur zu berappen. Kost und Logis müssen für die Betreuerin frei sein. Die Zeitarbeitsfirma in Polen entrichtet die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern nach polnischem Recht.«

»Es sei aber immer schwieriger, Betreuerinnen in Polen zu rekrutieren, erklärt Katarzyna Jedrzejek von Aterima med, einer Leiharbeitsfirma in Krakau, der taz. Viele der Betreuerinnen wollten lieber schwarzarbeiten, weil sie hofften, damit mehr zu verdienen.«

Auch das ist eine Realität in unserem Land, über die viel zu selten gesprochen wird. Weil es letztendlich wir sind, die von dem Wohlstandsgefälle profitieren. Noch.