Gefangene Minijobberinnen, beunruhigte Betriebsräte, ans Tageslicht gezogene Werkverträge und ein sisyphushaftes Geschäft namens Inklusion

Auf dem Arbeitsmarkt – oder sagen wir genauer: in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes – liegt einiges im Argen: Die anhaltenden Debatten über Leiharbeit, Werkverträge und auch über die Minijobs  verdeutlichen, dass hier eine Menge Druck ist im Kessel. Die „Minijobs“, landläufig auch als „400-Euro-Jobs“ bzw. seit dem Jahresbeginn „450-Euro-Jobs“ bezeichnet, wurden diese Tage erneut in der Medienberichterstattung thematisiert, so durch einen Artikel von Thomas Öchsner in der „Süddeutschen Zeitung“: Gefangen bei 450 Euro, so hat er seinen Beitrag überschrieben. „Lebenslange ökonomische Ohnmacht und Abhängigkeit“: Fast fünf Millionen Menschen haben nur einen oder zwei Minijobs – die meisten davon sind Frauen. Eine Studie zeigt nun: Die Aussichten auf eine reguläre Teilzeit- oder Vollzeitstelle sinken im Lauf der Jahre immer mehr. 

Öchsner bezieht sich in seinem Artikel auf eine neuere, vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene Studie zum Thema Minijobs, die sich besonders mit den Auswirkungen auf Frauen auseinandersetzt, die bekanntlich die Mehrheit der geringfügig Beschäftigten stellen:

BMFSFJ: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013 >> PDF

Diese Studie – die allerdings schon seit November 2012 auf der Website des Ministeriums eingestellt ist, ohne das über sie seitens des Schröder-Hauses mit einer eigenen Pressemitteilung berichtet oder gar geworben wurde – ist von Carsten Wippermann erstellt worden, eine Zusammenfassung der wichtigsten Befunde findet sich in einem Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“. Auch in der „taz“ berichtet Barbara Dribbusch unter der Überschrift Vom Partner abhängig. In einem Kommentar zum Thema unter dem Titel Stigma am Arbeitsmarkt schreibt Thomas Öchsner: „Kein bezahlter Urlaub, kein Lohn im Krankheitsfall und keine Brücke in reguläre Anstellungen: Minijobs haben die ihn sie gesetzte Hoffnung nicht erfüllt. Doch die Bundesregierung ignoriert die Fakten und erhöht stattdessen die steuerfreie Verdienstgrenze.“
Parallel zu der aktuellen Berichterstattung wurde eine vom nordrhein-westfälischen Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) in Auftrag gegebene Studie zu den „Minijobs“ veröffentlicht, die vom RWI in Essen erstellt worden ist:

RWI: Studie zur Analyse der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, Essen, Dezember 2012 >> PDF

Die geringfügige Beschäftigung spielt in einigen Branchen eine große Rolle – man denke hier nur an den Einzelhandel oder den Hotel- und Gaststättenbereich. Schaut man zurück auf die Entstehungsgeschichte der Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung, dann stößt man unweigerlich auf die Vorschläge der „Hartz-Kommission“ aus dem Jahr 2002, die das vorgeschlagen hatte – allerdings mit dem Fokus auf private Haushalte als Arbeitgeber. Die Kommission erhoffte sich damals eine spürbare Legalisierung der vielen offiziell nicht angemeldeten Beschäftigten im Bereich der „haushaltsnahen Dienstleistungen“. Und tatsächlich hat es seit damals auch einen Schub an offiziell angemeldeten Haushaltskräften gegeben, wenngleich auch heute noch in diesem Bereich die Regel eine Beschäftigung in der Schattenwirtschaft ist bzw. – das haben die neuen Studien auch zeigen können – eine legale Beschäftigung als Minijobber und weitere Vergütungsbestandteil schwarz on top.

In der „taz“ wurde in einem Artikel die Perspektive des privaten Haushalts als Arbeitgeber einer Minijobberin vorgestellt: Es fühlt sich gut an – jedenfalls im Haushalt, so ist der Beitrag überschrieben: „Wer Minijobs schafft, muss kein Ausbeuter sein: ein kleiner Erfahrungsbericht“. Sehr relevant sind die Minijobs gerade auch im Einzelhandel. Hierzu gibt es ein Interview mit Heribert Jöris, Geschäftsführer beim Handelsverband Deutschland (HDE) mit der klaren Aussage: Minijobber „sind unser Flexibilitätspotenzial“. Insofern kann es nicht überraschen, dass die Ausweitung der Minijobs im Einzelhandel durchaus in einem Zusammenhang steht mit der enormen Ausweitung der Ladenöffnungszeiten, die man personalpolitisch abdecken muss.

Aber nicht nur die geringfügige Beschäftigung macht Sorgen – immer wieder und zunehmend kritischer wird über die Leiharbeit berichtet. Auch hier sind die Zahlen in den vergangenen Jahren explodiert – von 300.000 zu Zeiten der „Hartz-Kommission“ auf nunmehr weit über 900.000. Aus Bremen berichtet die dortige Arbeitnehmerkammer: Betriebsräte sind besorgt: „Düstere Zukunftsprognosen und immer mehr Leiharbeiter: Die aktuelle Betriebsrätebefragung der Arbeitnehmerkammer liegt vor.“ Mittlerweile werden in 57% der Betriebe Leiharbeiter eingesetzt. „In Bremerhaven hat sich der Anteil von LeiharbeiterInnen vorwiegend im Bereich der Offshore-Windenergie-Branche seit 2003 mehr als verdreifacht.“ Außerdem wird beobachtet, dass Leiharbeiter immer öfter länger als ein Jahr beschäftigt werden, was problematisch ist, wenn man denn davon ausgeht, dass Leiharbeit der Überbrückung von Personalengpässen oder der Abfederung von Produktionsspitzen dienen soll.

Wenn man über Leiharbeit berichtet, dann darf in dieser Zeit der Name Amazon nicht ausgespart werden. Nachdem sich die erste Aufregungswelle im Gefolge einer ARD-Dokumentation über den Einsatz von Leiharbeitern bei Amazon wieder gelegt hat, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“: Amazon will Leiharbeit vor Gericht durchdrücken: „Der Betriebsrat sperrt sich, Amazon klagt: Der Konzern will Leiharbeiter der umstrittenen Firma Trenkwalder weiter beschäftigen. Die Arbeitnehmervertreter stoppten das. Jetzt geht der Streit vor Gericht. Die Bundesregierung erklärt unterdessen Informationen über Trenkwalder zur Geheimsache.“ Besonders nachdenklich muss einen der folgende Passus stimmen:

„Für die Arbeitsbedingungen bei Amazon interessierte sich auch Beate Müller-Gemmeke, in der Bundestagsfraktion der Grünen Sprecherin für Arbeitnehmerrechte. Sie hatte bei der Bundesregierung nachgefragt, wie oft die Bundesagentur für Arbeit Trenkwalder überprüft hat. Doch die Antwort bleibt Geheimsache. Was öffentlich gemacht wurde, sei „Pillepalle“, sagte Müller-Gemmeke SZ.de. Um mehr Informationen zu bekommen, musste sie in die Geheimschutzstelle, jenen gesicherten Raum im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages, in dem Abgeordnete Dokumente einsehen, aber nicht kopieren oder fotografieren dürfen. Hier landen als vertraulich eingestufte Dokumente. Müller-Gemmeke darf nicht darüber reden, was sie dort gesehen hat. Begründung der Regierung: „Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse“ seien betroffen.“

Während der Streit über eine Re-Regulierung der Leiharbeit schon seit längerem die Politik erreicht hat und neben rechtlichen Veränderungen und der Einführung eines Branchenmindestlohns auch neue tarifliche Entwicklungen wie die Implementierung von Zuschlägen in bestimmten Branchen wie beispielsweise der Metall- und Elektroindustrie mit dem Ziel einer schrittweisen Annäherung an „equal pay“ zu beobachten sind, die allesamt zu einer Verteuerung der bisherigen Leiharbeit führen, scheinen sich auf einem Teil des Arbeitsmarktes bereits neue Verwerfungen zu zeigen, Stichwort: Werkverträge als neue Runde im Lohndumping. Zu diesem Thema hat es vor kurzem ein Symposiumim Bundesarbeitsministerium gegeben, nach dem sich die Berichte häufen, dass zunehmend Werkverträge eingesetzt werden, um die Regulierungen bei der Leiharbeit zu unterlaufen. Ein komplexes Thema, denn Werkverträge finden wir als Instrument der Vertragsgestaltung in vielen Bereichen des täglichen Lebens, wo sie auch unproblematisch sind bzw. sein können. Letztendlich geht es um die missbräuchliche Inanspruchnahme des Instrumentariums Werkvertrag, mit einer sehr fließenden Grenze in Richtung illegale Arbeitnehmerüberlassung. Zumindest scheint man sich nach längerem Negieren, dass es überhaupt ein Problem gibt, nunmehr in der Politik und im zuständigen Ministerium dahingehend zu bewegen, dass man bereit ist, über bestimmte Regulierungen nachzudenken, wenn man auch noch lange nicht soweit ist, wie die „Welt Online“ ihren Beitrag dazu überschrieben hat: Betriebsräte sollen bei Werkverträgen mitreden: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen will den Missbrauch von Werkverträgen eindämmen. Dazu sollen die Bundesagentur für Arbeit und Betriebsräte mehr Kontrollrechte erhalten, so Flora Wisdorff. Die Bundesarbeitsministerin wird mit den deutlichen Worten zitiert: „Eine hochflexible Wirtschaft wie die deutsche braucht Werkverträge, aber sie dürfen nicht als neues Schlupfloch für Lohndumping missbraucht werden“. Und weiter: “ Die Ministerin will nun die Kontrollrechte der Bundesagentur für Arbeit und die der Betriebsräte ausweiten und andere Schlupflöcher bei den Zeitarbeitsfirmen, die auch Werkverträge anbieten, stopfen.“ Die empörte Reaktion der Arbeitgeber kann da nicht lange auf sich warten lassen: Neue Rechte für Betriebsräte verärgern Arbeitgeber.

Jetzt aber genug mit dem Arbeitsmarkt – in der Sozialpolitik gibt es auch noch andere Großbaustellen. Da wäre beispielsweise eines dieser neuen Megathemen der vor uns liegenden Jahre: Inklusion. In Folge der notwendigen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention fokussiert die Inklusionsdebatte in Deutschland derzeit vor allem auf den Schulbereich – obgleich es sich um ein umfassendes Konzept der durchgängigen Teilhabeherstellung für Menschen mit Behinderungen handelt, also beispielsweise genau so relevant ist für den Bereich der Erwerbsarbeit (vgl. hierzu beispielsweise den Fernsehbeitrag Inklusion im Betriebdes WDR-Politikmagazins Westpol). In der Schuldebatte geht es vor allem um die (Nicht-)Zukunft des Förderschulsystems in Deutschland im Sinne einer weitreichenden Inklusion der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen in das Regelschulsystem. Hier gibt es vielfältige Aktivitäten in den Bundesländern.

Aufhorchen lässt ein Artikel, der auf „bildungsklick.de“ veröffentlicht worden ist: Doppelsystem aus Regelschulen und Förderschulen bleibt, in dem über einen neue Studie berichtet wird, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt worden ist. Danach zeigt sich ein auf den ersten Blick paradoxer Befund:

„Die Inklusion im deutschen Schulsystem kommt voran, ohne dass allerdings die Sonderschulen an Bedeutung verlieren. Inzwischen besucht zwar jeder vierte Schüler mit Förderbedarf eine reguläre Schule. Seit Deutschland sich vor vier Jahren verpflichtet hat, Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten, ist der Inklusionsanteil damit bundesweit um ein Drittel (von 18,4 auf 25 Prozent) gestiegen. Dies hat jedoch nicht dazu geführt, dass weniger an Sonderschulen unterrichtet wird. Denn bei immer mehr Schülern wird sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert. Der Anteil der Sonderschüler an der gesamten Schülerschaft bleibt dadurch nahezu konstant. Das geht aus einer aktuellen Studie von Bildungsökonom Professor Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hervor.“

Klaus Klemm zeigt sich skeptisch: „Solange das Doppelsystem aus Regel- und Förderschulen in der heutigen Form besteht, ist erfolgreiche Inklusion schwierig, weil die Förderschulen jene Ressourcen binden, die dringend für den gemeinsamen Unterricht benötigt werden“. Bernd Kramer schreibt in seinem Beitrag Sonderschulen bleiben vollin der „taz“ zu der Studie: „6,4 Prozent aller SchülerInnen in Deutschland besuchen eine Förderschule, im Jahr 2000 waren es nur 4,6 Prozent …  Inklusion geschieht vor allem dadurch, dass man mehr Kinder als FörderschülerInnen deklariert und nicht dadurch, dass Sonderschulen geschlossen würden. Zu dieser Vermutung passen die Befunde, die der Berliner Pädagogikprofessor Ulf Preuss-Lausitz vor einigen Tagen präsentierte. Demnach werden verstärkt die eher „weichen“ Behinderungen diagnostiziert. Im Jahr 2001 wurde 0,4 Prozent aller SchülerInnen ein „emotionaler und sozialer Förderbedarf“ attestiert. Im Jahr 2010 hatte sich der Anteil verdoppelt.“

Wie kann es dazu kommen? Die Antworten von Klaus Klemm auf diese Frage zeigen, dass es derzeit vor allem Fragen gibt:

„Schulen werben über zusätzliche Inklusionskinder Ressourcen ein“, sagt Klemm. „Es kann sein, dass sie deswegen geneigter sind, einen sonderpädagogischen Förderbedarf zu diagnostizieren.“ Eine andere Erklärung: Schulen waren in ihrer Förderdiagnose früher möglicherweise zurückhaltender, weil sie Kinder vor dem Wechsel auf eine Sonderschule bewahren wollten.

Und auch der folgende Passus sollte zum Nachdenken anregen: „Dass in vielen Fällen keineswegs eindeutig ist, was als Behinderung gilt und was nicht, zeigt auch der Ländervergleich. In Mecklenburg-Vorpommern gelten 10,9 Prozent aller Schüler als förderbedürftig. In Rheinland-Pfalz sind es dagegen nur 4,9 Prozent.“ Das sind allerdings erhebliche Diskrepanzen, die mehr als erklärungsbedürftig sind. Auf die erheblichen Unterschiede zwischen den Bundesländern verweist auch der Beitrag Förderung ist Glückssache: „Während in Niedersachsen im Schuljahr 2011/12 nur 11,1 Prozent der SchülerInnen mit Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen integriert unterrichtet wurden, waren es in Bremen 55,5. In Schleswig-Holstein waren es 54,1 Prozent. Der Stadtstaat Hamburg holte in den letzten Jahren auf und landete im Schuljahr 2011/12 bei 36,3 Prozent.“ Ein großer Flickenteppich. Aber so kennen wir das in unserem Bildungs(nicht)system.