Das „Starke-Familien-Gesetz“: Zwischen semantischen Kapriolen des Gesetzgebers und sicher gut gemeinten bürokratischen Verbesserungs-Klimmzügen

Die einen werden sagen, man kann es aber auch nie richtig machen: Da werden die Juristen für ihre zumeist sehr technokratisch daherkommenden Gesetzgebungswortungetüme kritisiert. Versuchen sie es hingegen in Umsetzung eines entsprechenden politischen Verlangens mit semantischen Höhepunkten einer (scheinbar) „Nah an den Leuten“-Wortwahl und generieren ein „Gute-Kita-Gesetz“ und kurz darauf ein „Starke-Familien-Gesetz“, dann werden sie auch wieder kritisiert, zumindest aber wird kübelweise Spott ausgegossen und von einer Infantilisierung ist die Rede. Was kommt als nächstes? Ein „Gutes-Diesel-Gesetz“ für die von Fahrverboten und einer sich in die Büsche schlagenden Automobilindustrie geplagten Diesel-Fahrer in diesem Land? Wird das „Gute-Gesetzgebungs-Gesetz“ den absoluten Höhepunkt darstellen?

Aber bleiben wir bei den Fakten: Das „Starke-Familien-Gesetz“ ist ja nur die Wohlfühl-Etikette, die man in den öffentlichen Ring geworfen hat, die „richtige“ Bezeichnung des Gesetzentwurfs, der vom Kabinett bewilligt wurde und nun in den weiteren Gesetzgebungsprozess eingespeist wird, geht so: „Gesetz zur zielgenauen Stärkung von Familien und ihren Kindern durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe (Starke-Familien-Gesetz – StaFamG)“. Das hört sich nun schon weniger simpel an. 

Wer sich den Entwurf im Original anschauen möchte, wird hier fündig:

➔ Entwurf eines Gesetzes zur zielgenauen Stärkung von Familien und ihren Kindern durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe (Starke-Familien-Gesetz – StaFamG), Stand: Kabinettsbeschluss vom 09.01.2019

Die beiden sozialdemokratischen Bundesminister Hubertus Heil (Arbeit) und Franziska Giffey (Familie) haben den Entwurf gemeinsam in das Kabinett  eingebracht: »Der Kinderzuschlag wird neu gestaltet, zugleich werden die Leistungen für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche verbessert«, kann man auf der Webseite des BMAS unter der vielversprechenden Überschrift Mehr Unterstützung für Familien mit kleinen Einkommen lesen. Und die Bundesfamilienministerin Giffey wird mit diesen Worten zitiert: Das »im Entwurf beschlossene Gesetz wird das Leben von Familien mit Kindern spürbar verbessern, in denen das Geld trotz Arbeit knapp ist. Wir erhöhen damit den Zuschlag zum Kindergeld und machen ihn leichter zugänglich. Für zwei Millionen Kinder in Deutschland wird künftig ein Anspruch auf Kinderzuschlag bestehen. Und: Wer den Kinderzuschlag dann bezieht, wird überall in Deutschland von den Kitagebühren befreit und kann Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket beziehen. Das bedeutet, dass deutlich mehr im Portemonnaie der Familien bleibt und Arbeit sich lohnt.«

Und auch der Bundesarbeitsminister Heil will mit positiven Botschaften glänzen: »Mit dem Starke-Familien-Gesetz verbessern wir die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes und schaffen somit konkrete Lösungen für den Alltag der Eltern und ihrer Kinder: Wir erhöhen im kommenden Schuljahr das Schulstarterpaket auf 150 Euro pro Schuljahr und befreien Familien von den Eigenanteilen für das gemeinschaftliche Mittagessen und der Schülerbeförderung. Darüber hinaus übernehmen wir die Kosten für Schülerfahrkarten des öffentlichen Nahverkehrs. Und: Nachhilfeunterricht kann zukünftig auch dann genutzt werden, bevor die Versetzung gefährdet ist.«

Es geht also um partielle Verbesserungen oder „Optimierungen“ innerhalb von zwei Wurmfortsätzen des bestehenden vielgestaltigen bzw. unübersichtlichen Systems einzelner Teilleistungen rund um das Existenzminimum der Kinder und Jugendlichen. Das von Bundesarbeitsminister Heil (SPD) angesprochene „Bildungs- und Teilhabepaket“ ist eine Leistung, die vor Jahren entstanden ist aus der Abwehr einer generellen Anhebung der Hartz IV-Geldleistungen für Kinder und Jugendlichen, die sich eigentlich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Regelbedarfe in der Grundsicherung vom 9. Februar 2010 ergeben hätte. Seitdem ist die besondere Art und Weise der Umgehung immer wieder Gegenstand heftiger Kritik gewesen (vgl. nur als ein Beispiel aus der langjährigen Kritik den Beitrag Aus den Untiefen einer kleingeschredderten Sozialpolitik: Das „Bildungs- und Teilhabepaket“ und ein einsames Cello bereits vom 14. September 2013). Die BuT-Leistungen werden nicht nur angesichts der teilweise hanebüchenen Bürokratiekosten kritisiert, sondern auch hinsichtlich der offensichtlichen Zielverfehlung, wenn man sich anschaut, wie viele (nicht) erreicht werden.

Dazu hat der Paritätische Wohlfahrtsverband im September 2018 eine Kurzexpertise veröffentlicht:
➔ Paritätische Forschungsstelle (2018): Empirische Befunde zum Bildungs- und Teilhabepaket: Teilhabequoten im Fokus. Kurzexpertise Nr. 4/2018, Berlin: Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband, 18. September 2018

Die Befunde sind mehr als ernüchternd. Um nur ein Beispiel zu zitieren: »Die Paritätische Forschungsstelle legt nun mit eigenen Berechnungen auf Grundlage amtlicher Daten aktuelle empirische Befunde zur Umsetzung der Teilhabeleistungen für die Altersgruppe der 6 bis 15-jährigen im SGB II vor. Dabei wird deutlich, dass mindestens 85 % der grundsätzlich Leistungsberechtigten nicht von dieser Leistung profitieren. Die Daten offenbaren überdies drastische regionale Unterschiede in der Umsetzung des bundesgesetzlich normierten und kommunal administrierten Rechtsanspruchs.«

Und damit im Zusammenhang stehen auch die nunmehr geplanten Verbesserungen beim „Kinderzuschlag“. Das ist eine dieser so typischen „Lückenfüller“-Leistungen. Zeil des Kinderzuschlags ist es, zu verhindern, dass Eltern, die mit ihrem niedrigen Einkommen gerade oberhalb der Hartz IV-Schwelle liegen, nicht zu Grundsicherungsempfängern werden zu lassen, „nur“ weil sie ein Kind oder mehrere Kinder haben, deren (nicht gedeckte) Bedarfe dass dann zur Folge hätten. Also gibt es für das Kind bzw. die Kinder einen Schlag drauf. Es handelt sich um einen einkommensabhängigen Zuschlag zum Kindergeld (was wiederum auf das eigentliche Problem verweist), die Leistung beträgt “ bis zu 170 Euro monatlich“ und wird in der Regel für sechs Monate bewilligt.

Was bringt nun das „Starke-Familien-Gesetz“? »Zum 1. Juli 2019 wird der Kinderzuschlag auf 185 Euro pro Kind und Monat erhöht«, so das BMAS in seiner Pressemitteilung zum Gesetzentwurf. »Damit wird das durchschnittliche Existenzminimum eines jeden Kindes gesichert – zusammen mit dem Kindergeld und den Leistungen für Bildung und Teilhabe.« Das hört sich gut an, wenn denn Bildungs- und Teilhabeleistungen bezogen werden und wenn denn der Kinderzuschlag beantragt wird. Insofern muss man bei den Erfolgsmeldungen immer auch genau auf die Formulierung achten: »Durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags erhalten rund 1,2 Millionen mehr Kinder erstmalig einen Anspruch auf zusätzliche Unterstützung zum Kindergeld. Mit dem Kinderzuschlag haben sie auch Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe sowie auf eine beitragsfreie Kita-Zeit durch das Gute-KiTa-Gesetz.« Einen Anspruch erhalten sie. »Vom Starke-Familien-Gesetz können insgesamt vier Millionen Kinder profitieren, davon allein zwei Millionen vom Kinderzuschlag.« Können sei hier unterstrichen.

Aber schon die Pressemitteilung öffnet einen Blick in die bürokratischen Tiefen bzw. Untiefen: Die Neuregelung beim Kinderzuschlag werde dafür sorgen, »dass Einkommen des Kindes, wie z.B. Unterhalt, den Kinderzuschlag nicht mehr so stark wie bisher mindert. Damit wird der Kinderzuschlag für Alleinerziehende geöffnet; rund 100.000 Kinder in alleinerziehenden Familien werden davon profitieren.« Und weiter: »Damit die Leistung dort ankommt, wo sie gebraucht wird, wird der Antragsaufwand für Familien deutlich einfacher: Der Zuschlag wird in Zukunft für sechs Monate gewährt und nicht mehr rückwirkend überprüft.« Die Bundesagentur für Arbeit informiert allerdings darüber, dass heute schon gilt: »Kinderzuschlag wird normalerweise für sechs Monate bewilligt.«

Was das neue Gesetz wirklich bedeuten wird auf der Aufwandsseite, kann man der Übersicht zu den wesentlichen Änderungen durch das Starke-Familien-Gesetz von Johannes Steffen entnehmen. Nur ein Beispiel zum Kinderzuschlag (KiZu):

»Künftig deckt der monatliche Höchstbetrag des KiZu zusammen mit dem für ein erstes Kind zu zahlenden Kindergeld (KiG) ein Zwölftel des steuerfrei zu stellenden sächlichen Existenzminimums (E-Minimum) eines Kindes (lt. Existenzminimumbericht der Bundesregierung) für das jeweilige Kalenderjahr – unter Abzug des Anteils für Bildung und Teilhabe (BuT). Steht das E-Minimum eines Kindes zu Beginn des Jahres nicht fest, ist der für das Jahr geltende Betrag für den Mindestunterhalt eines Kindes in der zweiten Altersstufe (lt. Mindestunterhaltsverordnung) maßgeblich. – Als Höchstbetrag des KiZu in dem jeweiligen Kalenderjahr gilt der Betrag, der sich zu Beginn des Jahres ergibt, mindestens jedoch ein Betrag in Höhe des Vorjahres. – Für einen Übergangszeitraum (01.07.2019 bis 31.12.2020) beträgt der monatliche Höchstbetrag des KiZu 185 Euro.
Zu berücksichtigendes Einkommen des Kindes (bspw. Unterhalt oder Unterhaltsvorschuss) mindert den Höchstbetrag des KiZu um 45 Prozent (bisher: 100 Prozent) – soweit dadurch nicht mehr als 100 Euro monatlich vom Kindeseinkommen unberücksichtigt bleiben; d.h.: soweit das Einkommen des Kindes rd. 180 Euro erreicht, wird das darüber hinausgehende Einkommen weiterhin voll angerechnet.«

Das geht jetzt noch weiter. Aber als erster Eindruck mag es ausreichend sein, warum die fleißigen und sicher um Verbesserungen bemühten Gesetzgeber mit einer solchen Presse konfrontiert werden: »Von Sozialverbänden kommt Kritik«, kann man diesem Artikel entnehmen: Der Kampf gegen Kinderarmut – und die Bürokratie: »Vielen Sozialverbänden gehen die Änderungen nicht weit genug. „Es fehlt der große Wurf und eine Gesamtstrategie“, beklagt der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerk, Holger Hofmann. Er sieht nur „kleinschrittige Verbesserungen“. Ihn stört, dass es noch immer keine seriösen Berechnungen dazu gibt, wie viel ein Kind für Versorgung, soziale Teilhabe und Bildung benötige.«

»Der Kinderzuschlag gilt als sozialdemokratisches Lieblingsprojekt der Familienpolitik. Als fast letzte Amtshandlung wurde er 2005 von der damaligen Familienministerin Renate Schmidt auf den Weg gebracht, später erhöhte ihn Ministerin Manuela Schwesig, die heutige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, von 140 auf 170 Euro. Die Wirksamkeit ist aber fraglich. „Bürokratiemonster“, nennen Kritiker den Zuschlag. Die Zahlen verdeutlichen dies: Derzeit haben etwa 800.000 Kinder Anspruch auf die Leistung, doch sie kommt nur bei gut 30 Prozent an. Die anderen scheitern an der Bürokratie oder versuchen es gar nicht erst. Mit dem neuen Gesetz soll sich die Zahl der Anspruchsberechtigten auf zwei Millionen erhöhen. Doch ob sich dadurch auch die Zahl der tatsächlichen Bezieher erhöht, ist fraglich.« „Wer versiert darin ist, Anträge zu stellen, der wird deutliche Verbesserungen spüren. Viele andere Menschen werden aber leer ausgehen“, so die Prognose von Holger Hoffmann vom Deutschen Kinderhilfswerk. »Er fordert eine zentrale Anlaufstelle für bedürftige Familien. Derzeit müssen die verschiedenen Nachweise für die Bearbeitung des Kinderzuschlags bei Jobcenter, Jugendamt und Co. separat eingeholt und eingereicht werden.«

»Auch Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, kritisiert das „Starke-Familie-Gesetz“ als „Propaganda-Überschrift“, weil es weiter ein Bürokratiegesetz bleibe. Selbst Mitarbeiter in den Ämtern bräuchten für die Bearbeitung der Anträge spezielle Lehrgänge.«

»Die Grundidee des Kinderzuschlags ist richtig. Doch viele Eltern scheitern schon am 23 Seiten langen Merkblatt«, so Cordula Eubel in ihrem Kommentar Kinderarmut muss man mit weniger Bürokratie bekämpfen. Auch sie weist darauf hin, »dass der Zugang zum höheren Zuschlag schwierig ist. Nicht alle Familien, die ihn nötig hätten, profitieren davon. Laut Schätzungen bekommt nur ein Drittel der Berechtigten die Unterstützung.« Und mit Blick auf die Zeit nach der letzten Bundestagswahl: »Bei den Jamaika-Sondierungen nach der letzten Bundestagswahl war … eine Idee der Grünen in der Diskussion, nach dem die Familienkassen die Leistung automatisch ausgezahlt hätten, wenn die Voraussetzungen vorliegen.«

»Giffey und Heil wollen mit ihrem „Starke-Familien-Gesetz“ eine Menge richtiger Dinge – und bleiben doch in einem Reparaturmodus. Auf Dauer reicht das nicht«, meint Henrike Roßbach unter der Überschrift Kinder gehören nicht ins Hartz-IV-System. Zu den „richtigen Dingen“ schreibt Sie: »Einige bürokratische Irrsinnsvorschriften wie der eine Euro am Tag, den Familien bislang beisteuern mussten zum ansonsten verbilligten Schulessen für ihre Kinder, fallen weg. Auch dass für Alleinerziehende nicht länger jeder Euro Unterhalt gleich einen Euro weniger Kinderzuschlag bedeutet, ist überfällig. Und die Skurrilität, dass mehr Arbeit und dadurch ein etwas höheres Einkommen dazu führen können, dass Familien am Ende weniger Geld zur Verfügung haben als vorher – weil der Kinderzuschlag sofort wegfällt -, hätte schon viel früher abgeschafft gehört.«

Und dennoch bleibt der schale Geschmack einer dieser vielen sicher gut gemeinten Operationen im Reparaturmodus: »Sie bewegen sich innerhalb der bestehenden Ordnung, die mit Blick auf die soziale Absicherung von Kindern jedoch falsch konstruiert ist. Der Ausgangsfehler ist, dass Kinder eigentlich nicht ins Hartz-IV-System gehören. Denn das dreht sich in seinem Kern um Arbeitslosigkeit, Qualifizierung und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Das ist kein Kosmos für Kinder. Aus diesem Ur-Mangel heraus ergeben sich viele weitere Mängel, die oft nur mit detailreichen und bürokratischen Konstrukten leidlich geheilt werden können – vom Kinderzuschlag bis zum Gutschein für die Mitgliedschaft im Sportverein. Die Lösung wäre eine eigene Grundsicherung für Kinder«, so Roßbach, um dann sogleich an dieser Stelle vor der eigenen Radikalität zu erschrecken bzw. die Einwandslawine der Bedenkenträger vorwegzunehmen: »Noch aber gibt es dafür kein wirklich zu Ende gedachtes Konzept … Was passiert, wenn sich durch eine hohe Kindergrundsicherung schon bei zwei oder drei Kindern Arbeit selbst für Eltern mit mittleren Einkommen nicht mehr lohnt?«

Dass es durchaus Konzepte gibt, sei hier nur angemerkt und beispielsweise auf solche Beiträge hingewiesen: Ein längsschnittiger Zahlen-Blick auf arme Kinder, die in armen Familien leben. Und was man tun könnte oder sollte vom 23. Oktober 2017. Ob man das nun Teilhabegeld nennt oder die von einem Bündnis präferierte Kindergrundsicherung als Bezugspunkt nimmt – an Systemalternativen mangelt es nicht wirklich. Und offensichtlich hat man auch in der SPD, deren beide Minister das „Starke-Familien-Gesetz“ derzeit als ihren Erfolg zu promovieren versuchen, ein „schlechtes Gewissen“ dergestalt, dass es eigentlich eines ganz anderen Sprungs erfordern würde: »Die SPD will bislang bestehende Sozialleistungen und steuerliche Förderungen für Familien bündeln – und durch eine einzige Transferleistung in Höhe von 620 Euro ersetzen«, kann man dieser Meldung entnehmen: SPD fordert eigenständige Kindergrundsicherung.

Man darf gespannt sein, was die kommenden Wochen und Monate auf diesem Feld noch bringen werden.