Die Einwanderung der einen ist die Auswanderung der anderen: Osteuropa als (bisheriger) Arbeitskräftelieferant

Es wird wieder viele sozialpolitisch relevanten Themen im neuen Jahr geben – und darunter befindet sich auch eine zum Jahresende konkretisierte Gesetzgebung in einem hoch umstrittenen Bereich: Das von der Bundesregierung als Entwurf vorgelegte Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) wird uns noch erheblich beschäftigen. Zum einen, weil man tatsächlich einen Paradigmenwechsel der Einwanderungspolitik konstatieren kann, zum anderen aber stellen sich zahlreiche Folgefragen mit Blick auf das, was da ermöglicht werden soll. Das federführende Bundesinnenministerium informiert uns so: »Durch den Gesetzentwurf … werden die Regelungen für den Aufenthalt und die Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaat dem wirtschaftlichen Bedarf entsprechend gezielt geöffnet sowie neu systematisiert und insgesamt klarer und transparenter gestaltet. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz führt erstmals einen einheitlichen Fachkräftebegriff ein: Fachkräfte sind sowohl Hochschulabsolventen als auch Beschäftigte mit einer qualifizierter Berufsausbildung. Liegt ein Arbeitsvertag vor, können Fachkräfte künftig ohne Vorrangprüfung einreisen. Die Arbeitsplatzsuche wird für Fachkräfte mit Berufsausbildung analog zur Regelung für Hochschulabsolventen neu vorgesehen. Voraussetzung ist insbesondere, dass die Fachkraft über deutsche Sprachkenntnisse verfügt, die der angestrebten Tätigkeit entsprechen, und ihren Lebensunterhalt während der Suche eigenständig sichern kann … Schließlich enthält der Entwurf auch eine neue Beschäftigungsduldung mit klaren Kriterien für gut integrierte Geduldete sowie Anpassungen zur einheitlichen Anwendung der Ausbildungsduldung und deren Ausweitung auf staatliche anerkannte Helferausbildungen.«

Weniger technokratisch die Rezeption in einem Teil der Medien. So jubelt Mathias Oberndörfer unter der Überschrift Mit dem FEG stellt Deutschland die Weichen für die Zukunft: »Deutschland fehlen Fachkräfte. Verstärkung kann nur aus dem Ausland kommen. Bislang war die Zuwanderung für Ausländer aus Nicht-EU-Staaten ein langer Hürdenlauf. Das soll sich jetzt ändern – es ist höchste Zeit!« Wie gesagt, darüber wird noch intensiver zu diskutieren sein. In diesem Beitrag soll es um die zweite Seite der geplanten Einwanderungsmedaille gehen: Wo kommen diese Arbeitskräfte eigentlich her? Woher sollen sie kommen und werden sie auch in Zukunft noch kommen (können)?

Bekanntlich fallen die Arbeitskräfte nicht vom Himmel. Auch wenn in den zurückliegenden Monaten überwiegend bis ausschließlich über die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind, diskutiert wurde – strukturell gesehen ist das größte Reservoir an zugewanderten Arbeitnehmern Osteuropa gewesen. Darunter vor allem osteuropäische EU-Staaten wie Polen oder die beiden Armenhäuser der Europäischen Union, also Rumänien und Bulgarien. Während das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nunmehr den Zirkel über die Grenzen der EU mit ihren Freizügigkeitsbestimmungen hinaus über den gesamten Globus ziehen will, haben wir langjährige Erfahrungen gemacht mit den Effekten der Zuwanderung aus Osteuropa. Und reiche Länder wie Deutschland und Österreich haben ganz erheblich profitieren können von der vor allem durch ein erhebliches Wohlstandsgefälle bedingten Zuwanderung von Menschen, die hier ihr Auskommen suchen.

Aber alles hat a) seinen Preis und b) immer wieder verändern sich die Rahmenbedingungen, also nichts bleibt, wie es einmal war. Verdeutlichen kann man das am Beispiel der osteuropäischen Abgabe-Länder wie Polen und den in der deutschen Diskussion gerne ausgeblendeten Folgen in diesen Ländern selbst.

»Die Arbeitsmigration aus Osteuropa hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Polen und Rumänen zählen zu den mobilsten EU-Bürgern«, konnte man bereits 2016 diesem Artikel entnehmen: 3,7 Millionen Osteuropäer arbeiten im EU-Ausland. »Fast 40 Prozent der innereuropäischen Migration entfallen heute auf die fünf Länder Rumänien, Polen, Ungarn, Kroatien und Bulgarien. Die größten Entsendeländer unter den EU-28 sind Rumänien und Polen.« Man muss sich die Relationen verdeutlichen: 2015 »arbeiteten mehr als 15 Prozent der beschäftigten Rumänen in der EU nicht in ihrem Heimatland, sondern irgendwo im Ausland. Auch im Falle der Kroaten ist diese Zahl hoch. Mehr als zehn Prozent der beschäftigten Kroaten arbeiten nicht in ihrer Heimat, sondern im EU-Ausland.« Und nicht wirklich überraschend ist der Befund, »dass es überwiegend junge Menschen aus Osteuropa sind, die anderswo ihr Glück versuchen wollen. 70 Prozent der polnischen Auswanderer in die EU sind zum Beispiel im Alter zwischen 25 und 49 Jahren.«

In dem Artikel wird Michael Landesmann, der wissenschaftliche Leiter des Wiener Osteuropainstitut WIIW, mit den Worten zitiert, dass »das niedrige Alter der Auswanderer (zeigt), dass „da insgesamt wenig Sozialtourismus stattfinden dürfte“. Die meisten Osteuropäer gehen ins Ausland, um dort zu arbeiten.« Und ein Aspekt der Auswirkungen auf die Abgabe-Länder wird in dem Artikel auch schon angesprochen: »Die hohe Zahl an Auswanderern hat die Arbeitsmärkte in Osteuropa laut WIIW spürbar entlastet. Ungarn hat heute zum Beispiel eine niedrigere Arbeitslosenrate als Österreich. Zugleich schicken die Migranten viel Geld nach Hause, sind also auch deshalb ein wirtschaftlich bedeutender Faktor. Im Falle von Polen entsprechen die nach Hause überwiesenen Geldbeträge aus dem Ausland einem Wert von mehr als einem Prozent der polnischen Wirtschaftsleistung.«

Das erklärt, warum auch diese Länder ein handfestes Interesse an der Migration der eigenen Landsleute in den Westen und Norden Europas haben. Aber auch hier gibt es offensichtlich eine andere Seite der Medaille, die man in Rechnung stellen muss: Die negativen Folgen der Abwanderung der besonders mobilen Arbeitskräfte in den Ländern selbst. Dazu beispielsweise diese Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks: Exodus aus Osteuropa – Die Abwanderung der jungen Generation: »Die massive Abwanderung schwächt die Sozialsysteme und ganze Gesellschaften im östlichen Europa.« Beispiel Lettland: » Im baltischen Lettland leben zum Beispiel fast 27 Prozent weniger Menschen als bei der Unabhängigkeit 1991.« Und das hat Folgen, in dem Beitrag wird die Migrationsforscherin Aija Lulle mit den Worten zitiert:„Der Bevölkerungsrückgang wirkt sich auch materiell aus: Es sind weniger Leute auf der Straße, manche Häuser stehen leer. Einige allerdings sind auch wunderschön renoviert – mit dem Geld aus Rücküberweisungen.“

»Aus der rumänischen Moldau-Region, an der Grenze zu Moldawien, wird ein rapider Bevölkerungsrückgang gemeldet, ebenso aus dem Nordwesten Bulgariens, dem Osten Serbiens, aber auch Polens oder der Slowakei. Etliche serbische und bulgarische Dörfer müssen schon von mobilen Teams des Roten Kreuzes versorgt werden. Nur alte Menschen leben noch hier. Sie brauchen nicht nur oft Pflege, sondern haben auch keine Möglichkeit mehr zum Einkaufen. Am schlimmsten ist es dort, wo das wirtschaftliche Elend dem Bevölkerungsschwund vorausging.«

Apropos Rumänien – die Menschen, die aus diesem Land beispielsweise nach Deutschland kommen, werden hier wenn, dann vor allem unter dem Etikett „Armutszuwanderung“ verhandelt. Dabei arbeiten viele hochqualifizierte Arbeitskräfte aus Rumänien in Deutschland, man denke an dieser Stelle nur an die vielen Ärzte aus Osteuropa, die vielerorts in unserem Land die Krankenhäuser am Laufen halten – ausgebildet in den ärmeren Abgabe-Ländern auf deren Kosten, wo sie jetzt natürlich vorne und hinten fehlen: »Am problematischsten … wirkt sich die massenhafte Emigration im Gesundheitswesen aus. Schon bevor zum 1. Januar 2014 die Übergangsfrist nach dem EU-Beitritt endete und Rumänen überall in der EU arbeiten konnten, haben vor allem Deutschland, Belgien und Frankreich in großer Zahl Ärzte aus dem Land angezogen. Spezielle Agenturen verkauften ganze Pakete: Arbeitsplatz, Wohnung, Sprachkurs, Anerkennung der Approbation – all inclusive. Rumänien, das zweitärmste EU-Land, hat die geringste Ärztedichte in der Europäischen Union. Und inzwischen hat die große Ärzteabwanderung, mit der arme Länder den Ärztemangel in den reicheren wie Deutschland, Belgien oder Frankreich kompensieren, auf etliche andere Staaten übergegriffen.«

Und gerade in diesem Arbeitsmarktsegment kann man die innere Logik des geplanten Fachkräfteeinwanderungsgesetz erkennen: »Inzwischen reicht die EU nicht mehr aus, den deutschen Bedarf zu decken. Noch in diesem Monat soll der Bundestag ein „Fachkräfteanwerbungsgesetz“ beschließen, mit dem vor allem Ärzte und Krankenpflegepersonal ins Land geholt werden sollen – unter anderem aus den Nicht- oder Noch-nicht-EU-Ländern Kosovo und Albanien.«

Und man darf sich die angesprochene Migration nicht als einen einfachen, auf zwei Seiten begrenzten Prozess vorstellen: »Die nächstliegende Lösung für die Entvölkerung Osteuropas wäre, das nächste Glied in der sogenannten Migrationskette anzuschließen: Ärmere EU- und arme Balkanländer, so die Logik, sollen sich ihr Personal aus noch ärmeren arabischen und asiatischen Ländern holen. Im Kosovo ist schon die Rede von Ägyptern, die wohl bald kommen würden. In Rumänien dagegen hat die Entwicklung schon begonnen, sagt Adriana Iftime vom Verband der Bauwirtschaft: „Bis jetzt haben rumänische Baufirmen um die 5.000 Arbeiter aus Asien ins Land gebracht, die meisten aus Vietnam.“«

Ein osteuropäisches Land, aus dem viele Menschen nach Deutschland gekommen sind bzw. über Pendelmigration mit den deutschen Arbeitsmärkten verbunden sind, hat die hier angesprochene Erfahrung bereits intensiver machen müssen: Polen.

Auf der einen Seite arbeiten viele Polen im (bisherigen) EU-Ausland (man denke hier auch an die vielen polnischen Arbeitskräfte in Großbritannien) – und sie tun das aufgrund des (bisherigen) Wohlstandsgefälles zwischen den Ländern. Damit verbunden ist ein immer noch erhebliches Lohngefälle. Das hat handfeste Auswirkungen für Millionen Konsumenten in Deutschland: »Deutsche Amazon-Bestellungen landen oft auf polnischen Fließbändern und werden von dort wieder zurückgeschickt. Der Grund: In Polen verdienen die Packer weniger«, so Bernd Kramer in seinem Artikel Einmal Polen und zurück. Kurzer Rückblick: »Im Oktober 2014 eröffnete Amazon die ersten beiden Zentren in Polen, neben dem in Poznań auch eines in Wrocław, 50 Kilometer Luftlinie hinter der deutschen Grenze, mehrere Tausend Quadratmeter groß. Kurz zuvor erst war es der Gewerkschaft ver.di gelungen, an einem Amazon-Lager in Deutschland einen Streik zu organisieren. Amazon bestritt damals, dass die Zentren in Polen etwas mit den Arbeitskämpfen in Deutschland zu tun hätten.« Dazu auch der Beitrag Amazon mal wieder. Der aufrechte Kampf der einen bei uns und die konsequent-schrittweise Abnabelung der Effizienzmaschine vom Standort Deutschland vom 25. November 2015 in diesem Blog. Dabei betreibt Amazon in Polen selbst bis jetzt offensichtlich kein nennenswertes Versandgeschäft.

»Deutsche Händler …, die ihre Waren über Amazon vertreiben, werden von dem Versandriesen nach Polen gelockt – oder gedrängt, wie manche von ihnen beklagen: „Sparen Sie 0,50 Euro durch Warenlagerung in Polen und Tschechien“, wirbt Amazon bei den Händlern. Händler, die ihre Ware über Amazon versenden lassen, können sich dafür entscheiden, ihre Ware nur in deutschen Standorten lagern zu lassen. Das kostet dann aber eben mehr.« Schlussfolgerung: »Die Vermutung liegt nahe, dass Amazon vor allem aus einem Grund den Umweg über Polen wählt: Dort kann der Konzern billiger und unbehelligter arbeiten.« Und Kramer präsentiert Zahlen, mit denen sich die plausible Vermutung stützen lässt:

»In der Stunde bekommen Mitarbeiter in einem polnischen Amazon-Zentrum zwischen 18,50 und 24,50 Złoty, umgerechnet zwischen 4,30 und 5,69 Euro – gerade einmal rund die Hälfte der Stundensätze zwischen 10,78 und 11,62 Euro, die Versandmitarbeitern an einem deutschen Standort gezahlt werden. Gearbeitet wird auch an Sonntagen, ohne Zuschlag – in Deutschland ist das untersagt … Die Löhne sind niedriger, der Druck scheint dafür höher zu sein als in Deutschland. ZEIT ONLINE liegt ein Flyer vor, den Amazon an polnische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verteilte: Darin kündigt Amazon an, Krankmeldungen mit Hausbesuchen überprüfen zu wollen. Meldet ein Mitarbeiter sich ab, um sich zum Beispiel um sein krankes Kind zu kümmern, sollen die Kontrolleure sogar ermitteln, ob nicht ein anderes Familienmitglied zu Hause ist, das die Betreuung übernehmen könnte. „Ich bin einmal um sechs Uhr abends zum Arzt gegangen und gleich am nächsten Morgen hatte ich diese Leute vor der Tür“, berichtet Amazon-Packerin Agnieszka Mróz.«

Und Matthias Benz ist mit Mlada Boleslav dieser wichtigen Frage nachgegangen: Gleiche Arbeit für einen Drittel des Lohnes: Wie lässt sich das enorme Lohngefälle zwischen Ost- und Westeuropa erklären? »Viele Menschen in Zentral- und Osteuropa fühlen sich ausgebeutet. Auch drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verdienen sie viel weniger als die Westeuropäer. Dieses Lohngefälle wirft Fragen auf.« Beispiel Skoda: »Die traditionsreiche tschechische Automarke Skoda gehört seit bald drei Jahrzehnten zum deutschen Volkswagen-Konzern. Aber von Löhnen wie in Deutschland können die Tschechen nur träumen. So verdienen die 23.000 Skoda-Mitarbeiter am böhmischen Stammsitz in Mlada Boleslav durchschnittlich rund 12 € pro Stunde. Ihre Kollegen in den deutschen VW-Werken hingegen erhalten mindestens das Dreifache. „Dabei ist klar, dass die Produktivität der Skoda-Mitarbeiter vergleichbar ist mit derjenigen der VW-Beschäftigten – bei uns liegt sie wegen der längeren Wochenarbeitszeit wohl noch etwas höher“,« so Jaroslav Povsik, der oberste Gewerkschafter bei Skoda. Hier wird ein strukturelles Problem für die osteuropäischen Länder angesprochen:

»Zwar haben die Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks seit der Wende wirtschaftlich enorm aufgeholt. Dennoch herrscht bei vielen Menschen Unzufriedenheit über das Erreichte. Man fühlt sich etwa von westlichen Konzernen ausgebeutet: einerseits, weil diese hohe Gewinne aus Ländern wie Tschechien, Polen oder Ungarn abziehen, anderseits, weil die Löhne immer noch viel niedriger sind als im Westen. In Tschechien sorgt dies für besonders viel Unmut: Gewerkschafter sprechen von einem „Eisernen Vorhang bei den Löhnen“, die Sozialdemokraten forderten im jüngsten Wahlkampf ein „Ende der billigen Arbeit“.«

Das wirft nicht nur auf der linken Seite des politischen Spektrums Fragen auf: »Tatsächlich stellt das hartnäckige Lohngefälle zwischen Ost- und Westeuropa Ökonomen vor ein Rätsel. Zwar lässt sich gut erklären, warum ein Coiffeur in Prag deutlich weniger verdient als ein Kollege in Frankfurt oder Zürich. Weil solche Dienstleistungen nicht über die Grenzen handelbar sind, orientiert sich der Lohn an der Produktivität in der lokalen Wirtschaft. Und die gesamtwirtschaftliche Produktivität ist – gemessen am Bruttoinlandprodukt pro Kopf – in Tschechien eben immer noch deutlich niedriger als etwa in Deutschland. Sie erreicht in Wechselkursen gerechnet lediglich rund 50% des deutschen Niveaus. Aber bei international handelbaren Gütern sollte das Bild anders aussehen. Weil ein Austausch über die Grenzen hinweg möglich ist, müssten sich die Löhne deutlich stärker an der tatsächlichen Produktivität orientieren. Der Fall Skoda bietet dafür ein gutes Anschauungsbeispiel. Autos stellen ein Exportgut par excellence dar. Die von Skoda in Tschechien hergestellten Fahrzeuge werden grösstenteils ausgeführt und vorwiegend in Europa zu den international üblichen Preisen verkauft.«

Die beiden Autoren fragen sich: Gibt es dennoch Ansätze, wie das Rätsel der niedrigen Löhne in Zentral- und Osteuropa erklärt werden kann? Eine ökonomische Spurensuche führt zu folgenden Antworten:

➞  »Ein erstes Argument liegt in der unterschiedlichen Kaufkraft. Wenn man sich ansieht, welche Güter und Dienstleistungen sich die Tschechen mit ihren Löhnen leisten können, fällt die Differenz zum Westen nicht mehr so dramatisch aus. Tschechien erreicht bei den kaufkraftbereinigten Löhnen derzeit einen Wert von 62% des deutschen Niveaus. Das ist deutlich mehr als die 40% bei den unbereinigten, auf Wechselkursen basierenden Gehältern … Mithin kann man sich mit einem verdienten Euro in Tschechien mehr kaufen als in Deutschland.«

Sie schieben dann gleich ein Aber hinterher, denn »diese Betrachtung (sagt) wenig darüber aus, was sich die Tschechen im Ausland kaufen können – denn dafür muss der Vergleich zu Wechselkursen herangezogen werden. Dies ist von Bedeutung, weil sich auch die Ostmitteleuropäer gerne westliche Güter wie iPhones, italienischen Wein oder deutsche Autos leisten. Für diese Waren müssen sie im Wesentlichen Weltmarktpreise zahlen. In der Region heisst es deshalb oft: „Wir bekommen östliche Löhne, zahlen aber westliche Preise.“«

Und sie diskutieren ein weiteres, immer wieder vorgetragenes Argument:

➞  »Zum Zweiten lässt sich damit argumentieren, dass viele Länder in Zentral- und Osteuropa noch lange mit dem Erbe des Sozialismus gerungen haben. So kam es in Polen, Ungarn oder in der Slowakei beim Übergang von der maroden Planwirtschaft hin zur Marktwirtschaft zu einer hohen Arbeitslosigkeit. Die Unternehmen konnten also lange Zeit aus einem grossen Pool an verfügbaren Arbeitskräften auswählen, was den Lohnanstieg beschränkte. Dies mag erklären, warum die Löhne in Polen oder Ungarn immer noch weit hinter dem westlichen Niveau zurückliegen. Allerdings greift das Argument weniger für Tschechien, weil hier die Arbeitslosigkeit stets ziemlich niedrig war.«

➞ »Als dritter Erklärungsansatz lässt sich anführen, dass die Arbeitsmärkte in Europa trotz Personenfreizügigkeit immer noch stark segmentiert sind. Zwar geniessen die Visegrad-Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn prinzipiell seit ihrem EU-Beitritt im Jahr 2004 die vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes. Das führte etwa zur berühmten Emigration von einer Million Polen nach Grossbritannien (und mutmasslich zum späteren Brexit-Entscheid). Aber wichtige Nachbarländer wie Deutschland und Österreich schränkten die Personenfreizügigkeit bis 2011 erheblich ein. Deshalb haben die Arbeitsmärkte in Mitteleuropa erst mit der vollständigen Öffnung ab 2011 begonnen, sich richtig zu integrieren. Dies allerdings mit grosser Wucht: Hunderttausende Ungarn, Slowaken oder Polen suchten ihr Glück im Westen. Als Folge ist die Arbeitslosigkeit in allen Visegrad-Ländern auf historische Tiefstände gesunken, und es hat sich ein Fachkräftemangel breitgemacht, der viele Unternehmen händeringend nach Personal suchen lässt. Wegen der Knappheit steigen nun auch überall die Löhne kräftig. Die Ungarn konnten sich jüngst über Reallohnzuwächse von über 10% freuen, die Tschechen erhielten durchschnittlich immerhin rund 5% mehr.« Das wird gleich noch eine Rolle spielen.

Die Suche nach den Gründen geht weiter:
➞  »Lassen sich die niedrigen Löhne, viertens, mit der vielbeklagten Ausbeutung durch westliche Konzerne erklären? Zwar stimmt es, dass die Investoren in Zentral- und Osteuropa stattliche Gewinne erzielen. In Tschechien ist die Rendite auf ausländischen Direktinvestitionen mit mehr als 12% besonders hoch, während sie etwa in Polen bei – im internationalen Vergleich gut erklärbaren – 8% rangiert. Dennoch ist der Vorwurf der Ausbeutung kaum stichhaltig. So zeigen Studien, dass westliche Konzerne deutlich höhere Löhne in der Region zahlen als einheimische Firmen. Auch bei Skoda verdienen die Arbeiter mit 45 000 tKr. (1750 €) pro Monat klar besser als bei anderen lokalen Industriebetrieben. Im regionalen Vergleich scheinen die Menschen also von westlichen Konzernen gut behandelt zu werden.«

Und um das differenzierte Bild abzurunden, hier noch der fünfte und sechste Erklärungsansatz:
➞  »Eine fünfte Erklärung mag in der unterschiedlichen Macht der Gewerkschaften liegen. Bei Volkswagen in Deutschland sind die Arbeitnehmervertretungen besonders einflussreich, was zu stark geschützten Arbeitsplätzen und zu im internationalen Vergleich eher überhöhten Löhnen führt. Demgegenüber haben die Gewerkschaften in Zentral- und Osteuropa nach der Wende eine untergeordnete Rolle gespielt. Selbst die gut organisierte Skoda-Gewerkschaft kann es nicht mit dem mächtigen Volkswagen-Betriebsrat aufnehmen. Schliesslich ist, sechstens, zu beachten, dass die eigentliche Konkurrenz der Ostmitteleuropäer oft nicht in Deutschland, sondern in Schwellenländern wie China oder Indien sitzt. So erwägt die Skoda-Führung derzeit wegen Personalengpässen, die Produktion stärker nach Asien zu verlagern. Dies beschränkt das Potenzial für Lohnsteigerungen in Zentral- und Osteuropa.«

Als Fazit bilanzieren Matthias Benz und Mlada Boleslav: »Dennoch bleibt das enorme Lohngefälle zum Westen, das auch nach fast drei Jahrzehnten der Transformation besteht, einigermassen rätselhaft.« Aber die beiden wollen positiv enden und weisen auf einen wichtigen Punkt hin, der das Blatt für die Zukunft neu mischen wird – Beispiel Skoda, mit dem der Artikel begann: »Im vergangenen Jahr erhielten die Skoda-Mitarbeiter in Tschechien eine kräftige Lohnerhöhung von 10%, und für dieses Jahr wird es ein weiteres Plus von 12% geben. Die Auswanderung nach Westen, die zunehmende Integration der Arbeitsmärkte in Mitteleuropa und der daraus resultierende Fachkräftemangel haben gewirkt: Die Menschen erhalten nun die Lohnerhöhungen, auf die sie so lange gewartet haben.«

Schon vor vielen Jahren haben diejenigen Beobachter, die sich die demografische Entwicklung nicht nur in Deutschland angeschaut haben, sondern auch die in den osteuropäischen Staaten, darauf hingewiesen, dass man angesichts der schlechten demografischen Werte in Osteuropa nicht davon ausgehen sollte, dass sich diese Region auf Dauer als Lieferant von vielen billigen Arbeitskräften in die Rechengleichungen einsetzen lässt. Und den Umschwung von einem Überschuss zu einem Mangel kann man derzeit beobachten: »Ohne Arbeitsmigranten aus der Ukraine könnte Polens Wirtschaft kaum florieren. Sie sind gut integriert und gern gesehen. Aber künftig werden sich die Polen wohl auf noch mehr Vielfalt einlassen müssen«, berichtet Matthias Benz in seinem Artikel Polen wird zum Einwanderungsland: »Ohne Ukrainerinnen und Ukrainer würde in zahlreichen Bereichen der polnischen Wirtschaft nicht mehr viel gehen. Auf den vielen Baustellen der boomenden Hauptstadt sind Bauarbeiter aus dem östlichen Nachbarland omnipräsent. Ukrainer stellen 90% der Fahrer des Taxidienstes Uber. Als Erntehelfer in der gewichtigen polnischen Landwirtschaft gelten sie als unentbehrlich. Ukrainerinnen wiederum finden sich in fast jedem Restaurant oder Hotel – im Service, an der Rezeption oder als Zimmermädchen. Viele Frauen arbeiten zudem in Spitälern, im Detailhandel oder als Haushaltshilfen. Kurz: Die Menschen aus der Ukraine erledigen jene einfacheren Tätigkeiten, die in vielen Ländern von Einwanderern übernommen werden.«

Und man sollte sich die gewaltige Bedeutung der Zuwanderung nach Polen an Zahlen klar machen: »Rund zwei Millionen Ukrainer und Weissrussen arbeiteten bereits in Polen. Das sei fast so viel wie die Summe der Polen, die das Land vor allem nach dem Beitritt zur EU im Jahr 2004 verlassen hätten.« Auch hier wieder werden wir mit dem Mechanismus der Kettenmigration konfrontiert: »In der Tat lässt sich eine Wanderung von Ost nach West beobachten. Die polnischen Handwerker zogen auf Baustellen in Grossbritannien oder Deutschland, polnische Krankenschwestern suchten Arbeit in schwedischen oder britischen Spitälern. Ihre Plätze im Heimatland haben in den vergangenen Jahren vielfach ukrainische Migranten eingenommen.«

Wie in vielen Ländern Zentral- und Osteuropas klagt man in Polen bereits über einen ausgeprägten Fachkräftemangel. Arbeitskräfte sind knapp, die Löhne steigen kräftig. Man hätte nun gerne jene Polen zurück, die einst nach Grossbritannien ausgewandert sind und wegen des Brexit einer unklaren Zukunft entgegenblicken. Und der Prozess der Rückwanderung hat bereits eingesetzt, vgl. dazu beispielsweise diesen Artikel aus dem Jahr 2017: Mehr Arbeitskräfte kehren nach Ost- und Mitteleuropa zurück: »Die Auswanderung aus den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern Richtung Westeuropa dürfte ihren Höhepunkt erreicht haben.«

Und immer öfter wird in der Wirtschaftspresse über einen zunehmenden Fachkräftemangel in den osteuropäischen Staaten selbst berichtet: »Im boomenden Polen macht sich Arbeitskräfteknappheit breit. Das spüren auch Schweizer Unternehmen wie Clariant. Viele Firmen greifen zu unkonventionellen Mitteln«, so Matthias Benz unter der Überschrift Mit frischen Kiwis auf Mitarbeiterfang: Wie Schweizer Unternehmen in Polen gegen den Fachkräftemangel ankämpfen. Daraus dieses Beispiel:

»Im Industriegebiet von Lodz hängen Stelleninserate an fast jedem Werkstor. Überall werden Facharbeiter gesucht. Aber im boomenden Polen sind diese immer schwieriger zu finden.
«Seit rund zwei Jahren spüren auch wir einen Fachkräftemangel», erklärt Pawel Panczyk, der Geschäftsführer von Clariant in Polen. Der Schweizer Spezialchemie-Konzern hat in Lodz sein wichtigstes polnisches Standbein. Zum einen fertigt man hochkonzentrierte Farbgranulate («Masterbatches»), die etwa bei der Produktion von Plastikflaschen oder Spielzeugteilen zum Einsatz kommen. Zum andern betreibt Clariant in der drittgrössten polnischen Stadt eines seiner drei weltweiten Shared-Service-Center (SSC). Rund 250 Mitarbeiter kümmern sich um konzerninterne Dienstleistungen wie Buchhaltung, Einkauf und Logistik für die Ländergesellschaften in Europa, Lateinamerika, Afrika und im Nahen Osten.
«Vor allem für das Shared-Service-Center ist es zunehmend schwierig, geeignete Mitarbeiter zu finden», meint Panczyk. Der Sektor hat in den vergangenen Jahren einen Boom erlebt. Polen gilt als «Backoffice des Westens», rund 300 000 Menschen arbeiten bereits in diesem Bereich. In Lodz haben sich Dienstleistungszentren von Grosskonzernen wie Philips, Fujitsu oder Whirlpool angesiedelt. Es herrscht ein intensiver Wettbewerb um Talente.«

Viele Firmen zu unkonventionellen Mitteln: In den letzten Jahren wurden im grossen Stil Ukrainer angestellt, um Lücken zu schliessen. Neuerdings kommen Saisonarbeiter aus den Philippinen dazu. Die Firmen bemühten sich aber auch, Mitarbeiter mit attraktiven Arbeitsbedingungen und Leistungen anzuziehen.

»Die neue Erfahrung des Arbeitskräftemangels hat Polen in zweierlei Hinsicht grundlegend verändert. Zum einen ist das traditionelle Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland geworden. In den vergangenen Jahren sind rund 2 Mio. Menschen aus der Ukraine und Weissrussland als Arbeitsmigranten nach Polen gekommen – es handelt sich um eine grosse, aber in Westeuropa noch wenig bekannte Wanderungsbewegung. Die Immigranten haben häufig die Leerstellen besetzt, die polnische Auswanderer auf dem Bau, in der Gastronomie oder in den Krankenhäusern hinterlassen haben.
Weil aber auch Ukrainer immer schwieriger zu finden sind, versuchen die polnischen Unternehmen Arbeitskräfte aus den Philippinen oder sogar aus Indien, Nepal oder Bangladesh zu rekrutieren. Damit steht die traditionell auf Homogenität bedachte polnische Gesellschaft vor einer schwierigen Frage: Wie stark will man sich auf mehr Vielfalt einlassen?
Zum andern steigen als Reaktion auf die Knappheit derzeit die Löhne kräftig. In umkämpften Branchen wie den Shared-Service-Centern sind jährliche Lohnerhöhungen von 10% die Regel, in der Gesamtwirtschaft beliefen sich die Lohnsteigerungen jüngst auf rund 6%. Für die Polen bedeutet dies ein willkommenes Aufholen.«

Überall Veränderung, überall Bewegung – und auch hier spielen die einwanderungspolitischen Aktivitäten in Deutschland eine Rolle: »Polen hat in den letzten Jahren über eine Million ukrainische Arbeitsmigranten aufgenommen. Jetzt machen sich die Polen Sorgen: Ziehen die Ukrainer womöglich bald nach Deutschland weiter?« Diese Frage wird in dem Kommentar Der Kampf um Fachkräfte ist voll entbrannt angesprochen: Die Polen machen sich Sorgen um die bei ihnen eingewanderten Menschen aus der Ukraine. »Werden sie bald weiterziehen? Der mitteleuropäische Kampf um Facharbeiter ist nämlich voll entbrannt. Nicht nur Tschechien will seine Grenzen stärker für Ukrainer öffnen. Vor allem schickt sich das grosse Deutschland an, mit einem neuen «Fachkräfte-Einwanderungsgesetz» auch Ukrainer anzuziehen. Eine Berufsausbildung und einige Sprachkenntnisse sollen künftig genügen, damit sie grundsätzlich in der Bundesrepublik arbeiten oder sich sechs Monate lang einen Job suchen dürfen.«

»In der polnischen Presse kursieren nun alarmierende Umfragen der Vermittlungsagentur Work Service. Demnach wollen gut 60% der Ukrainer bei entsprechender Gelegenheit nach Deutschland weiterziehen. Zwar fühlen sich die Ukrainer in Polen offensichtlich wohl. Sie sind im Land gut aufgenommen worden, weil sie die Sprache leicht lernen und den Einheimischen kulturell nahestehen. Aber letztlich geht es eben ums Geld. In Deutschland liegen die Löhne gut dreimal höher als in Polen. Da müssen viele Ukrainer nicht lange rechnen.«

Möglicherweise wird es dem großen und noch reichen Deutschland gelingen, die eigenen Arbeitskräftebedarfe über diesen Weg eine Zeit lang zu decken, auf Kosten (möglicherweise) eines Teils der einheimischen Arbeitskräfte, wenn die Zuwanderung nicht entsprechend regulatorisch abgesichert wird, vor allem aber auf Kosten der anderen. Man sollte diese komplexere Debatte gerade in Deutschland führen. Unbedingt.