Sozialversicherungsdetektive: Die Mehrheit der Schweizer lässt sie laufen

Die Schweiz und ihre Volksabstimmungen. In Deutschland schauen die einen neidisch auf diese Institution, andere hingegen werden eher Zweifel bis Abneigung haben gegen den Ansatz, auch überaus komplexe Fragestellungen vom wahlberechtigten Volk mit Ja oder Nein beantworten zu lassen. Immer wieder tauchen auch sozialpolitisch hoch relevante Fragen als Gegenstand von Volksabstimmungen auf. So wurde beispielsweise am 5. Juni 2016 über die vorgeschlagene Einführung eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ abgestimmt – und auch wenn die große Mehrheit derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, gegen den Vorstoß votiert haben, es war durchaus ein Achtungserfolg für die Anhänger dieses radikalen Ansatzes und im Vorfeld wurde in der Öffentlichkeit (auch in Deutschland) intensiv berichtet und diskutiert. Vgl. dazu den Beitrag Mit dem Herz dafür, aber mit dem Kopf dagegen? Oder mit dem Verstand dafür, aber ohne Herz? Das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist (nicht) krachend gescheitert vom 7. Juni 2016.

Nun gab es eine weitere sozialpolitisch hoch relevante Volksabstimmung in der Schweiz: Deutliches Ja zu den Sozialdetektiven, so kann man es am heutigen Abstimmungssonntag zur Kenntnis nehmen: »64,7 Prozent sind für die Überwachung von Versicherten. Die Gegner warnen nun vor Schlafzimmer-Spionen.«

Um was gehr es hier? Im Frühling erließ das Schweizer Parlament ein Gesetz, das die weitreichende Überwachung aller Sozialversicherten ermöglichen soll – vorgeblich, um Missbrauch von Leistungen zu verhindern. Ob Kranken- oder Unfallversicherte, Rentner oder Menschen mit Behinderung: Alle sollen von „Sozialdetektiven“ überwacht werden können, mit Maßnahmen wie verdeckter Videoüberwachung und detaillierten Bewegungsprofilen. So Dimitri Rougy unter der Überschrift Neoliberale Abrissbirnen, der als Gastbeitrag von der taz veröffentlicht worden ist: »Die Schweiz stimmt über die weitreichende Überwachung von Sozialversicherten ab. Es geht auch um die vergiftete Sozialpolitik im Land.«

An der Formulierung merkt man schon – der Mann lehnt das ab. Der Student der Kulturwissenschaften hat mit der Schriftstellerin Sibylle Berg und anderen Mitstreiter die Initiative Versicherungsspione NEIN ins Leben gerufen, die das Referendum über das Gesetz angestrengt hat.

Er und die anderen Gegner des Gesetzes argumentieren so: »Kein Richter kann über die Maßnahme entscheiden. Und mit der Überwachung bis in Privaträume hinein erhalten die Versicherungen mehr Mittel als die Polizei und Staatsanwaltschaften … Der Überwachungsartikel steht symptomatisch für die vergiftete Stimmung in der Schweizerischen Sozialpolitik.« Rougy weist darauf hin, dass »Christoph Blocher, Übervater der rechtsnationalen Partei SVP, im Wahlkampf 2003 (nicht ohne Grund) den Begriff «Scheininvalide» kreiert und mit populistischer Stimmungsmache die Empörung in der Stimmbevölkerung hochgekocht (hat). Mit der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung schaffte er fruchtbaren Boden für massive Verschärfungen des Sozialrechts – und einen Sieg für seine Partei.«

Die Bürger-Bewegung gegen das Gesetz hat über 75.000 Unterschriften eingesammelt und die Abstimmung erzwungen. »Weder linke Organisationen noch Parteien wollten das Referendum anfangs unterstützen. Sie verwiesen auf strategische Entscheide und ließen verlauten, dass es ungeschickt sei, den Neoliberalen und Rechten mit dieser Abstimmung knapp ein Jahr vor den nationalen Wahlen in die Hände zu spielen«, berichtet Rougy. Man kann neben anderen Aspekten davon ausgehen, dass diese Ablehnungsfront auch bei denen, die an und für sich Unterstützer sein müssten, durch die Vorwegnahme des nun tatsächlich realisierten Ergebnisses motiviert war, denn viele Schweizer haben sicher bei einer Frage, die man (nur) mit Zustimmung oder Ablehnung beantworten darf, auf ihr Bauchgefühl gehört.

Claudia Blumer kommentiert dann auch das Ergebnis der heutigen Volksabstimmung in diesem Punkt unter dieser Überschrift so: Die Mentalität der Schweizer: Kontrolle ist besser: »Es dürfte ein Grundsatzverdikt gewesen sein: mit allen Mitteln gegen Versicherungsbetrug. 66 Prozent der Stimmenden wollen Sozialversicherungen erlauben, bei Verdacht auf missbräuchlichen Leistungsbezug die Versicherten heimlich zu überwachen. Bedenken wegen des Eingriffs in die Privatsphäre, wegen der unklaren Bestimmung, wie weit die Detektive gehen dürfen, wegen der weitgehenden Kompetenz, die je nach Standpunkt gar die Kompetenzen von Strafverfolgungsbehörden übertrifft, haben offensichtlich eine kleinere Rolle gespielt.«

Solche Abstimmungen haben den Nachteil, dass bei ihnen hoch komplexe Tatbestände reduziert werden (müssen) auf dafür oder dagegen. Für Kontrolle oder gegen Kontrolle, da verschwinden dann schon mal genau die Bereiche, in denen es problematisch wird oder werden könnte, selbst wenn man grundsätzlich durchaus für Kontrollen ist. Dazu Blumer: »Nur, es sind nicht nur Betrüger von dem neuen Gesetz betroffen. Recherchen haben gezeigt, dass bei Observationen oft weder der Anfangsverdacht noch das Ergebnis wirklich eindeutig ist. Vielmehr handelt es sich um einen Graubereich, in dem auch unbescholtene Personen betroffen sind, weil die Versicherung der Ansicht ist, dass eine Überwachung etwas zutage fördern könnte, was zur Rentenkürzung oder -streichung berechtigt. Auch sind nicht nur Kranke und Verunfallte betroffen. Der Geltungsbereich wird nun ausgedehnt auf alle, die Leistungen einer Sozialversicherung beziehen: Erwerbsersatz bei Militär und Mutterschaft, Arbeitslosengeld, Krankentaggeld und so weiter.«

Und sie verweist darauf: »m Abstimmungskampf entbrannte ein Streit darüber, wie weit die Detektive beim Filmen und Abhören gehen dürfen. Das Gesetz regelt diesen Punkt nicht klar. Bundesrat, Parlamentarier und die Versicherungen beteuerten, Personen würden nicht im Innern von privaten Räumen überwacht. Die Grenze sei die Hausfassade, womit jemand etwa im Garten beobachtet werden könne, aber nicht in der Küche.« Die offensichtliche Leerstelle des nun durch die Abstimmung bestätigten Gesetzes macht dieser Passus deutlich: »Nun sind die Versicherungen gefordert, dieses Versprechen einzuhalten. Sie sollen ihren Detektiven klar sagen, dass das Innere von privaten Häusern tabu ist.«

Aber es könnte noch eine andere Bruchstelle geben, denn nach Blumers Auffassung »könnte es sein, dass das Gesetz vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wieder gerügt wird, wie der Gerichtshof vor zwei Jahren schon die fehlende rechtliche Grundlage in der Schweiz kritisiert hat. Denn die heute vorliegende Grundlage ist mangelhaft, sie definiert keine räumlichen Grenzen bei der Observation. Eine Chance, dies noch anzupassen, böte sich dem Parlament bei der Revision des übrigen Teils des Sozialversicherungsrechts.«

»Das Gesetz, das heute angenommen wurde und schon Anfang 2019 in Kraft tritt, wurde unter höchstem Zeitdruck durchgepeitscht, was die rekordverdächtig vielen Fehler erklärt«, so Blumer in ihrer Einschätzung.

Aber das ändert nichts an dem heutigen und mehr als eindeutigen Ergebnis. Aber übertragen wir das abschließend mal auf eine höchst aktuelle Debatte in Deutschland – die Sanktionen im Grundsicherungssystem, als bei Hartz IV. Was glauben wir denn, was eine Volksabstimmung bei uns für ein Ergebnis bringen würde, wenn zur Wahl steht, ob man für oder gegen die Kontrolle von Hartz IV-Empfänger sei. Selbst viele derjenigen, die bei einer differenzierten Diskussion der ganz unterschiedlichen Sachverhalte und mit Blick auf das breit gestreuten Verhalten in den einzelnen Jobcentern zu dem Ergebnis kommen würden, dass viele der heutigen Sanktionierungen des Existenzminimums fehlerhaft, überzogen oder schlichtweg ungerecht sind, werden nicht generell für alle und jeden Sanktionen als letztes Mittel der Wahl ausschließen wollen.

Nicht wenige Angelegenheiten lassen sich nun mal nicht, auch wenn es schön wäre, mit Daumen hoch oder runter entscheiden.