Streikerlaubnis auf dem Firmengelände. Also unter bestimmten Umständen, so das Bundesarbeitsgericht

Viele werden sich schon daran „gewöhnt“ haben – die regelmäßigen Streiks und Streikversuche der Gewerkschaft Verdi bei Amazon. Auch am heutigen Schnäppchentag Black Friday soll wieder zugeschlagen werden: »Verdi forderte die Mitarbeiter an den Standorten im hessischen Bad Hersfeld und im nordrhein-westfälischen Rheinberg für Freitag zum Ausstand auf. Die Gewerkschaft kämpft seit Jahren dafür, dass die Amazon-Beschäftigten einen Tarifvertrag bekommen und nach dem Tarif für den Einzel- und Versandhandel bezahlt werden. Amazon lehnt dies bislang ab«, so diese Meldung: Streik bei Amazon – und das am Black Friday. Was sagt das Unternehmen dazu? »Die Streiks am Schnäppchentag haben nach Angaben des Online-Händlers keinen Einfluss auf die Bestellungen. „Da die überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter weiterhin wie geplant arbeitet, sind Kundenbestellungen vom Streik nicht betroffen“, erklärte Amazon am Freitag.«

Auch wenn man das von außen schwer prüfen kann – wenn es zu Streikaktionen bei Amazon kommt, dann muss man schon festhalten, dass sich viele Beschäftigte nicht daran beteiligen. Die will die Gewerkschaft mit den Streikenden natürlich erreichen, vor allem dann, wenn sie zur Arbeit gehen. Man kennt die Streikwachen vor einem Unternehmen – bei Amazon gab es jetzt aber einen Konflikt, weil die Streikenden die anderen Mitarbeiter auf betriebseigenem Gelände angesprochen haben. Das wollte das Unternehmen untersagen. Mit diesem Ansinnen ist Amazon aber vor dem Bundesarbeitsgericht gescheitert. Streiks auf dem Betriebsgelände sind legal – so ist eine der vielen Meldungen zu der neuen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts überschrieben. Wie immer bei juristischen Entscheidungen muss man aber genau hinschauen, was wirklich geurteilt wurde. 
Unter der erst einmal nichtssagenden Überschrift Streikmobilisierung auf Firmenparkplatz berichtet das Bundesarbeitsgericht (BAG):

»Das Streikrecht umfasst die Befugnis einer streikführenden Gewerkschaft, die zur Arbeitsniederlegung aufgerufenen Arbeitnehmer unmittelbar vor dem Betreten des Betriebes anzusprechen, um sie für die Teilnahme am Streik zu gewinnen. Eine solche Aktion kann – abhängig von den konkreten örtlichen Gegebenheiten – mangels anderer Mobilisierungsmöglichkeiten auch auf einem vom bestreikten Arbeitgeber vorgehaltenen Firmenparkplatz vor dem Betriebsgebäude zulässig sein.«

Man beachte die Formulierung: »Eine solche Aktion kann – abhängig von den konkreten örtlichen Gegebenheiten – mangels anderer Mobilisierungsmöglichkeiten auch auf einem vom bestreikten Arbeitgeber vorgehaltenen Firmenparkplatz vor dem Betriebsgebäude zulässig sein«, so das BAG. Das ist alles andere als eine generelle Freigabe.

Zum Sachverhalt – hier das Unternehmen Amazon betreffend – berichtet das hohe Gericht:

»Die Arbeitgeberin betreibt in einem außerörtlich gelegenen Gewerbegebiet ein Versand- und Logistikzentrum. Zu dem von ihr gepachteten Gelände gehören ein Betriebsgebäude, das über einen zentralen Eingang zugänglich ist, und ein ca. 28.000 qm großer Parkplatz, welcher zur Nutzung für die überwiegend mit dem Auto zur Arbeit kommenden Mitarbeiter bestimmt ist. Im September 2015 wurde die Arbeitgeberin an zwei Tagen bestreikt. Die streikführende Gewerkschaft baute an beiden Tagen auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang Stehtische und Tonnen auf und postierte dort ihre Vertreter sowie streikende Arbeitnehmer. Diese verteilten Flyer und forderten die zur Arbeit erscheinenden Arbeitnehmer zur Teilnahme am Streik auf. Zu physischen Zugangsbehinderungen kam es nicht. Ähnliches wiederholte sich bei einem eintägigen Streik im März 2016.«

Im Urteil vom 20. November 2018 – 1 AZR 189/17 hat das BAG nun entschieden: »Im konkreten Fall ergibt die Abwägung widerstreitender grundrechtlicher Gewährleistungen auf Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite, dass die Arbeitgeberin eine kurzzeitige, situative Beeinträchtigung ihres Besitzes hinzunehmen hat. Angesichts der örtlichen Verhältnisse kann die Gewerkschaft nur auf dem Firmenparkplatz vor dem Haupteingang mit den zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmern kommunizieren und im Gespräch versuchen, auf Arbeitswillige einzuwirken.«

Nun kann man diesen Hinweisen des BAG selbst keineswegs eine generelle Freigabe entnehmen, es wird ja ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die besonderen Umstände des Falls sowie eine „kurzzeitige, situative Beeinträchtigung“ seitens des Arbeitgebers hinzunehmen sei.

»Muss ein Arbeitgeber den Streikaufruf einer Gewerkschaft auf dem Betriebsgelände hinnehmen? Nach bisheriger Rechtsprechung wohl nicht, doch nun hat das BAG eine kleine Volte hingelegt«, so Robert von Steinau-Steinrück und Nils Jöris in ihrem Beitrag Amazon muss Streik­aufruf auf Fir­men­park­platz dulden. Sie weisen darauf hin, dass das Arbeitsgericht als der Klage von Amazon noch stattgegeben hatte. »Es war der Ansicht, ein Arbeitgeber könne ganz unabhängig vom Ausmaß und der Beeinträchtigung seiner Interessen solche Arbeitskampfmaßnahmen verbieten … Entscheidend war nach Auffassung der ersten Instanz, dass der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, an Arbeitskampfmaßnahmen gegen ihn selbst mitzuwirken. Und hatte das BAG dabei wohl auf seiner Seite gewähnt.«

Aber bereits das Landesarbeitsgericht und nun eben auch das BAG haben das anders gesehen. »Nach ihrer Auffassung kann sich aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) für den Arbeitgeber die Pflicht ergeben, Einschränkungen seiner Eigentums- und Besitzrechte zu dulden.« Im Einzelfall eben, muss man hier hervorheben.

Steinau-Steinrück und Jöris betten das neue Urteil ein in zwei (scheinbar) widersprechende Entscheidungen des BAG: »Mit dieser Entscheidung setzt sich der Erste Senat zum einen von seinem Beschluss vom 15. Oktober 2013 (I ABR 31/12) ab, in dem er bei der Nutzung von Kommunikationsmitteln den Grundsatz „Jeder kämpft für sich“ hoch gehalten hatte, d. h. die Gewerkschaft könne nicht Betriebsmittel des Arbeitgebers zu dessen Schädigung in Anspruch nehmen. Zum anderen setzt sich der Erste Senat von seiner „Flashmob-Entscheidung“ (BAG vom 22.09.2009 – I AZR 972/08) ab, in der er zur Beruhigung der Arbeitgeberseite noch geurteilt hatte, ihm stehe ja das Hausrecht jederzeit als Mittel gegen den gewerkschaftlichen Arbeitskampf zur Verfügung.«

Es wird darauf ankommen, ob der in der Pressemitteilung des BAG erkennbare Hinweis auf den abweichenden Einzelfall auch in der Urteilsbegründung herausgearbeitet wird.

Bettina Scharff hat sich im Expertenforum Arbeitsrecht (#EFAR) unter dieser passenden Überschrift mit der neuen Entscheidung auseinandergesetzt: BAG: (Doch) Kein Freibrief für Streiks auf Betriebsgelände. Auch sie kommt zu dem Ergebnis, dass das BAG „ausdrücklich keinen Freibrief für Streiks auf einem Betriebsgelände und wohl erst Recht nicht für länger dauernde Arbeitskampfmaßnahmen“ erteilt hat. Allerdings merkt Scharff an, dass das BAG weder hinsichtlich der Begründung noch im Ergebnis zu überzeugen vermag – und auch sie stellt auf die bisherige Rechtsprechung ab:

»Den bisher ergangenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zum Verhältnis Grundrecht des Arbeitgebers aus Art. 14 Abs. 1 GG einerseits und durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft andererseits war deutlich zu entnehmen, dass eine vom Arbeitgeber nicht zu tolerierende Grenze erreicht ist, wenn es um Betriebsmittel des Arbeitgebers geht, die die Gewerkschaft für ihren Arbeitskampf nutzt.
So hatten die Erfurter Richter in ihrem Urteil vom 15.10. 2013 (Az.: 1 ABR 31/12) entschieden, dass es nicht zulässig ist, eine betriebliche E-Mail-Adresse dazu zu verwenden, um einen Streikaufruf zu versenden. Der Arbeitgeber müsse nicht an seiner eigenen streikbedingten Schädigung mitwirken. Es sei alleinige Aufgabe der Gewerkschaft, Arbeitnehmer zur Teilnahme am Arbeitskampf zu motivieren. Hierzu habe sie andere Möglichkeiten als die Nutzung der arbeitgeberseitigen Kommunikationsmittel.«

Und Scharff ruft sogar das Bundesverfassungsgericht in den Zeugenstand für ihre grundsätzliche Ablehnungsargumentation: »In zwei aus den Jahren 2011 bzw. 2015 stammenden Entscheidungen (Az. 1 BvR 699/06 und Az. 1 BvQ 25/15) hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlungsfreiheit kein Zutrittsrecht zu nichtöffentlichen bzw. nicht als öffentliches Forum genutzten Orten gewährt.«

Allerdings erschließt sich die von der Verfasserin vorgetragene vehemente Ablehnung einer Ausnahme von der grundsätzlichen Regel, dass das Betriebsgelände nicht für Streikaktionen benutzt werden darf, nicht wirklich, auch das BAG hat deutlich den Einzelfallcharakter hervorgehoben. Mit Scharff kann man aber durchaus diese Hoffnung zum Ausdruck bringen: »Wünschenswert wäre es, dass das Bundesarbeitsgericht zumindest in den Entscheidungsgründen … klarstellt, welche Fälle er nicht mehr als “kurzzeitige”, “situative” Besitzstörung betrachtet.«