Das bayerische Familiengeld – eine Fortsetzungsgeschichte mit grotesken Folgen oder: Das Bayern der zwei Jobcenter-Welten

Am 14. Oktober 2018 wird der neue bayerische Landtag gewählt – und auf den sprichwörtlichen schwarzen Besen, mit dem die CSU die sichere Mehrheit bekommen würde, kann man sich nicht mehr verlassen. Die Umfragewerte für die nach ihrem Selbstverständnis bayerische Staatspartei gehen in den Keller und die Nerven liegen blank. Seit April hat die CSU mehr als zehn Prozent in den Umfragen verloren.

Dabei hatte die CSU nicht nur die Regierungsspitze ausgetauscht und Seehofer nach Berlin abgeschoben, sondern der neue bayerische Ministerpräsident Söder hat auch nach allen alten Regeln der Wahlkampfkunst versucht, potenzielle Wähler mit Wahlgeschenken aus der gut gefüllten Landeskasse zu überzeugen. Und eine der damit verbundenen Maßnahmen zielt auf einen für die CSU besonders wichtigen Bereich – die Familienpolitik. So wurde kurzerhand eine neue Leistung generiert und das bisherige bayerische Betreuungsgeld und das Landeserziehungsgeld sind in diese neue Leistung aufgegangen: das bayerische Familiengeld war geboren und wurde rechtzeitig vor der Wahl zum 1. September in die bayerische Wirklichkeit entlassen, damit sich die Familien über mehr Geld freuen können. 

Eltern mit ein- und zweijährigen Kindern erhalten für ihr erstes und zweites Kind jeweils 250 Euro monatlich pro Kind. Ab dem dritten Kind sind es jeweils 300 Euro monatlich. Die neue Leistung bekommen auch Eltern, die bisher weder Betreuungsgeld noch Landeserziehungsgeld erhalten haben. Die Leistung beginnt nach den ersten zwölf Lebensmonaten bis zum vollendeten 36. Lebensmonat. Für alle Eltern, unabhängig vom Einkommen, unabhängig davon, ob das Kind zu Hause betreut wird oder auch in einer Kindertageseinrichtung bzw. der Kindertagespflege – und besonders interessant: auch bei den Eltern, die sich im Hartz IV-Bezug befinden, soll das Geld ankommen, denn die Leistung, so die bayerische Staatsregierung, soll nicht als Einkommen auf die Grundsicherungsleistungen angerechnet werden.

Das hört sich sehr erfreulich an für die Betroffenen, denen ansonsten so gut wie alle anderen Einkommen angerechnet werden und die jeden Cent gebrauchen können angesichts der (zu) niedrig dimensionierten Leistungen gerade für Kinder. Doch bekanntlich soll man sich nie zu früh freuen. So auch in diesem Fall, denn aus dem fernen Berlin meldete sich der zuständige Hartz IV-Minister Hubertus Heil (SPD) zu Wort mit einer Botschaft, die man von einem sozialdemokratischen Bundessozialminister nun so gar nicht erwartet hätte: Die Nicht-Anrechnung des bayerischen Familiengeldes verstoße gegen Bundesrecht. Die Leistung sei sehr wohl anzurechnen. Über diese Botschaft aus Berlin und die Hintergründe wurde hier bereits ausführlich in dem Beitrag Die Bayern (wollen) kommen. Genauer: Die CSU. Mit einem bayerischen Familiengeld. Für alle. Wenn da nicht – auch und gerade – die Bayern in Berlin wären vom 12. August 2018 berichtet.

Und die Geschichte geht weiter, mittlerweile haben wir Oktober und seit dem vergangenen Monat gibt es die Leistung in Bayern. Und sie wird ausgezahlt, an alle Familien, wie es die CSU versprochen hat.

Also an fast alle Familien. Bei den Hartz IV-Beziehern gibt es nun eine Zweiklassen-Gesellschaft, wobei sich die Zugehörigkeit zu der einen, das Geld bekommenden Klasse davon abhängig ist, ob man im Territorium eines Jobcenters lebt, das in alleiniger Trägerschaft der Kommunen betrieben wird. Denn bei den anderen Jobcentern, die als gemeinsame Einrichtungen von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit geführt werden, gibt es – nichts. Dort wird der Vorgabe aus Berlin gefolgt und eine Anrechnung auf die Hartz IV-Leistungen gemacht – in den sogenannten Optionskommunen hingegen, die unter der Rechtsaufsicht des Freistaates stehen, gibt es eine Anweisung des Landes, keine Anrechnung vorzunehmen und gemäß der bayerischen Rechtsauslegung davon auszugehen, dass das in Ordnung geht.

»Neun von 19 bayrischen Jobcentern hängen mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) zusammen. Die ist für die Leistungen zuständig, muss Bundesrecht umsetzen und danach das Landesgeld vom Regelsatz abziehen. Darüber wacht Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Fazit: Nur zehn sogenannte Optionskommunen können die bayrische Sonderregelung umsetzen«, berichtet Susan Bonath in ihrem Artikel Possenspiel zur Landtagswahl in Bayern. »Konkret bedeutet das zum Beispiel: Das Jobcenter der Stadt München zieht als gemeinsame Einrichtung Hartz-IV-Beziehern die Landesleistung wieder ab … Ganz anders im Landkreis München: Für das dortige Jobcenter, eine Optionskommune, ist eine vom Landessozialministerium im August verfügte Weisung bindend. Trotz Landesfamiliengeld muss diese die vollen Hartz-IV-Sätze auszahlen.« Was lernt man daraus? Vorsicht bei der Wohnsitzwahl? Während die einen in die Röhre schauen müssen, haben andere Landeskinder Glück – konkret, wenn sie hier wohnen:  Ingolstadt, Schweinfurt, Erlangen und Kaufbeuren oder in den Landkreisen Würzburg, Ansbach, München, Miesbach, Günzburg und Oberallgäu.

Wie kann es zu so einem Durcheinander kommen? Die bayerische Staatsregierung begründet ihre Sichtweise so: Der Grundsatz des Nachrangs von Hartz IV gelte nicht, wenn andere Leistungen »ausdrücklich einem anderen Zweck als dem der Grundsicherung dienen«. Schließlich formuliere das Bayrische Familiengeldgesetz eine konkrete Erwartung, wie das Geld zu verwenden sei, berichtet Bonath.

An dieser Stelle ist ein Blick in die gesetzliche Grundlage hilfreich – also in das Bayerisches Familiengeldgesetz (BayFamGG). Dort finden wir gleich am Anfang im Artikel 1 BayFamGG die Zweckbestimmung des hier normierten bayerischen Familiengeldes: »In Weiterentwicklung des Bayerischen Landeserziehungsgeldes erhalten Eltern mit dem Bayerischen Familiengeld eine vom gewählten Lebensmodell der Familie unabhängige, gesonderte Anerkennung ihrer Erziehungsleistung. Eltern erhalten zugleich den nötigen Gestaltungsspielraum, frühe Erziehung und Bildung der Kinder einschließlich gesundheitsförderlicher Maßnahmen in der jeweils von ihnen gewählten Form zu ermöglichen, zu fördern und insbesondere auch entsprechend qualitativ zu gestalten. Das Familiengeld dient damit nicht der Existenzsicherung. Es soll auf existenzsichernde Sozialleistungen nicht angerechnet werden.«

Und um den Bund nun aber so richtig zu zeigen, was eine rechtswissenschaftliche Harke ist, hat man ein Gutachten in Auftrag gegeben und bezahlt, mit dem der Standpunkt der bayerischen Staatsregierung aber sowas von untermauert werden soll: Neues Rechtsgutachten: Familiengeld darf nicht angerechnet werden!, so die Überschrift einer Mitteilung des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales. Und die Konsequenz wird gleich mit auf den Weg gegeben – sie hätte auch von einem engagierten Sozialverband kommen können: „Die Rechtslage ist eindeutig. Bitte überdenken Sie ihre Position und strafen Sie nicht die Familien, die Unterstützung wirklich nötig haben!“ So appelliert Bayerns Familienministerin Kerstin Schreyer an den SPD-Bundesminister Hubertus Heil.

Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht an der Universität Augsburg (Bayern), hat das Gutachten verfasst. Das Ministerium zitiert diese Ergebnisse: »Die Anrechnung des Bayerischen Familiengeldes auf das Arbeitslosengeld II ist rechtswidrig. Das Familiengeld ist eine Fortentwicklung des Bayerischen Landeserziehungsgeldes. Beide Leistungen weisen wesentliche Gemeinsamkeiten auf. Deshalb ist das Familiengeld – wie das Landeserziehungsgeld – anrechnungsfrei. Das Familiengeld hat einen anderen Zweck als existenzsichernde Leistungen (insbesondere Hartz IV). Auch deshalb ist es anrechnungsfrei.«

Wer es nun ganz genau wissen will, kann das Gutachten hier einsehen:

➔ Ferdinand Wollschläger (2018): Gutachten für die Bayerische Staatsregierung zur Frage der Anrechenbarkeit des Familiengeldes auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch II, Augsburg, 21. September 2018

Und die Berliner? Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) erklärte »zwar, das Gutachten prüfen zu wollen. Ein Sprecher betonte aber, dass es an der grundsätzlichen Auffassung festhalte, wonach das Familiengeld als Einkommen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende angerechnet werden müsse. Dieser Auffassung widerspricht Wollenschläger in dem 98-seitigen Gutachten aber ausdrücklich. „Es überrascht nicht, dass das von Bayern in Auftrag gegebene Gutachten den dortigen Rechtsstandpunkt, den das BMAS nicht teilt, unterstützt“, hieß es aus Berlin.«

Wenn nun der eine oder andere fragen sollte, wer denn hier richtig und wer falsch liegt – dann muss man unbeschadet des Ergebnisses eines Gutachtens sagen, dass das gar nicht so leicht zu entscheiden ist, immer vor dem Hintergrund der bestehenden Rechtslage. Der entscheidende Punkt scheint zu sein, dass die Leistung aus bayerischer Sicht deshalb nicht angerechnet werden soll, weil sie einer Zweckbindung unterliege, die im hier bereits zitierten Artikel 1 des BayFamGG niedergeschrieben wurde. Es geht also um eine »gesonderte Anerkennung ihrer Erziehungsleistung«. Man will über den Geldbetrag »den nötigen Gestaltungsspielraum, frühe Erziehung und Bildung der Kinder einschließlich gesundheitsförderlicher Maßnahmen in der jeweils von ihnen gewählten Form zu ermöglichen, zu fördern und insbesondere auch entsprechend qualitativ zu gestalten« schaffen. Hier nun mault Berlin zurück, dass aber keine Kontrolle dieses behaupteten Zweckbindung vorgesehen sei – wohl wissend, dass das auch gar nicht wirklich funktionieren kann bzw. allein der Versuch eines solchen Unterfangens wäre ein bürokratischer und rechtsstaatlicher Albtraum. Und man könnte anfügen, dass natürlich ein Teil des Geldes oder der gesamte Betrag für die faktische Existenzsicherung seitens der betroffenen Familien verwendet wird.

Um es an dieser Stelle zu bilanzieren – die Frage, ob sich das Pendel ins preußische Berlin oder ins mediterrane München neigen wird, kann schlussendlich nur gerichtlich entschieden werden. Kurzum: Berlin müsste Bayern verklagen. Davon ist aber bislang noch nicht zu hören, wie überhaupt das BMAS auf Tauchstation geht. Offensichtlich will man bis zum 14. Oktober toter Mann spielen. Vielleicht ist dann ja eine andere Regierung …

Und außerdem: Was wäre eigentlich, wenn der Bund die Bayern verklagt und man bekommt ein Urteil, dass die Rechtswidrigkeit der Nicht-Anrechnung des ausgezahlten Familiengeldes in den kommunalen Jobcentern bestätigt (was natürlich eine ganz Weile dauern wird, bis so ein Urteil käme)? Müssten dann die Betroffenen, die jetzt das Glück haben, nicht in der familiengeldfreien Zone zu leben, das erhaltene Familiengeld wieder zurückzahlen? Und wenn nicht, wäre dass dann nicht eine Doppelung der Ungfleichbehandlung in Abhängigkeit vom Wohnort innerhalb des gespaltenen Bayern. Man kann schon erkennen, in welchem Morast wir hier hineinschlittern.

Aber beide Seiten spielen hier ein mehr als fragwürdiges Spiel. Es wurde bereits im letzten Beitrag darauf hingewiesen, dass die Bayern eine mehr als doppelmoral daherkommendes Spiel spielen. Denn bei „ihrem“ Familiengeld drücken sie auf die Tränendrüse und rücken den „herzlosen“ Bundesarbeitsminister ins negative Licht des Blockierers, der verhindern wolle, dass den armen Familien auch was zugute kommt. Dabei war es in der Vergangenheit gerade die CSU aus Bayern – die bekanntlich (noch) mit in der Bundesregierung sitzt -, die in Berlin immer einen harten Kurs gefahren ist, wenn es um Anrechnungsfragen bei Hartz IV geht. Man erinnere sich bitte an die auf Druck der Bayern überhaupt erst eingeführte Bundesleistung Betreuungsgeld, die dann aber durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur eine kurze Lebensspanne hatte. Beim Betreuungsgeld, das ja auch eine spezifische Zweckbindung hatte, bestand die CSU auf einer Anrechnung der Leistung auf den Hartz IV-Anspruch. Und das Elterngeld wird auch angerechnet auf die Grundsicherungsleistungen – allerdings erst seit 2011, bis zu dem Jahr wurde es nicht angerechnet. Man hat das damals gemacht, um Geld zu sparen (und den Druck auf die Sozialleistungsempfänger zu erhöhen).

Der Hinweis auf die (Nicht-)Anrechnung des Elterngeldes bei SGB II-Leistungen ist deshalb wichtig, weil es verdeutlicht, dass das bei allen offenen juristischen Auslegungsklimmzügen zuvorderst politische Entscheidungen sind, die man mal für, mal gegen die Betroffenen gestalten kann. Und an dieser Stelle hätte man erwartet, dass der sozialdemokratische Minister Hubertus Heil (SPD) die Bayern zwar darauf hinweist, dass sie gegen das Bundesrecht verstoßen (wenn es denn so sein sollte), aber man doch gerade als Sozialdemokratie die Lebenslagen der betroffenen Familien verbessern möchte. Er hätte dann den Ball nach München zurückspielen und die CSU auffordern können, mit ihm gemeinsam in Berlin die gesetzlichen Regelungen zugunsten einer verbesserten Nicht-Anrechnung bestimmter Leistungen im SGB II zu verändern. Warum nur hat man bislang von so einer Offensive nichts gehört? Weil es solche Überlegungen bei dem SPD-Minister vielleicht gar nicht gibt? Und man „nur“ die Bayern mit ihrem „großzügigen“ Umgang vorführen wollte vor der Wahl? Fragen über Fragen und ein ganz schlechter Nachgeschmack.