Zucker für einige Kinder, Peitsche für die Arbeitslosen? Der französische Präsident Emmanuel Macron und der Tagesordnungspunkt Armut

Emmanuel Macron ist seit dem 14. Mai 2017 Staatspräsident von Frankreich. Er war von  August 2014 bis August 2016 Wirtschaftsminister im Kabinett unter Staatspräsident François Hollande, dem glücklosen Vorgänger Macrons im höchsten Amt der französischen Republik. Und gerade Hollande hatte sich mit dem für die Linken so wichtigen Thema Armut und Arbeitslosigkeit schwer getan. Am Ende seiner Regierungszeit hatte Hollande versucht, eine Art Kopie der deutschen Agenda 2010 in reduzierter Form durchzudrücken – sicher mit ein wichtiger Grund für die abgrundtiefe Enttäuschung, die viele Franzosen mit Hollande verbinden (vgl. dazu den Beitrag Ein deutscher Wiedergänger in der französischen Arbeitsmarktpolitik? Der sozialistische Präsident Hollande versucht 2016, den Gerhard Schröder zu machen vom 20. Februar 2016).

Macron ist sicher von nicht wenigen Franzosen gewählt worden, weil sie sich mit ihm und der von ihm gegründeten Partei La République en Marche einen Abbau der hohen Arbeitslosigkeit in Frankreich versprochen haben. Die französische Arbeitslosenquote ist zwar seit 2017 rückläufig, liegt aber immer noch deutlich über der in Deutschland. Und auch in Frankreich gibt es erhebliche Probleme mit der Einkommensarmut, obgleich der Anteil einkommensarmer Menschen niedriger ist als in Deutschland, was auch und vor allem mit dem bisherigen sozialen Sicherungssystem zu tun hat.

Nach Angaben der Statistikbehörde Insee leben in Frankreich rund 8,8 Millionen Menschen der 67 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze, darunter drei Millionen Kinder. Das entspricht rund 14 Prozent der Bevölkerung und damit weniger als in Deutschland. Nicht nur in Frankreich gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügt, also bei unseren Nachbarn über weniger als 1.026 Euro im Monat. Und während Macron in den vergangenen Monaten immer wieder versucht hat, auf der internationalen Bühne mit seinen europapolitischen Reformvorschlägen zu glänzen (wobei er aber auf die notwendige Antwort aus Berlin hinsichtlich einer deutschen Beteiligung monatelang warten musste, um dann auch noch inhaltlich enttäuscht zu werden), kam von ihm in den sozialpolitischen Kernbereichen Armut und Arbeitslose nur wenig – bis gar nichts.

Das mag den einen oder anderen nicht überraschen, wenn man sich anschaut, was er denn im Wahlkampf zur französischen Präsidentschaft zu sozialpolitischen Themen ausgeführt hat. Dazu der Beitrag Eine Wahl zwischen Pest und Cholera oder doch eine notwendige „Modernisierung“? Der „halbierte“ Wahlsieg von Emmanuel Macron in Frankreich und die Sozialpolitik vom 7. Mai 2017. Bereits damals konnte man mit Blick auf Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik lesen:

»Macron sieht die Arbeitsmarktpolitik als zentrale Stellschraube seiner Wirtschaftspolitik. Massenarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung werden als größtes Problem in Frankreich identifiziert und ihre Ursachen in angebotspolitischen Barrieren und Hürden verortet. Macron will Unternehmen steuerlich entlasten und Selbstständigkeit fördern. Bürokratische Hürden sollen abgebaut und Steuerfreibeträge verdoppelt werden. Ziel der Maßnahmen ist es, die Arbeitskosten zu reduzieren und somit Einstellungen zu erleichtern. Die Einstellung von Geringqualifizierten und MindestlohnverdienerInnen soll durch einen Wegfall von Sozialabgaben gefördert werden. Überstunden etwa sollen von Sozialabgaben ausgenommen und steuerlich besser gestellt werden. Die dadurch entstehenden Ausfälle in den Sozialkassen will Macron durch eine Erhöhung der Sozialsteuer CSG ausgleichen.Parallel ist eine stärkere «Aktivierung» von Arbeitssuchenden geplant. Die finanzielle Mittel der Arbeitsämter (pôle emploî) sollen ebenso wie die Personaldecke aufgestockt werden, um eine stärkere Kontrolle und Überwachung von LeistungsbezieherInnen zu gewährleisten.«

Explizit wollte Macron auf die arbeitsmarktpolitischen Rezepte von Nicolas Sarkozy zurückgreifen. Dieser hatte Anfang 2008 eine Änderung der Arbeitslosenversicherung durchsetzen können, welche stärkere Aktivierungsmechanismen beinhaltete. Aufgrund des Personalmangels in den Arbeitsämtern konnte diese jedoch nie wirklich im geplanten Umfang umgesetzt werden. Macron schließt nun daran an. «Aktivierungs- und Sanktionselemente» in der Arbeitslosenversicherung sollen verstärkt und ausgebaut werden. Jedem, der zwei Arbeitsangebote ablehnt oder dessen «Intensität der Jobsuche» den Arbeitsämtern nicht ausreichend erscheint, soll die Arbeitslosenunterstützung vollständig gestrichen werden können. Also gleichsam die Seite des „Forderns“. Aber auch damals schon gab es weitere Ideen ins einem Umfeld: Macron plädierte für eine Universalisierung der Arbeitslosenversicherung. Künftig sollen auch Arbeitnehmer, die von sich aus kündigen, sowie Bauern, Selbstständige, HandwerkerInnen etc. Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben.

Aber das war vor der Wahl und zwischenzeitlich ist Macron vor allem durch arbeitgeberorientierte Eingriffe in das Arbeitsrecht hervorgetreten. Alle anderen Punkte waren bislang eine Leerstelle. Stattdessen hat er die Vermögenssteuer für die Reichen abgeschafft. Bislang hat der ehemalige Investmentbanker ein amerikanisch wirkendes Lebensgefühl ausgestrahlt nach dem Motto: Man muss nur wollen. Und vielleicht noch bedeutsamer mit Blick auf seine (Nicht-)Beliebtheit ist die Tatsache gewesen, dass ein Video aufgetaucht ist, in dem der Präsident in salopper Sprache das „Schweinegeld“ kritisierte, das in Frankreich für Sozialhilfe ausgegeben werde, aber die Menschen nicht aus der Armut raushole.

Dabei ist Armut sehr wohl ein Problem: »Jeder fünfte Franzose hat nach einer Umfrage nicht ausreichend Geld für Lebensmittel. In dem … Armutsbarometer der Hilfsorganisation Secours populaire (Volkshilfe) gaben 21 Prozent der Befragten an, sie könnten sich keine drei Mahlzeiten am Tag leisten. Mit 27 Prozent beklagte sogar mehr als jeder Vierte, er habe nicht genug Geld, um täglich Obst und Gemüse zu essen. In der Umfrage des Instituts Ipsos gaben 39 Prozent an, sie hätten persönlich schon einmal Erfahrungen mit Armut gemacht. Rund 41 Prozent gaben an, sie hätten Schwierigkeiten, einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren. Fast jeder dritte Franzose betonte, für ihn seien viele Arztrechnungen zu hoch«, so dieser Artikel: Jeder fünfte Franzose hat zu wenig Geld für Lebensmittel.

Seine defizitäre Sprechfähigkeit zu den sozialen Problemen des Landes ist zunehmend auf Kritik gestoßen und auch generell befindet sich der smarte Präsident in einem ziemlich tiefen Beliebtheitsloch (Macron ist in den Umfragen bei einem historischen Tief angekommen, das nicht einmal seine Vorgänger nach so kurzer Zeit im Amt erreicht hatten), so dass nun auch an der so wichtigen sozialpolitischen Front etwas getan werden muss. Denn bereits seit einem Jahr kündigt Emmanuel Macron einen Plan zur Bekämpfung der Armut an, der aber mehrfach verschoben wurde. Kein Wunder, denn er brauchte die Zeit, um das vorzulegen, was er selbst konzeptionell als „Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. Darunter macht es der Herr Präsident nicht. Ziel der „Neuerfindung“ des Sozialstaats sei es nicht, „ein klein wenig besser in der Armut zu leben, sondern sie hinter sich zu lassen“. So Martina Meister in ihrem Artikel Frankreichs Präsident will „Aktivitätseinkommen“ einführen.

Was um alles in der Welt ist denn ein „Aktivitätseinkommen“? Alle, die hier ganz bestimmte Assoziationen haben, werden nicht enttäuscht werden. Ganz wichtig ist bei dieser nur scheinbaren Wortakrobatik, dass es um Abgrenzung geht. Um Distanzierung von dem, was unter dem Terminus vom „bedingungslosen Grundeinkommen“ in den Köpfen und Reden vieler Menschen herumgeistert. »Acht Milliarden Euro sollen in den nächsten vier Jahren in diverse Strategien der Armutsbekämpfung fließen. Im Mittelpunkt des Plans der Armutsbekämpfung steht das Versprechen eines Grundeinkommens, das jedem Bürger zustehen soll«, berichtet Martina Meister. Und mehr:

»Bis 2020 soll das Gesetz über das Grundeinkommen verabschiedet sein, wobei vorerst offenblieb, welche Höhe es haben soll. Auch ist unklar, was genau die Formulierung revenu universel d’activité bedeuten soll, die nur ungenau mit dem sperrigen Wort „Aktivitätseinkommen“ übersetzt werden kann. Offenkundig soll die Transferleistung abgegrenzt werden vom Konzept eines „bedingungslosen“ Grundeinkommens, das in Ländern wie Finnland bereits erprobt wurde.«

Und das, was sie aus Frankreich berichtet, kommt uns hier in Deutschland mehr als bekannt vor: »Es geht um eine Reform der bestehenden Sozialleistungen, deren Zusammenfassung und Vereinfachung, auch das Antragssystem soll besser und transparenter werden. Macron bezeichnete das französische System als „absurd“ und „oft schockierend“, weil es teilweise lukrativer sei, Sozialhilfe zu beziehen, als im Niedriglohnsektor eine Beschäftigung zu suchen. Das Antragssystem sei ein „Dschungel“, in dem sich niemand zurechtfinde, nicht einmal Experten.«

Und nun kommt der besondere Zugriff auf die Arbeitslosen:

➔ »Die Reform soll … nicht nur das System vereinfachen, sondern diejenigen, die durch die Maschen des sozialen Netzes gefallen sind, individuell begleiten und Vorschläge für Ausbildung oder Beschäftigung machen. Wer zwei Vorschläge bei diesem „Parcours der Eingliederung“ abgelehnt hat, verlöre dann sein Anrecht auf das Grundeinkommen.«

Natürlich ist klar, dass das Anziehen der Daumenschrauben bei den Arbeitslosen kompensiert werden muss durch positive Botschaften. Und dafür findet man dann diese Ansätze:

➔ »Besondere Aufmerksamkeit will man in Zukunft Schulabbrechern widmen. Jedes Jahr brechen 20.000 Jugendliche die Schule ab, insgesamt gibt es 60.000, die vom „Radar verschwunden sind“, weil sie weder die Schule besuchen noch arbeiten oder eine Ausbildung begonnen haben. Fortan soll es eine „Bildungspflicht“ bis zur Volljährigkeit geben.«

Und eine ganz besonders hervorgehobene Rolle sollen die unschuldigen kleinen Kinder spielen, die nun wirklich nichts für ihre Lebenslage können:

➔ »30.000 zusätzliche Krippenplätze sollen geschaffen und die Kommunen dabei stärker unterstützt werden. In Armutsvierteln will der Staat den Kommunen die finanzielle Last bei der Schaffung neuer Krippenplätze abnehmen und 90 Prozent der Kosten übernehmen. Dort soll es für bedürftige Kinder in Zukunft auch die Möglichkeit geben zu frühstücken. Das Mittagessen in den Schulkantinen soll landesweit für Geringverdiener nicht mehr als einen Euro kosten. Bislang konnten die Kommunen über die Tarife entscheiden. Die Verluste sollen durch staatliche Finanzierung ausgeglichen werden.«

Auch Eva Oer hat sich mit den Umrissen dessen, was aus Frankreich bekannt wurde, in ihrem Artikel unter der haushaltstechnisch reduziert daherkommenden Überschrift  Acht Milliarden Euro gegen Armut beschäftigt. Die acht Milliarden Euro sollen übrigens über den Zeitraum von vier Jahren ausgegeben werden. Und noch etwas sollte man wissen, um die Summe einzuordnen: »Erst im Frühjahr … hatte er einen ambitionierten Plan zur Aufwertung der heruntergekommenen Vorstädte zu einer Sparvariante zusammengekürzt – der hätte insgesamt 38 Milliarden Euro gekostet«, merkt Nadia Pantel unter der mehr als skeptischen Überschrift Plötzlich sozial an.

Dass es dem Präsidenten nicht um ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ bei seinem „revenu universel d’activité“ geht, verdeutlicht auch dieser Passus: »Macron schwebt vor, verschiedene Sozialleistung zu einem „Aktivitätseinkommen“ zu bündeln und den EmpfängerInnen bestimmte Pflichten zur Arbeitssuche aufzuerlegen. Es sei „inakzeptabel, dass viele, die eine Arbeit aufnehmen könnten, es nicht tun“, erklärte Macron. In solchen Fällen müsse es Pflichten und Sanktionen geben.«

Die ersten Reaktionen in Frankreich seitens der Opposition, von denen Eva Oer berichtet, sind harsch: „Das ist das Ende des Wohngeldes und die Verpflichtung, eine miese Arbeit zu akzeptieren“, wetterte etwa der Abgeordnete Bastien Lachaud von der linken Partei La France Insoumise auf Twitter. Die konservativen Republikaner als größte Oppositionspartei warfen Macron vor, er setze allein auf „Metaphern“ und die „Magie der Worte“.

Das passt auf alle Fälle zu der Inszenierung, die Macron gewählt hat und von der Nadia Pantel unter der Überschrift Genosse Emmanuel berichtet: »Seit Monaten warten Frankreichs politische Kommentatoren darauf, dass Macron irgendeine sozialdemokratische Regung zeigt. Nun ist diese Regung zu einem richtigen Ausbruch geraten. Der Präsident hat ins „Museum des Menschen“ geladen, um seinen „Plan gegen die Armut“ vorzustellen. Wenn etwas nicht zu kurz kommt in dieser Amtszeit, dann die ausdauernde Suche nach den richtigen Symbolen. In dem Museum also, in dem erklärt wird, wie der Mensch, angefangen beim Neandertaler, zum aufrechten Gang fand, entwirft der Präsident die Vision eines Landes, in dem jeder in Würde und ohne Angst und Scham leben kann.« Auch Pantel bilanziert, dass »Teile seines Programms weniger nach einem großen Wurf als nach altbekannten Rezepten (klingen), mit denen die Ursachen der Armut nicht bekämpft werden können. Gleichzeitig kündigte er Strategien für den Umgang mit Langzeitarbeitslosen an, die an das deutsche Hartz-IV-System erinnern.«

Fazit: Das, was Macron und seine Mannschaft da präsentieren, fügt sich durchaus ein in die Bewertung, die 2017 von Felix Syrovatka in seiner Ausarbeitung Die Rückkehr der Modernisten. Der untypische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron und seine Bewegung «En Marche!» so formuliert hat: »Unterstrichen wird die stark angebotspolitische Ausrichtung durch das Gros der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Vorschläge. Man setzt in erster Linie auf eine Kostenreduzierung der Ware Arbeitskraft und auf eine Flexibilisierung der Löhne «nach unten». Lohnkosten werden als zentrale Stellschraube zu Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs auf dem Weltmarkt und auf dem europäischen Binnenmarkt angesehen … Damit knüpft das Programm … im Prinzip an das an, was Macron in seiner Funktion als Wirtschaftsminister von 2014 bis August 2016 unter Präsident Hollande verfolgt hat. Sowohl das «Loi Macron» als auch das «Loi El Khomri» hatten in erster Linie eine Senkung der Lohnkosten zum Ziel. Insgesamt erinnern die vorgesehenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen an die Reformagenden der sozialdemokratischen Regierungen in Deutschland und Großbritannien in den 1990er und 2000er Jahren.«

Das aber ist sicher nicht der „Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts“, sondern eher kalter Kaffee.