Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen liegt hinter uns und hat ein Erdbeben in der Politik ausgelöst. Die Sozialdemokratie habe ihre „Herzkammer“ verloren, wenn man der blumigen Terminologie folgen will. Und die dritte Wahlniederlage der SPD in Folge seit der Inthronisation des Kanzlerkandidaten Martin Schulz hat den offensichtlich mehr als lädiert. Die Umfragewerte für die SPD gehen nach unten und die für die Union nach oben. In einem Abwasch wird dann auch gleich behauptet, auf das Thema soziale Gerechtigkeit zu setzen, zahle sich nicht aus, das könne man ja jetzt sehen, weil es die Leute gar nicht interessiert, denn es gehe ihnen gut. Interessanterweise zeigt allerdings eine Analyse der Themen, die für die Wähler wahlentscheidend waren, dass in NRW mit 46 Prozent auf Platz 1 die „Soziale Gerechtigkeit“ stand, so infratest dimap, wie Philipp Seibt in seinem Artikel Drei Lehren für das große Finale berichtet. Was daraus dann hinsichtlich der konkreten Wahlentscheidung folgt und wie das mit den anderen Themen gewichtet wird, darüber kann man sicher lange streiten.
Aber nicht bestreiten lässt sich diese Diagnose: »Die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Stadtvierteln zeigt sich immer deutlicher auch in der Wahlbeteiligung. Während in den sozialen Brennpunkten der Städte in Nordrhein-Westfalen Wahlmüdigkeit und Demokratieverdrossenheit wachsen, kommt es in den besseren Vierteln zu „einer Art bürgerlicher Gegenmobilisierung“, ergab eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Damit verschärft sich ein besorgniserregender Trend der vergangenen Jahre.
Interessanterweise wird die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen als eine „populäre“ und zugleich als eine „sozial prekäre“ Wahl charakterisiert. Dass sie eine „populäre“ Wahl gewesen sei, machen die Autoren der Studie an der gestiegenen Wahlbeteiligung fest: Zum achten Mal in Folge ist bei einer Landtagswahl in Deutschland die Wahlbeteiligung gestiegen. Mit 65,2 Prozent und einem Anstieg in Höhe von 5,6 Prozent aller Wahlberechtigten hat die Wahlbeteiligung den höchsten Wert bei einer NRW-Landtagswahl seit mehr als zwei Jahrzehnten erreicht. Auf der anderen Seite verdeckt die eine Zahl der Wahlbeteiligung wichtige Unterschiede, die man so verdichten kann: „Je wirtschaftlich schwächer ein Stimmbezirk ist, umso geringer ist dort die Wahlbeteiligung“, wird Studienleiter Robert Vehrkamp zitiert. Die soziale Spaltung zwischen Wählern und Nichtwählern habe sich nochmals verschärft.
Es handelt sich um diese Studie:
➔ Robert Vehrkamp et al. (2017): Populäre Wahlen – NRW. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Landtagswahl Nordrhein-Westfalen 2017, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, Mai 2017
Über die Studie berichtet die Bertelsmann-Stiftung unter der Überschrift Landtagswahl in NRW: Soziale Spaltung der Wahlbeteiligung hat sich verschärft: Analysiert wurde die Höhe, die Veränderung und das soziale Profil der Wahlbeteiligung für 274 für ganz Nordrhein-Westfalen repräsentative Stimmbezirke und für insgesamt 158 Stadtteile in vier Großstädten (Düsseldorf, Köln, Dortmund und Bielefeld). Ein nicht nur, aber auch sozialpolitisch besonders brisantes Ergebnis:
»Je wirtschaftlich schwächer und sozial prekärer die Milieustruktur in einem Stimmbezirk ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung, und desto geringer fiel auch der Anstieg der Wahlbeteiligung aus. In den wirtschaftlich stärkeren Milieus der Mittel- und Oberschicht ist die Wahlbeteiligung dagegen deutlich höher, und auch stärker gestiegen. Das hat die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung weiter verschärft. In den Stimmbezirken mit der niedrigsten Wahlbeteiligung finden sich prozentual fast viermal so viele Arbeitslose und knapp doppelt so viele Menschen ohne Schulabschluss wie in den wählerstärksten Stimmbezirken.«
In der unteren Gruppe der Stimmbezirke liegt die Wahlbeteiligung im Schnitt bei 49,3 Prozent. In den Bezirken mit den höchsten Wahlbeteiligungen liegt der Wert bei 79,2 Prozent – eine Kluft von fast 30 Prozent.
Profitiert von der Nichtwählermobilisierung haben vor allem die CDU und die FDP. Fast zwei Drittel (520.000) aller zusätzlich mobilisierten Nichtwähler (810.000) haben bei der Landtagswahl 2017 für die CDU (430.000) oder die FDP (90.000) gestimmt. Deutlich weniger erfolgreich war die SPD, die nur etwa 170.000 Nichtwähler zusätzlich mobilisieren konnte. Und dieser Zusammenhang ist dann auch interessant:
»Ein weiterer Grund für das schwache Abschneiden der SPD ist die geringe Wahlbeteiligung in ihren sozialen Stammwählermilieus. Die SPD erzielt vor allem dort gute Ergebnisse, wo die Wahlbeteiligung gering ist: Je geringer die Wahlbeteiligung in einem Stimmbezirk, desto besser ist das Ergebnis der SPD. Aufgrund der geringeren Wahlbeteiligung schlagen sich diese Erfolge im Gesamtwahlergebnis der SPD allerdings weniger nieder als die überdurchschnittlichen Ergebnisse der CDU und FDP in den sozial stärkeren Wählerhochburgen.«
Ein weiterer Aspekt ist das Abschneiden der AfD. Deren Gesamtergebnis liegt zwar mit 7,4 Prozent unter den Werten aus anderen Bundesländern in den vergangenen zwei Jahren, aber in Nordrhein-Westfalen zeigt sich ein interessanter Befund: In 14 Wahlkreisen blieb die AfD unter 5, in 14 Wahlkreisen kam sie über 10 Prozent. Schaut man sich die Wahlkreise an, in den die AfD über 10 Prozent gekommen ist, dann muss man feststellen, dass die alle im Ruhrgebiet liegen, gleichsam die Innenkammer der sozialdemokratischen Herzkammer, wenn man das anfangs zitierte Bild weitertreiben will.
Das ist in mehrfacher Hinsicht ein Dilemma für die SPD: Auf der einen Seite punktet sie laut Studie der Bertelsmann-Stiftung gemessen am Korrelationskoeffizienten bei den Haushalten mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status (übrigens zusammen mit der AfD und den Linken), auf der anderen Seite gehen die nur unterdurchschnittlich zur Wahl. Wenn man aber thematisch deren Anliegen nicht mehr aufgreift und zu vertreten versucht, um stattdessen an die Stimmen der Haushalte im oberen sozio-ökonomischen Bereich zu kommen, dann wird man dort möglicherweise wenig Erfolg haben, weil FDP, Union (und auch Grüne) dort vielleicht eher als Originale angesehen werden, gleichzeitig aber besteht die Gefahr, dass man viele derjenigen aus dem unteren Bereich, die noch zur Wahl gehen, an andere Parteien verliert und das Gesamtgefüge ins Rutschen nach unten gerät.
Nun sind das alles keine neuen oder gar überraschenden Befunde. Die Bertelsmann-Stiftung selbst hatte sich anlässlich der Bundestagswahl 2013 das Wahlverhalten in einer vertiefenden Analyse angeschaut. Herausgekommen ist diese Studie:
➔ Armin Schäfer, Robert Vehrkamp, Jérémie Felix Gange (2013): Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Gütersloh 2013.
Man erkennt auf einen Blick, dass der Zusammenhang zwischen der Höhe der Wahlbeteiligung und der Ausprägung der Arbeitslosenquote mehr als eindeutig ist.
Und 2015 publizierte die Stiftung diese Arbeit: Robert Vehrkamp (2015): Politische Ungleichheit – neue Schätzungen zeigen die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung, Gütersloh 2015. In dieser Studie wurden Schätzungen zur Wahlbeteiligung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2013 präsentiert:
Die Wahlbeteiligung der sozialen Oberschicht liegt um bis zu 40 Prozentpunkte über der Wahlbeteiligung der sozial schwächeren Milieus. Die sozial benachteiligten Milieus sind im Wahlergebnis um bis zu ein Drittel unterrepräsentiert. Ihr Anteil an den Nichtwählern ist fast doppelt so hoch wie ihr Anteil an allen Wahlberechtigten.
Nun wird das den einen oder anderen erinnern, dass es hinsichtlich der Frage nach den möglichen Auswirkungen der sozialen Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung vor kurzem einen Streit gab bei der Erstellung des 5. Armut- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Regierung strich heikle Passagen aus Armutsbericht, so war einer der Artikel dazu überschrieben:
»Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte im März 2015 angekündigt, in dem Bericht erstmals den Einfluss von Eliten und Vermögenden auf politische Entscheidungen untersuchen zu lassen. Ihr Ministerium gab daher eine Studie bei dem Osnabrücker Politikwissenschaftler Armin Schäfer in Auftrag. Dessen Erkenntnisse flossen in den Bericht, den das Arbeitsministerium im Oktober vorlegte. So wurde in dieser ersten Fassung noch von einer „Krise der Repräsentation“ gewarnt: „Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“ Diese Aussagen fehlen nun. Ebenso gestrichen wurde dieser Satz aus der Studie der Forscher: In Deutschland beteiligten sich Bürger „mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen“.«
Das wollte der eine oder andere Entwurfsprüfer in der Bundesregierung einfach nicht im Endbericht stehen haben, deshalb die Löschaktion, die aber entsprechend kritisch in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, womit man dem Thema wahrscheinlich zu mehr Aufmerksamkeit verholfen hat als es sonst bekommen hätte. Bei der im Artikel angesprochenen Studie handelt es sich um diese Arbeit:
➔ Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer (2016): Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015. Endbericht, Osnabrück, 02.06.2016
Die Forscher kommen in ihrer Zusammenfassung der Befunde zu dem recht eindeutigen Ergebnis, dass sie erstmals für Deutschland nachweisen konnten, »dass politische Entscheidungen mit höherer Wahrscheinlichkeit mit den Einstellungen höherer Einkommensgruppen übereinstimmen, wohingegen für einkommensarme Gruppen entweder keine systematische Übereinstimmung festzustellen ist oder sogar ein negativer Zusammenhang.« (S. 42)
Das folgt natürlich auch einer inneren Logik bzw. Zwangsläufigkeit, wenn man von der Annahme ausgeht, dass die Politiker, die gewählt werden müssen, darauf zu achten haben, wie die Wahlbeteiligung der einzelnen Gruppen aussieht und was sie denen anbieten sollten, um an deren Stimmen zu kommen, die sich angesichts ihrer höheren Wahlbeteiligung im wahrsten Sinne des Wortes auszahlen. Spiegelbildlich bedeutet das aber auch: Selbst wenn ich mich als Politiker massiv für die Anliegen der Menschen in sozialen Brennpunkten einsetze, dann bedeutet das nicht nur Widerstand eines Teils der mittleren und oberen Einkommensgruppen gegen möglicherweise damit verbundene Umverteilungsmaßnahmen – sondern man wird auch noch nicht einmal von denen gewählt, für die man sich eingesetzt hat.
Daraus kann eine Untergewichtung, im Extremfall sogar eine ablehnende Haltung gegenüber Anliegen resultieren, bei denen es um mehr soziale Gerechtigkeit geht für Menschen im unteren Einkommensbereich. Und das wird möglicherweise nicht nur durch die Repräsentationslücke aufgrund der unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung generiert, sondern auch durch die Art und Weise, wie man in die Parlamente kommt. Dazu muss man für ein Abgeordnetenmandat kandidieren. Hierzu hat das Politikmagazin „Monitor“ (ARD) in einem Beitrag vom 18.05.2017 berichtet: Ohne Geld kein Mandat? Die teure Mitgift der Bundestagskandidaten: »Der Bundestagswahlkampf ist für viele Kandidaten ein teures Vergnügen. Nur wer privates Geld mitbringt, wird auch aufgestellt, heißt es bei den Parteien immer wieder. Laut einer Studie kostet der Bundestagswahlkampf einen einzelnen Kandidaten 10.000 bis 70.000 Euro. Wer dabei nicht mitmacht, hat deutlich schlechtere Chancen. Eine Bundestagskandidatur nur für Besserverdienende?«
Wie verbreitet die Eigenbeteiligung an den Wahlkampfkosten ist, zeigt auch die Deutsche Kandidatenstudie, eine Befragung unter allen Bundestagskandidaten, am Beispiel der Bundestagswahl 2013 (die Kandidatenstudie ist als ein Teil eingebettet in die German Longitudinal Election Study (GLES), die sich auf die drei Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 bezieht). Fast 90 Prozent der rund 1.000 Kandidaten, die teilgenommen haben, geben an, privates Geld eingesetzt zu haben. Mit Eigeninvestitionen von 48.000 Euro liegen zwei CSU-Kandidaten an der Spitze.
In einer anderen Studie hat Marion Reiser,von der Universität Lüneburg die Nominierungsverfahren von Bundestagskandidaten untersucht. Die parteiunabhängigen Kosten für den Wahlkampf beziffern die befragten Vertreter von CDU, CSU und SPD mit „mindestens 10.000 bis nicht selten 70.000 Euro“. Kosten, die offensichtlich die Bewerber bezahlen sollen, so die Studie.
Sollte es tatsächlich ein „Kauf dir dein Mandat“-Muster geben, dann würde das natürlich eine ganz erhebliche und letztendlich unüberwindbare Hürde sein für Menschen aus wirtschaftlich schlechten Verhältnissen, den Sprung in ein Parlament zu schaffen.
Auch in anderen Ländern wird über die soziale Spaltung bei den jeweiligen Wahlen berichtet, so beispielsweise Ruth Patrick in ihrem Artikel How poverty makes people less likely to vote über die Diskussion in Großbritannien, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen. »At the 2010 general election, there was a gaping 23 percentage points gap between the turnout of the richest and poorest income groups.«