Seit Monaten liegen die Nerven blank – bei einem Teil der Hebammen und zunehmend auch in der Politik, denn hier geht es nicht um exkludierte Langzeitarbeitslose im Hartz IV-Bezug, sondern um eine Berufsgruppe, die auf sehr viel Sympathie rechnen kann, deren Klagen über eine existenzbedrohende Infragestellung des Berufsstandes auf einen breiten emotionalisierten Resonanzboden stößt. Ein für die Politik gefährliches Gemisch, das entschärft werden muss. Koste es, was es wolle, dann aber am besten auf Kosten Dritter. Beispielsweise der Krankenkassen. Zugleich wird uns eine richtig harte Nuss vor die Füße geworfen, die zu knacken aufgrund der dem Sachverhalt innewohnenden Dilemmata als eine schier unlösbare Aufgabe daherkommt. Sollten wir uns dann nicht wenigstens freuen, dass der Bundesgesundheitsminister nun endlich Vorschläge zur Sicherstellung der Hebammenversorgung vorgelegt hat, die der Unsicherheit eines ganzen Berufsstandes und durch die Berichterstattung bedingt sicher auch vieler angehender Eltern ein Ende setzen wird? Wenn es denn nur so einfach wäre. Also schauen wir genauer hin.
Ausgangspunkt waren und sind die explodierenden Haftpflichtkosten für (einen Teil der) Hebammen, die freiberuflich Geburtshilfe anbieten. Die Prämien dafür haben sich allein zwischen 2002 und 2012 verzehnfacht – von 453 auf 4.242 Euro im Jahr. Zum Juli dieses Jahres sollen sie auf 5.091 Euro angehoben werden und für 2015 ist ein weiterer Anstieg um 20% angekündigt.
Hier nur einige wenige Erläuterungen, weil das in der öffentlichen Debatte immer wieder durcheinander gerät: Es geht erst einmal nicht um alle Hebammen, auch nicht um alle freiberuflich tätigen, sondern um die, die auch geburtshilfliche Tätigkeiten außerhalb der Klinik anbieten. Wenn wir von etwa 21.000 Hebammen insgesamt ausgehen, dann arbeiten zwischen 3.000 und 3.500 von ihnen freiberuflich – entweder als Beleghebammen in einer Klinik oder sie betreuen Hausgeburten bzw. außerklinische Geburten in „Geburtshäusern“, also Einrichtungen, die von Hebammen geleitet werden. Zur Größenordnung: Nach den Angaben des Qualitätsbericht für außerklinische Geburtshilfe (QUAG) entbinden knapp zwei Prozent der Schwangeren außerhalb der Klinik, 2011 waren das von mehr als 660.000 Geburten weniger als 11.000 Kinder, die außerhalb einer Klinik das Licht der Welt erblickt haben. Die Kenntnis dieser – allerdings erstaunlich ungenauen – Datenlage ist wichtig, um die spezifische Haftpflichtversicherungsproblematik der geburtshilflich tätigen Hebammen verstehen zu können, die Ausgangspunkt war und ist für die aktuelle Aufregung, denn die Versicherer stehen hier vor zwei zentralen Problemen: Zum einen haben sie es mit einer sehr kleinen Grundgesamtheit an zu versichernden Personen (was die Folgen von Schadensfällen im Zusammenhang mit Geburten außerhalb der Klinik angeht) zu tun, zum anderen sind – darüber wurde zwischenzeitlich an vielen Stellen berichtet – mit einem deutlichen Anstieg der rechtsprechungsbedingten Folgekosten eines einzelnen Schadensfalls konfrontiert, die sich massiv erhöht haben. Auch das ist wichtig: Die Zahl der Schadensfälle hat sich keineswegs erhöht, sie schwankt um die 100 Fälle pro Jahr. Weiterführende Informationen dazu und auch zu den Anbieterproblemen auf der Versicherungslosigkeit gibt es in meinem Blog-Beitrag Hebammen allein gelassen. Zwischen Versicherungslosigkeit ante portas und dem Lösungsansatz einer Sozialisierung nicht-mehr-normal-versicherbarer Risiken aus dem Februar 2014.
Nun aber scheint es Hoffnung zu geben, dass die Hebammen nicht mehr alleine gelassen werden.
»Es war eine schwere Geburt, doch in trockenen Tüchern ist die Sache noch lange nicht. Nach monatelangem Abwägen und unter starkem öffentlichen Druck hat Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) nun Vorschläge gemacht, wie den freiberuflichen Hebammen mit ihrem Problem ständig steigender Haftpflichtprämien geholfen werden kann«, so Rainer Woratschka in seinem Artikel Kassen sollen mehr für Hebammen zahlen. Die angesprochenen Lösungsvorschläge des Gesundheitsministers ruhen vor allem auf zwei Säulen: 1. soll ein Sicherstellungszuschlag bei der Hebammen-Vergütung für die Hebammen, die nur wenige Geburten betreuen, eingeführt werden und 2. wird eine generelle Stabilisierung der Versicherungsprämien in Aussicht gestellt. Diese beiden Vorschläge sind Ausfluss der Arbeit einer interministeriellen Arbeitsgruppe „Versorgung mit Hebammenhilfe“, die monatelang über das Thema gebrütet und nun ihren Abschlussbericht veröffentlicht hat.
Zu 1.) Die Krankenkassen sollen die Versicherungskosten künftig nicht nur über höhere Honorare ausgleichen, wozu sie sich bereits Ende vergangenen Jahres verpflichtet haben, sondern sie sollen Hebammen mit wenigen Geburten zusätzlich einen „Sicherstellungszuschlag“ bezahlen. Hier verbirgt sich ein Grunddilemma, mit dem man unausweichlich konfrontiert wird, wenn man eine fallbezogene Vergütung hat, denn von einer höheren Vergütung müssen logischerweise die mehr profitieren, die viele Fälle haben, während die mit wenigen Fällen trotz der Vergütungserhöhung immer noch unter der eigentlich anvisierten Kompensation der gestiegenen Haftpflichtversicherungskosten liegen werden. Angesprochen wird dieses „Problem“ von Andreas Mihm in seinem Artikel Rechnen Hebammen sich ärmer als sie sind? Er führt darin aus: »Bei den Hebammen schlägt sich der Ausgleich mit einem Zuschlag je abgerechneter Geburt nieder. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Wer wenig Geburten abrechnet, kommt womöglich nicht auf seine Versicherungskosten. Wer dagegen überdurchschnittlich viele macht, streicht einen Extragewinn ein, weil die Summe der je Fall gezahlten Zuschläge die höheren Kosten der Haftpflichtversicherung überschreiten. „Gerade bei den Beleghebammen dürfte ein erheblicher Teil davon profitieren“, sagt ein Kenner, der anonym bleiben will.« Wenn das so ist, dann führt die nun angekündigte Maßnahme des Bundesgesundheitsministers zu einer Art „halbierten Lösung“, denn je nach konkreter Ausgestaltung des Sicherstellungszuschlags kann es vielleicht gelingen, für eine gewisse Zeit die Hebammen mit nur wenigen außerklinischen Geburten vergütungsmäßig zu stabilisieren, aber an der Realisierung von „Extragewinnen“ bei den Hebammen mit vielen Geburten durch die Zuschläge seitens der Kassen nichts ändert – möglicherweise, weil die vorliegenden Daten eine solche Einschätzung für mich derzeit nicht zulassen und auch Mihm in seinem Artikel keine Beweisführung mit konkreten Zahlen präsentiert, was die von ihm in den Raum gestellten „Extragewinne“ angeht. An dem Grunddilemma eines Auseinanderfallens zwischen vielen und wenigen Fällen und der Problematik der immer schwieriger werdenden Absicherung der Hebammen mit wenigen außerklinischen Geburten ändert sich aber logischerweise in einem fallbezogenen Vergütungssystem nichts, weil die Versicherungsprämien nicht differenziert werden nach der Zahl der Fälle, sondern der Schadenswahrscheinlichkeit, der mit dem Schaden verbundenen Kosten und – das wird gerne vergessen – einem „Gewinnaufschlag“ seitens der Versicherungen.
Zu 2.) Dann bleibt die Hoffnung auf die von Minister Gröhe in Aussicht gestellte dauerhafte „Stabilisierung der Versicherungsprämien“. Hierzu erfahren wir vom Bundesgesundheitsministerium: »Um den weiteren Anstieg der Haftplichtprämien wirklungsvoll zu begrenzen, soll gemeinsam mit den beteiligten Ressorts und den Kranken- und Pflegeversicherungen ein Verzicht auf Regress im Kranken- und Pflegebereich geprüft werden« (Quelle: Bundesgesundheitsminister legt Vorschläge zur Sicherstellung der Hebammenversorgung vor). Um das zu verstehen, muss man wissen, dass die Krankenkassen die Folgekosten eines Schadensfalls, die in ihrem Beritt beispielsweise in Form von Behandlungskosten angefallen sind, bei der Haftpflichtversicherung auf dem Regressweg wieder eingefordert haben – nach Schätzungen geht es hier um 20 bis 30 Prozent der Schadenssumme. Das soll jetzt also begrenzt werden, in dem vereinfacht gesagt die Kassen auf ihren Kosten sitzen bleiben müssen, ökonomisch gesprochen also eine „Sozialisierung“ der eigentlichen Versicherungskosten auf die Gemeinschaft der Beitragszahler erfolgt. Dass die Sozialversicherung davon nicht angetan sind – während der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hingegen sehr positiv auf den Vorschlag reagiert – ist durchaus verständlich: „Es kann nicht sein, dass die Beitragszahler der Sozialversicherungen das Geschäft der privaten Versicherungswirtschaft machen sollen und statt der Haftpflichtversicherung die Folgekosten von Hebammenfehlern übernehmen“, so der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung in der Pressemitteilung Haftung für Hebammen nicht begrenzen. Die hier angesprochene Problematik taucht auch in dem bereits erwähnten Abschlussbericht der interministeriellen Arbeitsgruppe auf, aus dem Rainer Woratschka in seinem Artikel berichtet:
»Zum einen sei es „bedenklich“, die Regressmöglichkeiten „nur im Hinblick auf eine bestimmte Berufsgruppe“ beschränken zu wollen, heißt es. Zum andern sei die Abwälzung auf die Beitragszahler „auch nicht sachgerecht“, da die Kosten ja „nicht von der Sozialversicherung verursacht“ würden. Bei der Entlastung der Hebammen handle es sich „vielmehr um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, so das Sozialministerium. Im Klartext: Wenn schon, dann sollte sie aus Steuern finanziert werden.«
Gröhes Weg wäre eben nicht eine „Rettung durch die Allgemeinheit„, wie ein Artikel von Timot Szent-Ivanyi überschrieben ist, sondern eine (vorübergehende) Rettung durch die beschränkte Allgemeinheit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit ihren Beitragsmitteln zur Gesetzlichen Krankenversicherung. Wir sind – wieder einmal – konfrontiert mit der Problematik des Griffs der Politik zu versicherungsfremden Leistungen, weil das einfacher erscheint als der korrektere Weg einer Steuerfinanzierung. Hinzu kommt ein weiterer grundsätzlicher Einwand, der von Timot Szent-Ivanyi in seinem Kommentar „So geht’s nicht, Herr Gröhe“ angesprochen wird. Seiner Meinung nach gehört es zu den Grundprinzipien unseres Rechtsstaates, dass jeder Bürger für den von ihm angerichteten Schaden geradestehen muss. Das gilt im privaten wie im beruflichen Bereich. Dieses Prinzip soll nun für eine Berufsgruppe ausgehebelt werden: »Das ist ein gefährlicher und voraussichtlich auch verfassungswidriger Weg. Warum eine Freistellung von der Haftung nur für Hebammen? Warum nicht auch für Chirurgen oder Lokführer? Auch bei ihnen können Fehler verheerende Folgen haben.« Auch Nina von Hardenberg schließt sich dieser Bewertung in ihrem Kommentar „Gröhes falsche Logik“ in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 02.05.2014 an: »Schon heute zahlen die Krankenkassen die Therapie jedes kranken Kindes. Bei einem Behandlungsfehler holen sie sich das Geld aber von der Haftpflichtversicherung des Mediziners (oder der Hebamme) zurück. Wer dieses Prinzip aufhebt, bricht mit dem Grundsatz, dass der Verursacher eines Schadens für die Kosten aufkommen muss. Warum aber sollen gerade die Mitglieder der Krankenkasse für die Folgen eines Behandlungsfehlers haften? Und warum hilft der Minister nur den Hebammen, nicht aber Frauenärzten oder Chirurgen, die auch Fehler machen?«
Man kann es drehen und wenden wie man will – es ist eine überaus „klebrige“ Materie, mit der wir hier konfrontiert sind. Denn die Probleme sind damit noch gar nicht ausreichend beschrieben. Gesetzt den Fall, Minister Gröhe setzt sich mit seinem Ansatz durch. Dann wird es wenn überhaupt nur vorübergehend eine Druckentlastung geben, denn wer soll die Versicherungen – so sie denn weiter anbieten – daran hindern, weiter die Prämienanstiegsspirale zu bedienen? Man darf an dieser Stelle daran erinnern, dass bei privaten Versicherungen naturgemäß immer auch ein Gewinnaufschlag in die Prämie inkorporiert wird. Und weiter gedacht: Warum sollen die Haftpflichtversicherer dieses Spiel nicht auch in den benachbarten Feldern betreiben – bei den Gynäkologen beispielsweise? Und die haben sich zwischenzeitlich auch schon mit entsprechend kompensatorischen Wünschen an die Politik zu Wort gemeldet (vgl. hierzu beispielsweise die Artikel Nach Hebammen fordern nun Frauenärzte Unterstützung oder Eine Lösung mit Vorbildcharakter?)
Was also könnte man tun, was sollte man tun? Kann es überhaupt ein Entkommen geben aus diesen Dilemmata?
Ohne Anspruch auf eine abschließende Lösung sehe ich zwei grundsätzliche Strategieansätze, die eine mittel- und langfristig tragfähige Lösung ermöglichen könnten und die man diskutieren sollte:
- Wenn man aus der gegebenen Versicherungslogik heraus denkt, dann besteht ja ein fundamentales Problem bei der speziellen Gruppe der Hebammen darin, dass es sich um eine sehr kleine Gruppe handelt, also die Schadensfälle nicht auf ein großes Kollektiv verteilt werden können. Insofern wäre es durchaus denkbar – auch vor dem Hintergrund der jetzt bereits anschwellenden Gleichstellungsforderungen anderer einzelner Berufsgruppen -, dass man ein großes Versicherungskollektiv im Gesundheitswesen schafft, in dem die notwendige Versicherung über viele Mitglieder verteilt werden. Also eine Versicherung für alle Beschäftigten im Gesundheitswesen, fast fünf Millionen Menschen, so dass eine umfassende, zugleich auf die Gesundheitsberufe beschränkte große Kollektivhaftung installiert werden würde. Dann wäre eine andere Prämienkalkulation möglich. Sollte man diesen Weg einschlagen, dann müsste man sich aber auch mit dem Problem auseinandersetzen, dass private, auf Gewinn gerichtete Versicherungen hinsichtlich ihres Prämienkalkulationsverhaltens einer Regulierung unterworfen werden sollte.
- Man könnte den Weg gehen einer „(Teil-)Verstaatlichung“ der Versicherungsproblematik, also die Auflage eines steuerfinanzierten Fonds (in einer Minimalvariante könnte aus diesem Fonds dann eine Fehlfinanzierung für den Betrag geleistet werden, der eine einzuführende Haftungsobergrenze für die weiter fortbestehende privatwirtschaftliche Haftpflichtversicherung nach oben hin ergänzt). In einer weiteren Fassung dieses Modells mit der steuerfinanzierte Fonds ergänzt um einer Abwicklung der eigentlichen Versicherung in staatlicher Hand, vor allem zur Begrenzung der Verwaltungskosten, die ansonsten anfallen, einschließlich des Gewinnaufschlags privater Anbieter.
Beide Varianten haben Vor- und Nachteile. Offensichtlich sind die Ressorts derzeit nicht in der Lage, weitergehende Ansätze zu verfolgen, sie verheddern sich in den gegebenen Strukturen und möglicherweise wird auch seitens der Versicherungslobby erheblicher Druck ausgeübt bis hin zu den unvermeidlichen Klagedrohungen, um Bewegungen in Richtung auf eine echte Kollektivierung des Versicherungsproblems zu verhindern. Aber ohne Bewegung in Richtung auf eine „große Kollektivierung“ wird das Problem bestehen bleiben, dass die privaten Versicherungen ihre betriebswirtschaftlich durchaus nachvollziehbaren Konsequenzen aus einer Teilsozialisierung der bei ihnen ansonsten anfallenden Kosten ziehen werden: Sie werden an der Prämiensschraube drehen. Insofern müsste der Bundesgesundheitsminister, wenn er denn seine Vorschläge Realität werden lässt, zumindest parallel eine Prämienregulierung vornehmen, um diesen Effekt wenn nicht zu verhindern, so doch zu begrenzen. Und wenn die Versicherungen wie bislang passiert dann aus diesem begrenzten Markt aussteigen, dann stellt sich sowieso die Aufgabe, um die man derzeit einen Bogen zu machen versucht: eine staatliche Versicherungslösung.