Die Europäische Union ist ein riesiger Tanker mit vielen Kapitänen und anderen Möchtegern-Führungskräften auf zahlreichen Kommandobrücken, so dass es viel Zeit braucht, das Schiff in eine bestimmte Richtung zu bewegen, wenn es denn überhaupt klappt. Das haben wir bei der Art und Weise des Umgangs mit der „Euro-Krise“ gesehen und wir müssen das erneut zur Kenntnis nehmen bei der Frage, wie man mit den massiven sozialen Verwerfungen in den Krisenländern des Euro-Raumes umgehen soll. Dazu gehört natürlich auch die grassierende Jugendarbeitslosigkeit – wobei man diese Tage zuweilen den Eindruck vermittelt bekommt, die Krisenfolgen im Süden von Euro-Land bestehen ausschließlich aus arbeitslosen jungen Menschen. Diese Fokussierung der Berichterstattung und die Antwortversuche der europäischen Staatengemeinschaft in Form von Geld, das in Aussicht gestellt, zuweilen auch wirklich ausgeschüttet wird – medienwirksam inszeniert auf „Blitzlichtveranstaltungen“ wie dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs sowie deren Arbeitsminister in Berlin, also bei der Bundeskanzlerin zu Hause -, rufen naturgemäß auch Kritik und zuweilen heftige Ablehnung hervor. Da meldet sich dann Daniel Gros zu Wort, der Direktor des Centre for European Policy Studies (CEPS) mit Sitz in Brüssel und wird zitiert mit: „Jeder Euro für Junge fehlt den Älteren„. Er identifiziert Verteilungskonflikte, wenn er postuliert: »Ein Jugendlicher ohne Job ist flexibler und kann vielleicht länger in der Ausbildung bleiben. Für denjenigen, der eine Familie ernähren muss, ist Arbeitslosigkeit eine echte Katastrophe … Auch in der Politik gibt es einen Modezyklus. Niemand kann dagegen sein, Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, also müssen die Politiker so tun als könnten sie das Problem lösen … Jeder Euro, der jetzt für junge Menschen ausgegeben wird, steht für die älteren nicht mehr zur Verfügung.«
Zu den Abwehrreaktionen gehört auch eine Infragestellung der immer wieder zitierten dramatischen Werte über das Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten, wobei dann meistens zugkräftige Titel wie „verlorene Generation“ mit Arbeitslosenquoten von 50% der jungen Menschen hinterlegt werden. Eine solche Infragestellung findet man beispielsweise bei Sven Astheimer in der FAZ: »Mehr als 50 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote junger Männer und Frauen in Griechenland und Spanien. Jeder Zweite also, denkt man, aber das ist nicht ganz richtig«, schreibt er in seinem Beitrag „Was Arbeitslosenquoten aussagen„. Er weist darauf hin, dass die Aussage, jeder zweite Jugendliche in Spanien oder Griechenland sei arbeitslos, korrekterweise so formuliert werden muss: »Jeder zweite, der dem Arbeitsmarkt auch zur Verfügung steht, ist ohne Arbeit. Denn Arbeitslosenquoten beziehen sich immer auf die Grundgesamtheit all der Personen, die arbeiten wollen und auch können.« Bei Menschen unter 25 Jahren ist die Gruppe derjenigen, die dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen, naturgemäß besonders groß, weil sie noch sehr stark im Bildungssystem präsent sind, so Astheimer.
»Aus den jeweils mehr als 50 Prozent Arbeitslosenquote werden in dieser Betrachtung etwa im Falle Spaniens im Durchschnitt des Jahres 2012 rund 20 Prozent, für Griechenland bleiben 16 Prozent und für Kroatien 18 Prozent.«
Nun könnte man dem Autor den Vorwurf machen, dass er das gravierende Problem der Jugendarbeitslosigkeit mit solchen „Zahlenspielereien“ nur klein reden will, aber er vertritt eine differenzierte Position, die eine solche Wertung nicht angemessen erscheinen lässt: Auch bei Anwendung dieser reduzierten Grundgesamtheit für die Arbeitslosenquote der jungen Menschen zeigt sich in den Ländern Griechenland, Spanien und Kroatien eine Verdoppelung der Quote und in Irland sogar eine Verdreifachung gegenüber dem Stand vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Und Astheimer weist ebenfalls darauf hin: »… die miserablen Aussichten auf vielen Arbeitsmärkten (führen) zu Ausweichbewegungen der Jugendlichen, die eine Form von verdeckter Arbeitslosigkeit darstellen: Das heißt, viele junge Menschen bleiben aus der Not heraus länger an Schulen und Universitäten. Viele würden lieber arbeiten gehen, wenn es passende offene Stellen gäbe.«
Das Problem ist also – man kann es drehen und wenden wie man will – da und groß. Und das besondere Augenmerk auf die jungen Menschen kommt ja auch nicht von ungefähr, wenn man die Befunde aus der Arbeitsmarktforschung beachtet, die aufzeigen können, welche Verwerfungen in der weiteren Erwerbsbiografien der jungen Menschen angerichtet werden, wenn sie beim Eintritt in das Berufsleben mit längeren Phasen der Arbeitslosigkeit konfrontiert werden. Und das Problem wird noch fassbarer, wenn man die Ebene der allgemeinen Erörterungen und der Zahlen verlässt und sich mit den einzelnen Menschen befasst. Eine solche Perspektive versucht der Beitrag „Deprimiert, nutzlos, entwürdigt„, der in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde. Wie fühlt es sich an, wenn selbst eine hohe berufliche Qualifikation nichts ändert? Der britische „Guardian“ hat in Zusammenarbeit mit der SZ und anderen europäischen Zeitungen junge Frauen und Männer gefragt. »Etwa 150 junge Frauen und Männer schilderten ihre – oft desolate – Lage. Besonders viele Stimmen kamen aus Großbritannien (59), dem Krisenland Spanien (40) und Italien (14), aber auch aus Deutschland (10). Sie machen deutlich, was junge Arbeitslose bewegt.«
Neben den eindrucksvollen Beschreibungen der Betroffenen finden sich auch Hinweise auf strukturelle Problemdimensionen, denen sich die jungen Menschen ausgesetzt sehen und die ihre Arbeitssuche erschweren: Mangelnde Arbeitserfahrung („Ich habe nicht viel Arbeitserfahrung und keine Firma gibt mir die Möglichkeit zu lernen und diese Erfahrungen zu bekommen. Sogar für unbezahlte Jobs muss man ein bis zwei Jahre Arbeitserfahrung ausweisen“), prekäre Beschäftigung („Ich ‚arbeite‘ im Moment als Übersetzerin/Journalistin bei einer Zeitung in Griechenland, aber ich wurde sechs Monate lang nicht bezahlt, auch einen Arbeitsvertrag habe ich nicht“), hohe Qualifikation ist keine Jobgarantie mehr („Ich habe getan, was die Gesellschaft mir gesagt hat: (…) Ich habe studiert, ich war der Beste, aber jetzt? Nichts“) und auch für Deutschland besonders relevant die Entkoppelung von Wirtschaftslage und Arbeitsmarkt („Die Jobsuche ist in Deutschland besonders frustrierend, weil die Nachrichten immer hervorheben, wie hervorragend es der Wirtschaft geht, während zugleich keiner meiner Freunde (alle mit mindestens einem Universitätsabschluss) einen angemessen bezahlten Job oder überhaupt einen Job finden konnte“).
Aber Hilfe scheint doch unterwegs zu sein, folgt man den aktuellen Medienberichten über das Treffen der hochrangigen Regierungsvertreter in Berlin. Bereits vergangene Woche hatte die EU sechs Milliarden Euro für den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit zugesagt. Und scheinbar werden wir Zeugen einer wundersamen Geldvermehrung, denn nun können wir beispielsweise im Handelsblatt lesen: „24 Milliarden Euro gegen Jugendarbeitslosigkeit„. Von 6 auf 24 Milliarden Euro, das muss man erst einmal hinbekommen – hier werden offensichtlich die ganz großen Geschütze aufgefahren, so die Botschaft. Ganz offensichtlich stimmt die Aussage der Bundeskanzlerin heute bei dem Treffen der Staats- und Regierungschefs: Das Geld für Förderprogramme sei nicht das Problem, so Merkel.
»Auf EU-Ebene sollen nach Angaben aus dem Bundesarbeitsministerium ab sofort 18 Milliarden Euro abrufbar sein, die aus bisherigen Strukturfonds nicht abgeflossen sind. Bisher war von 16 Milliarden Euro die Rede, von denen laut der Minister-Erklärung bis zum Jahr 2015 780.000 junge Menschen und 55.000 Firmen profitieren sollten. Vom kommenden Jahr an sollen weitere sechs Milliarden Euro bereitstehen, auf die sich frühere EU-Gipfel im Rahmen der neuen Finanzplanung 2014 bis 2020 verständigt hatten. Das Geld soll Regionen zugute kommen, in denen die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 25 Prozent beträgt.«
Also im Klartext: Hier werden nicht 24 Milliarden Euro neues, zusätzliches Geld mobilisiert, sondern man nimmt das Geld, was bislang in Brüssel liegen geblieben ist. Kann man ja machen, ist aber was anderes, als wenn man neue und zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen würde.
Für den Eingeweihten nicht überraschend und eher als Drohung zu verstehen ist dann die folgende Formulierung: Die zu beglückenden Mitgliedsstaaten sollen »bis zum Jahresende einen Plan verabschieden«.
Aber natürlich gibt es wieder welche, die Wasser in den Wein schütten müssen, diesmal aber nicht die Gewerkschaften oder die anderen üblichen Kritikaster (die natürlich auch, wenn beispielsweise der DGB von einer „Mogelpackung“ spricht), sondern hier seien die Chefs der nationalen Arbeitsagenturen zitiert, die verlautbaren ließen: Arbeitsmarktpolitik könne „in Zeiten einer Wirtschaftskrise mit schwacher Arbeitskräftenachfrage nur einen kleinen Beitrag“ leisten.
Was bleibt dann? Die betroffenen jungen Menschen können doch in das aus arbeitsmarktlicher Sicht – folgt man der weit verbreiteten Berichterstattung – „gelobte Land“ kommen, also nach Deutschland, wo zahlreiche Arbeitgeber fieberhaft auf junge Menschen zu warten scheinen, um die nicht besetzbaren Ausbildungsplätze mit Leben zu füllen. Da passt es doch ganz gut, dass Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen in großem Stil junge Südeuropäer auf deutsche Lehrstellen lotsen will. Helfen soll der Azubi-Import gegen deutschen Fachkräftemangel wie auch Europas Jugendarbeitslosigkeit. Doch auch hier spuckt die Realität und vor allem der Alltag den hehren Absichten in die Suppe, wie Christian Füller in seinem Beitrag „Einsame Azubis im gelobten Land“ berichtet.
»… von der Leyen (hält) den Staubsauger bereit, um die besten und ehrgeizigsten Jugendlichen nach Deutschland zu holen. Zwei Problemzonen des deutschen Ausbildungsmarktes sollen versorgt werden: Hightech, also hochqualifizierte Ausbildungen – alles, was mit Mechatronik und Technik zu tun hat. Und Hightouch, nämlich niedrigbezahlte und harte Berufszweige, in denen Deutsche kaum mehr anfangen: Hotels und Gaststätten, Nahrungsmittelindustrie, Friseursalons.«
Wer aber nun glaubt, dass die jungen Menschen aus den europäischen Krisenstaaten in Scharen einfallen, um sich eine Ausbildung im „gelobten Land“ zu verschaffen, der hat sich derzeit jedenfalls gründlich getäuscht. Es tröpfelt, so müsste man es ausdrücken, wenn man einen noch messbaren Bereich angeben muss. Als Beispiel zitiert Füller die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit in Bonn: »2.100 Anträge verzeichnet die ZAV – dahinter dürften sich lediglich 400 bis 600 Bewerber verbergen. Denn es gibt zwölf Einzel-Fördertöpfe, vom Deutschkurs über Anreisepauschalen und Lebensunterhalt-Hilfen bis zur sozialpädagogischen Betreuung. Jeder Lehrlingswanderer muss also mehrere Anträge stellen.«
Die neuen „Mobilitätsberater“, die beiden Kammern angesiedelt worden sind, berichten aus der Praxis von zwei zentralen Hinderungsgründen, die nur auf den ersten Blick profan daherkommen: Heimweh und Einsamkeit. Die jungen Leute müssen, so die Praktiker, massiv betreut werden, was aber gerade an den Wochenenden nicht passiert. Andere berichten bei den wenigen, die hierher gekommen sind, um eine Berufsausbildung zu machen, von einem deutlichen Schwund in der Größenordnung von 30 bis 50 Prozent. Und dabei müsse man berücksichtigen: »Alle deutschsprechenden Bewerber sind bereits abgegrast«. Die „harten Fälle“ kommen jetzt erst.
Eine realistische Einschätzung zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss davon geleitet sein, dass es keine große Ausbildungseinwanderung nach Deutschland geben wird. Man darf die Sprachprobleme nicht unterschätzen und auch nicht die Unkenntnis über das Berufsausbildungssystem in Deutschland vor dem Hintergrund der überall präsenten Überbewertung eines Hochschulstudiums und der bewusst-unbewussten Abwertung einer betrieblichen Ausbildung.
Eine ganz reale Gefahr resultiert aber aus der Fokussierung auch und gerade der Berichterstattung auf die – eben nur scheinbare – „Lösung“, wir holen uns ganz viele und „fertige“ junge Menschen nach Deutschland, dann wird der drohende oder bereits vorhandene Fachkräftemangel schon beherrschbar werden. Denn durch die Hoffnungen, die dadurch bei vielen Unternehmen geweckt werden, wendet man den Blick schon wieder ab von den jungen Menschen, die früher nie und jetzt teilweise schon Berücksichtigung finden aufgrund der sich fundamental verändernden Angebots-Nachfrage-Relationen auf dem Ausbildungsstellenmarkt. Und es geht hier um keine kleine Gruppe unter den weniger werdenden Jugendlichen: „267.000 Jugendliche in der Warteschleife für einen Ausbildungsplatz„. Und die sind schon alle da, nicht selten aber nicht an dem Ort, wo man sie braucht, sondern eben woanders. Teilweise haben diese jungen Leute auch erhebliche Einschränkungen, z.B. im Verhaltensbereich, die eine Einstellung seitens der Unternehmen erschweren bzw. am Anfang verhindern. Trotz solcher Restriktionen muss man diesen jungen Menschen eine oder mehrere Chancen geben, eine Ausbildung realisieren zu können.
Beide Themenfelder, also die Anwerbung hochmotivierter junger Menschen aus den Krisenländern des Euro-Raumes wie auch Angebote für die zurückgebliebenen jungen Menschen, müssen zusammenhängend und gleichzeitig bearbeitet und praktiziert werden – man muss sich aber bewusst sein, dass der Wirkungsgrad in beiden Fällen bescheiden ausfallen wird. Was nichts daran ändert, dass jede einzelne Erfolgsgeschichte einen Wert an sich darstellt.