Sie nimmt weiter zu, die Wohnungslosigkeit. Und da geht es nicht nur um das Elend auf den Straßen, sondern um viel mehr Menschen

Die kalten Tage des Jahres haben begonnen und wir werden erneut mit den Bildern obdachloser Menschen auf den Straßen konfrontiert, wahrscheinlich auch mit Schreckensmeldungen über zu Tode gekommener, erfrorener Menschen. Und rund um die Feiertage wird sich dann wieder bei den einen oder anderen das Helfen-Wollen für die ganz am Rand unserer Gesellschaft befindlichen Bedürftigen in Form von sicher gut gemeinten Charity-Aktionen Bahn brechen und man versucht, in einem fast schon verzweifelten Akt des karitativen Aufbäumens wenigstens eine stundenweise Teilhabe an der festlichen Stimmung zu ermöglichen. 

Aber die für einen Moment dann an die Ränder des medialen Scheinwerferlichts gezogenen obdachlosen Menschen sind leider nur ein Teil, ein kleiner Teil einer weitaus größeren Wohnungslosigkeit, die zahlreiche Ausformungen kennt und die tagtäglich vor bzw. neben dem Versuch eines Über-Lebens auf den Straßen und in den Hauseingängen angesiedelt sind.

Wobei das mit „einen Blick werfen“ auf wohnungslose Menschen einfacher in den Raum gestellt als getan ist. Denn viele dieser Menschen bewegen sich oder verharren teilweise über Jahre eher in Unsichtbarkeit, in Zwischen-Welten. Ob es sich um einzelne Menschen (oder auch zunehmend um ganze Familien) handelt, die in kommunalen Notunterkünften irgendeinen Platz gefunden oder zugewiesen bekommen haben, bis hin zu den „Couchsurfern“ vor allem bei den Jüngeren, die in ihrem Bekanntenkreis nomadisieren, bis es nicht mehr geht. Und natürlich gibt es zahlreiche Zwischenräume, ob das nun ein Dach über dem Kopf in einem Frauenhaus ist bis hin zu jungen Erwachsenen, die bei ihren Familien bleiben oder zu ihnen zurückkehren müssen, weil sie kein Wohnraum bekommen, was man durchaus als eine Form der Teil-Wohnungslosigkeit verstehen kann.

Die hier in Umrissen erkennbare Vielgestaltigkeit dessen, was als Wohnungslosigkeit zu bezeichnen wäre und das eben nicht reduziert werden darf auf „Platte machen“ auf den Straßen unserer Städte als offensichtlich krasseste Form der Obdachlosigkeit, bedeutet aber eben auch, dass es kein geregeltes Verfahren geben kann, mit dessen Hilfe sich die Zahl der Menschen ermitteln lässt, die in diesen Zwischen- und Endräumen unserer Gesellschaft – und das auch noch entweder für eine überschaubare Zwischenepisode oder für viele Jahre – ihr Dasein fristen (müssen). 

Es ist schon rein methodisch und auch mit Blick auf die Durchführung extrem schwierig bis unmöglich, die Zahl der auf der Straße lebenden Menschen überhaupt zu einem Stichtag halbwegs valide zu erfassen. Und auch bei vielen anderen Lebenslagen-Kombinationen, in denen wohnungslose Menschen sich befinden können, wird eine statistische Erhebung nur schwer, nur in grober Annäherung möglich sein und die daraus gewonnenen Zahlen müssen vor diesem Hintergrund mit der Kneifzange angefasst werden.

Auf der anderen Seite gibt es ein begründetes Interesse daran, dass man die Zahl der von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen zumindest näherungsweise abschätzt, denn bekanntlich wird nicht nicht nur Politik mit Zahlen (und dann möglichst große Zahlen) gemacht, auch die mediale Aufmerksamkeit wird teilweise darüber hergestellt. Sozialpolitisch noch weitaus bedeutsamer ist die Tatsache, dass die Sozialplanung und die Gestaltung und (idealerweise) auch Ausstattung von Hilfe für die betroffenen Menschen natürlich eine Grundlage dafür braucht, über wie viele Menschen und in welcher Ausformung der Notlagen wir eigentlich sprechen.

Der gesetzlich fundierte Blick auf einen Teil der Wohnungslosigkeit

Mit dem Wohnungslosenberichterstattungsgesetz (WoBerichtsG) wurde 2020 nach langen Jahren der Diskussion und Forderung nach einer statistischen Abbildung die Einführung einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen sowie einer begleitenden Berichterstattung beschlossen. Man achte auf die Formulierung „Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen“, womit signalisiert werden soll, dass es dabei eben nicht um die Menschen geht (bzw. gehen kann), an die meistens gedacht wird, wenn von Obdachlosen die Rede ist, also die auf der Straße lebenden Menschen. Wobei die nicht vergessen oder endgültig ausgeklammert werden.

Die praktische Folge der Gesetzgebung von 2020: Das Statistische Bundesamt führt die Statistik jährlich zum Stichtag 31. Januar durch. Sie erfasst alle Personen in Deutschland, die wegen Wohnungslosigkeit untergebracht sind. Das zuständige Ministerium (bis Ende 2022: Bundesministerium für Arbeit und Soziales; ab 2023: Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen) veröffentlicht die begleitende Wohnungslosenberichterstattung alle zwei Jahre. Diese soll Informationen und Analysen über Formen von Wohnungslosigkeit bereitstellen, die über den Erhebungsbereich der Statistik hinausgehen (beispielsweise Straßenobdachlosigkeit).

➔ BMWSB (2024): Wohnungslosenbericht der Bundesregierung. Ausmaß und Struktur von Wohnungslosigkeit, Berlin: Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB), Dezember 2024

Wie muss man sich die Datenerhebung vorstellen?

➞ Die Statistik erfasst wohnungslose Personen, die in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 2024 beispielsweise in überlassenem Wohnraum, Sammelunterkünften oder Einrichtungen für Wohnungslose untergebracht waren.1 Obdachlose Personen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, sowie Formen von verdeckter Wohnungslosigkeit (zum Beispiel bei Bekannten oder Angehörigen untergekommene Personen) werden nicht in der Statistik berücksichtigt, sind aber Teil der begleitenden Wohnungslosenberichterstattung, die alle zwei Jahre vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen durchgeführt wird (vgl. dazu dann ausführlicher BMWSB 2024).

Aus dieser Beobachtung eines Teils der Wohnungslosigkeit resultieren dann im Ergebnis solche Zahlen: »Zum Stichtag 31. Januar 2025 waren in Deutschland nach den Meldungen von Kommunen und Einrichtungen rund 474.700 Personen wegen Wohnungslosigkeit untergebracht. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, hat sich damit die Zahl gegenüber dem Vorjahr um 8 % erhöht (2024: 439.500).« Und 2023 wurden 372.000, 2022 noch 178.100 gemeldet. (vgl. dazu die Mitteilung 474.700 untergebrachte wohnungslose Personen Ende Januar 2025 in Deutschland vom 8. Juli 2025).

Nun könnte der eine bei einem ersten Blick auf die reinen Zahlen einwerfen, dass wir es im Zeitablauf mit einem starken Anstieg der Zahlen zu tun haben, von 178.100 in 2022 auf 474.700 in 2025. Dazu muss man aber wissen: »Der Anstieg ist vermutlich auf Verbesserungen der Datenmeldungen im vierten Jahr seit der Einführung der Statistik zurückzuführen.«
Übrigens: Noch ein Jahr zuvor, im Juli 2024, war dieser Erklärungsversuch so formuliert worden: »Der Anstieg der Zahl der untergebrachten wohnungslosen Menschen ist jedoch vor allem auf Verbesserungen der Datenmeldungen im dritten Jahr seit der Einführung der Statistik zurückzuführen.« (Quelle: Ende Januar 2024 rund 439 500 untergebrachte wohnungslose Personen in Deutschland vom 15. Juli 2024).

Und was man einem etwas genaueren Blick auf die Zahlen auch entnehmen kann:

»Zum Stichtag 31. Januar 2025 wurden 137.800 geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in der Statistik erfasst … Insgesamt wurden 409.000 Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit gemeldet …, ihr Anteil an allen untergebrachten wohnungslosen Personen liegt wie im Vorjahr bei 86 % … Der Anteil von Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit liegt mit 65.700 Personen … weiterhin bei rund 14 %.

Auch das ist relevant: »41 % der gemeldeten Personen waren jünger als 25 Jahre … 56 % der untergebrachten wohnungslosen Personen waren Männer und rund 42 % Frauen.« Und zum Thema Familien können wir den Daten entnehmen: »Personen in Paarhaushalten mit Kindern bildeten mit 163 400 Personen (gut 34 %) die größte Gruppe.«

Man muss also die hier ausgewiesene Zahl von 474.700 Wohnungslosen als Untergrenze betrachten.

474.700 wohnungslose Menschen – oder doch eher mindestens 1.029.000?

Mit einer (anderen) Zahl der wohnungslosen Menschen meldet sich regelmäßig die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W)2 zu Wort. Das haben die erneut zum 17. November 2025 gemacht – mit dieser Überschrift: Mehr als eine Million wohnungslose Menschen in Deutschland. Das ist ja nun eine andere Größenordnung als das, was wir aus dem Statistischen Bundesamt serviert bekommen haben. Schauen wir also einmal genauer hin:

Mindestens 1.029.000 Menschen waren in Deutschland im Jahr 2024 wohnungslos. Das ergibt sich, so die BAG Wohnungslosenhilfe, aus ihren aktuellen Hochrechnungsergebnissen. Zugleich warnt die Organisation vor einem weiteren Anstieg.

Die aktuelle Hochrechnung zur Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland „umfasst die Jahre 2023 und 2024 sowie die Stichtagszahlen zum 30. Juni 2023 und 30. Juni 2024.“ Dort wird uns auch eine Schätzung der zahl der auf der Straße lebenden Menschen präsentiert:

»Im Verlauf des Jahres 2024 waren 1.029.000 Menschen in Deutschland wohnungslos (2023: 928.000). Rund 56.000 von ihnen lebten ganz ohne Unterkunft auf der Straße (2023: 54.000). Zum Stichtag 30. Juni 2024 waren 760.000 Menschen betroffen (2023: 681.000).«

Man beachte: Hier wird unterschieden zwischen „im Verlauf des Jahres“ und „zum Stichtag“. Die öffentliche Statistik nach dem Wohnungslosenberichterstattungsgesetz ist wie beschrieben eine reine Stichtagserhebung.

»Der generelle Trend einer besorgniserregenden Zunahme der Wohnungslosigkeit hält unvermindert an. Aus den Jahresgesamtzahlen ergibt sich ein Anstieg um 11 Prozent zwischen 2023 und 2024. Deutlich stärker ist der Zuwachs von 2022 auf 2023 mit 53 Prozent.«

➞ Aber auch hier muss man aufpassen, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht. Zu den starken Anstiegen notiert auch die BAG W: »Allerdings ist dieser teilweise bedingt durch eine verbesserte Erfassung wohnungsloser Geflüchteter in Nordrhein-Westfalen seit 2023.«

Man kann also die etwas mehr als eine Million wohnungsloser Menschen eher als Obergrenze verstehen, auf der Basis einer Hochrechnung.

»Die Hochrechnung unterscheidet zwischen dem öffentlichen und dem frei-verbandlichen Sektor. Demnach ist die Mehrheit der wohnungslosen Menschen im öffentlichen Sektor … Circa 840.000 Personen sind ordnungsrechtlich durch Städte und Kommunen untergebracht. Ihre Zahl stieg von 2022 auf 2023 um 68 Prozent und von 2023 auf 2024 um weitere 12 Prozent. Gründe dafür sind unter anderem die anhaltende Zuwanderung nach Deutschland sowie der angespannte Wohnungsmarkt, der den steigenden Bedarf an bezahlbarem Wohnraum nicht auffangen kann.«

Und die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird erwähnt:

»Rund 264.000 Kinder und Jugendliche unter 18 (26 Prozent) waren wohnungslos … Sie lebten mehrheitlich zusammen mit ihren Eltern und waren institutionell untergebracht.«

Und auch auf die Staatsangehörigkeit wird eingegangen:

»820.000 (80 Prozent) der wohnungslosen Menschen besaßen 2024 keine deutsche Staatsbürgerschaft, darunter waren 55.000 Personen mit einer EU-Staatsbürgerschaft und 765.000 Personen mit einer anderen Staatsbürgerschaft (oder staatenlos) … Der Anteil der wohnungslosen Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit beträgt 209.000 Personen (20 Prozent).«

Zu den Unterschieden bei der Zahl der Wohnungslosen: Die Hochrechnung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe orientiert sich an der Wohnungsnotfalldefinition der BAG W. Demnach gilt als wohnungslos, wer über keine eigene mietrechtlich abgesicherte Wohnung oder Wohneigentum verfügt. Dies umfasst verschiedene Gruppen. Personen, die ohne jegliche Unterkunft auf der Straße leben (ugs. Obdachlose), machen nur einen Teil dieser Gruppe aus. Die Zahlen basieren auf der jährlich erscheinenden Wohnungsnotfallberichterstattung NRW, die neben institutionell untergebrachten Personen auch wohnungslose Menschen erfasst, die in Fachberatungsstellen Hilfe gesucht haben. Diese Daten werden über errechnete Wohnungslosenquoten auf Ebene der Landkreise, Städte und Kommunen und unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen auf das Bundesgebiet hochgerechnet. Ergänzende Daten stammen u. a. aus dem Dokumentationssystem zur Wohnungslosigkeit (DzW) und den Statistikberichten der BAG W.

Und zum Vergleich mit der Bundesstatistik: »Seit 2022 erhebt das Statistische Bundesamt jährlich zum Stichtag 31. Januar die Zahl der institutionell untergebrachten wohnungslosen Personen. Ergänzt wird dies alle zwei Jahre um eine wissenschaftliche Begleitstudie, welche die wohnungslosen Menschen ganz ohne Unterkunft und verdeckt wohnungslose Menschen, die bei Familienmitgliedern, Freund*innen und Bekannten unterkommen, ermittelt. Das Hochrechnungsergebnis der BAG W für 2024 liegt deutlich (ca. +500.000) über der Gesamtzahl der amtlichen Statistik. Dies liegt u. a. daran, dass die Hochrechnung (auch) eine Jahresgesamtzahl ermittelt, die alle Personen, die im Verlauf eines Jahres wohnungslos sind, umfasst. Sie ist folglich höher als die Zahl der Betroffenen an einem Tag oder in einer Woche und bildet das tatsächliche Ausmaß besser ab. Des Weiteren sind bei der amtlichen Wohnungslosenberichterstattung Gruppen, die gemäß Wohnungsnotfalldefinition ebenfalls als wohnungslos gelten, nicht berücksichtigt. Das betrifft z. B. wohnungslose Personen in Haft, in Gewaltschutzeinrichtungen, im Gesundheitssystem oder in nicht-abgesicherten Betriebswohnungen sowie Selbstzahler*innen in Billigpensionen und Monteurswohnungen. Auch Menschen, die ohne Mietvertrag auf Campingplätzen oder in Gartenanlagen leben, fehlen. Der Hauptgrund für die höheren Zahlen der BAG W findet sich aber in der Untererfassung der institutionell untergebrachten Personen. So werden v. a. anerkannte Geflüchtete ohne Wohnung nicht oder nicht vollumfänglich von allen Kommunen übermittelt.«

Was weiß man über Gründe und Auslöser von Wohnungslosigkeit?

»Der Mangel an bezahlbarem und bedarfsgerechtem Wohnraum sowie Armut sind die zentralen Gründe für Wohnungslosigkeit in Deutschland. Der vorhandene Wohnungsbestand kann die stetig steigende Nachfrage nicht decken. Besonders problematisch ist der Rückgang der Sozialwohnungen, der durch jährlich auslaufende Bindungen und einen unzureichenden Neubau weiter anhält … Diese Wohnungen im geförderten Segment sind jedoch unabdingbar für die Versorgung von Haushalten mit niedrigem Einkommen … Zu den häufigsten Auslösern von Wohnungslosigkeit in Deutschland zählen laut Daten der BAG W Miet- und Energieschulden, Konflikte im Wohnumfeld, Trennung oder Scheidung und Ortswechsel. Wohnungslose Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft hatten mehrheitlich in Deutschland noch nie eine Wohnung.«

Die BAG W warnt vor einem weiteren Anstieg der Wohnungslosenzahlen – und die Hilfeangebote stehen zugleich unter Kürzungsdruck:

Die »Wohnungsnotfallhilfe steht unter Druck: Laut einer aktuellen Umfrage der BAG W sind 17 Prozent aller Einrichtungen und Dienste bereits von finanziellen Kürzungen bedroht oder betroffen. Unter diesen befinden sich nicht nur verschiedene Angebote der Notversorgung, sondern auch präventive Hilfen, deren Kernaufgabe es ist, Wohnungsverluste zu verhindern.«

➞ Dazu ein Beispiel: »Elfriede Brüning, Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot Berlin, warnt: „Schon jetzt fehlen uns zwei Beratungskräfte, sodass in der Sprechzeit nicht alle Anfragen bedient werden können. Vermittlungen in andere Einrichtungen sind kaum möglich. Auch sie arbeiten längst am Rande der Kapazitäten. Teilweise wird sogar eher noch zu uns vermittelt, beispielsweise aus der gekürzten Jugendhilfe oder aus Behörden mit zu wenig Personal.“«

Von Ursachen, Auslösern und Verstärkern – aber auch Lösungsansätze ganz unten

Fazit zu den Ursachen der Wohnungslosigkeit: „Die Ursachen sind bekannt: zu wenig bezahlbarer Wohnraum, Armut und drohende Kürzungen im sozialen Sicherungssystem“, wird Susanne Hahmann, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft, in dem Beitrag „Besorgniserregende Zunahme der Wohnungslosigkeit“ von Juri Sonnenholzner zitiert. Besonders problematisch sei der Rückgang an Sozialwohnungen. Zu den häufigsten Auslösern von Wohnungslosigkeit in Deutschland zählen laut BAGW Miet- und Energieschulden, Konflikte im Wohnumfeld, Trennung oder Scheidung. „Bei Wohnungslosigkeit liegt auch immer ein sehr, sehr hoher Anteil von psychiatrischer Erkrankung vor. Insbesondere männliche Patienten, die nie heiraten, die vielleicht eine Schizophrenie haben, durch ihre Art nie so richtig eine Anbindung finden und durchs gesellschaftliche Raster rutschen, leben oft in der Obdachlosigkeit“, so die Psychiaterin Sezer Lammers.

➞ Sezer Lammers ist Chefärztin der psychiatrischen Fachklinik im rheinland-pfälzischen Wissen. Sie illustriert am Beispiel eines Obdachlosen, wie obdachlose Patienten zu „Systemsprengern“ werden können: Die Gemeinde stellt eine Unterkunft. Aufgrund seiner psychischen Erkrankung überfordert ihn das Führen des Haushalts. Halluzinationen, Wahn, Realitätsverlust. „Dann fühlt er sich durch Ordnungsamtsbeamte oder andere, die ihn ansprechen, bedrängt, wird selbst- und fremdgefährdend. In diesem Fall war es so: Weil ihm kalt war, machte er im Zimmer ein kleines Feuer.“ Es folge Verlust der Wohnung, dann die Einweisung in die Psychiatrie, schildert Lammers: „Aber wir sind ein Akutkrankenhaus. Wir können hier die Menschen nicht ‚aufbewahren‘. An dem Punkt, an dem wir eine akute Gefährdung ausschließen, geht der Patient zurück in eine Notunterkunft. Und dann geht’s wieder von vorne los.“

Es bliebt nicht bei der Problemdiagnose: »Um diesen „Teufelskreis im System“ zu durchbrechen, initiierte Lammers das Projekt „Systemsprenger“: Bei der Entlassung wird für jeden kritischen Patienten ein „Runder Tisch“ einberufen. Lammers als Chefärztin, eine Psychiatriekoordinatorin, die Wohnungslosenhilfe und das Ordnungsamt stimmen einen Betreuungsplan ab – alles auf einem kurzen Dienstweg. Das Projekt erhielt kürzlich den Sozialpreis der katholischen Krankenhäuser. Zehn Patienten im Jahr profitieren von dem Projekt. Es müssen mehr werden.«

➞ Und ein zweites Beispiel von ganz unten: Das Lebensmodell von Tobias, 56, endete abrupt am 2. Januar. „Ich hatte einen Schwächeeinbruch“, erzählt er. „Krankenwagen. Uniklinik. Ich hatte ja noch die offene Wunde an der Hüfte.“ Seit der Entlassung aus dem Krankenhaus lebt er in einem der drei sogenannten Genesungszimmer des Mainzer Vereins „Armut und Gesundheit“. Hier können Menschen ohne Wohnung und Krankenversicherung betreut und in Ruhe gesund werden, wenn es Fallpauschalen und Krankenhauskosten nicht mehr zulassen. „Wenn es diese Zimmer nicht geben würde“, erklärt Marius Schäfer und macht eine kurze Pause, „dann würden diese Menschen früher sterben.“ Schäfer ist Teamleiter der Mainzer „Genesungszimmer“ und sieht, wie steigende Lebenshaltungskosten einerseits und schwindende Leistungen im Sozial- und Gesundheitssystem andererseits zuerst wohnungslosen Menschen zusetzten: „Armut macht krank. Und Krankheit macht arm.“

Zur Diskussion, was hinter den Zahlen und ihrem Anstieg steht: Das Beispiel mit der „importierten Armut“

»Ob sichtbar oder nicht – die Not wird größer, auch das zeigen die neuen Daten. Seit 2021 hat sich die Zahl der Wohnungslosen fast verdreifacht«, so Timo Reuter in seinem Beitrag Wohnungslosigkeit in Deutschland steigt auf Rekordniveau. Und er stellt wie andere auch die Frage: Wie ist das zu erklären? 

»Dazu tauchen in öffentlichen Debatten vor allem zwei Erzählungen auf. Die erste hat in den letzten Jahren wieder Hochkonjunktur – und wer sich die Schätzung der BAGW anschaut, mag dieser Erzählung auf den ersten Blick Glauben schenken: Seit 2021 hat sich die Zahl nichtdeutscher Wohnungsloser nämlich mehr als vervierfacht – auf über 800.000 Betroffene. Ist Zuwanderung also womöglich verantwortlich für die Wohnungsnot?«

Dazu befragt der Autor die BAG Wohnungslosenhilfe: »Zunächst einmal bewegt sich die Zahl der Wohnungslosen auch ohne Menschen aus dem Ausland „auf einem viel zu hohem Niveau“, wie Sabine Bösing, Geschäftsführerin der BAGW, sagt. Über 200 000 Wohnungslose mit deutschem Pass gibt es – in einem der reichsten Länder der Welt. „Wohnungslosigkeit existiert nicht erst seit zehn Jahren. Die BAGW gibt es seit 1954, weil es schon immer Menschen gibt, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden und am Rande stehen.“«

Hinzu kommt: Ein differenzierter Blick auf die Zahlen zeigt: »So sind die meisten nichtdeutschen Wohnungslosen hierher geflüchtet, oft aus der Ukraine. Vor allem anerkannt Geflüchtete tauchen bisher aber eher selten in Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe auf, weil viele in den eigens geschaffenen Gemeinschaftsunterkünften bleiben. Menschen aus der Ukraine konnten zudem häufig privat unterkommen – für sie wurde zu Recht ohne Verzögerung Wohnraum akquiriert. „Für Geflüchtete aus anderen Ländern oder generell für Wohnungslose ist das leider kaum der Fall“, sagt Joachim Krauß, Migrationsexperte der BAG W. Das erzeugt natürlich Unmut.«

Auch interessant: »Die Situation erinnert an die 1990er, als die Zahl Wohnungsloser schon mal bei fast einer Million lag, mehr als ein Drittel davon waren „Spätaussiedler“ aus dem ehemaligen Ostblock. Auch sie erhielten schnellen Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt – weil der politische Willen zur Integration da war. Außerdem gab es schlicht mehr bezahlbaren Wohnraum.«

Und wie geht die andere Erzählung?

»Hier kommt die andere Erzählung ins Spiel, wonach Betroffene entweder freiwillig auf der Straße leben oder selbst Schuld tragen an ihrem Schicksal – schließlich wird doch jedem geholfen, oder?«

Auch hier wieder der Antwortversuch der BAG W: »Mit der Realität haben die Vorurteile jedoch wenig zu tun – es mag Personen geben, die sich für dieses Leben entscheiden. Aber das sind Einzelfälle. „Obdachlosigkeit hat nichts mit Freiwilligkeit oder Freiheitsdrang zu tun“, sagt Sabine Bösing von der BAG W. Natürlich können Sucht, Trennung oder falsche Entscheidungen im Leben den Absturz beschleunigen. Doch wer schläft schon freiwillig bei Minusgraden draußen?«

Es wird dann dafür plädiert, nicht nur auf der individuellen Ebene stehen zu bleiben:

Wer »die Not als importiertes Problem darstellt, lenkt von hausgemachten Fehlern ab. Laut BAG W ist der fehlende bezahlbare Wohnraum jedenfalls „der Hauptgrund“ für die Wohnungsnot. „Außerdem tragen steigende Mieten sowie die hohe Inflation und die größer werdende Armut dazu bei.“ So gab es 1987 alleine in Westdeutschland fast vier Millionen Sozialwohnungen – heute sind es in der gesamten Republik gerade mal gut eine Million. Auch die Armutsgefährdungsquote ist zuletzt deutlich angestiegen: von 14,4 Prozent im Jahr 2023 auf 15,5 Prozent im vergangenen Jahr.«

Und schon sind wir wieder mitten auf den ganz großen sozialpolitischen Baustellen.

Fußnoten

  1. Ganz genau lautet die Beschreibung seitens des Statistischen Bundesamtes:
    »Zu den erfassten Personen zählen Wohnungslose, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften oder gegebenenfalls auch gewerblichen Unterkünften (Pensionen, Hotels, gewerbliche Gemeinschaftsunterkünfte etc.) und Normalwohnraum (in der Regel Privatwohnungen) untergebracht sind, sofern er ihnen vorübergehend überlassen wird, ohne dass dadurch die Wohnungslosigkeit beendet wird. Dies betrifft auch Personen, die in (teil-)stationären Einrichtungen beziehungsweise im betreuten Wohnen der Wohnungslosenhilfe freier Träger untergebracht sind.
    Geflüchtete werden in der Statistik berücksichtigt, wenn ihr Asylverfahren positiv abgeschlossen wurde (z. B. Asylberechtigung, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz) und sie weiterhin untergebracht werden, etwa weil sie keinen Mietvertrag haben.
    Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis über das Chancen-Aufenthaltsrecht erhalten haben, und Geflüchtete aus der Ukraine, die im Schnellverfahren anhand einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach Aufenthaltsgesetz (AufenthG) oder einer Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG aufgenommen wurden, sind ebenfalls in der Statistik zu berücksichtigen, wenn sie untergebracht sind und nicht über einen Mietvertrag oder Ähnliches verfügen. Personen aus der Ukraine, die bei Privatpersonen unterkommen, werden nicht in der Statistik berücksichtigt, da den beteiligten Stellen hierüber in der Regel keine Nachweise vorliegen.«
    Und zu denen, die nicht erfasst werden, erfahren wir:
    »Generell nicht in die Erhebung einbezogen sind Personen, die im Freundeskreis, bei Familien oder Bekannten unterkommen, sowie Obdachlose, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben. Personen, die zwar in einer Einrichtung untergebracht sind, deren Ziel aber nicht die Abwendung von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit ist (beispielsweise Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen, von Heimen für Menschen mit Behinderung, von Frauenhäusern, Suchtkliniken oder betreuten Wohnungen der Jugendhilfe), sind ebenfalls nicht in der Statistik erfasst. Darüber hinaus werden auch solche Personen nicht einbezogen, die Beratungsangebote zum Thema Wohnungslosigkeit in Anspruch nehmen, aber am Stichtag nicht untergebracht sind, und Personen, die beispielsweise aufgrund einer angedrohten Zwangsräumung von Wohnungslosigkeit bedroht, aber (noch) nicht betroffen sind.«
    ↩︎
  2. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) ist die bundesweite Arbeitsgemeinschaft der verantwortlichen und zuständigen Sozialorganisationen im privaten und öffentlichen Bereich sowie der privaten und öffentlich-rechtlichen Träger von sozialen Diensten und Einrichtungen für Personen mit Erfahrung von Wohnungsnot. ↩︎